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Johann Wolfgang Goethe (1749-1832)


Die Leiden des jungen Werthers


Leipzig, in der Weygandſchen Buchhandlung, 1774



Prepared by


John Simms


nach

eine Faksimile-Wiedergabe des Erstdruckes von 1774
erfolgt nach dem Exemplar der
Bayerischen Staatsbibliothek, München,
usw.



© 2012 John Simms

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                 D i e   L e i d e n

                         des

           j u n g e n   W e r t h e r s.

                  -----------------

                    Erſter Theil.


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                    L e i p z i g,
          in der Weygandſchen Buchhandlung.
                       1 7 7 4.

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|||||||||||||||||| Was ich von der Geſchichte des ar=

||||||||||||||||||      men Werthers nur habe auffin=

||||||||||||||||||     den können, habe ich mit Fleiß

geſammlet, und leg es euch hier vor, und weis,

daß ihr mir's danken werdet.  Ihr könnt ſei=

nem Geiſt und ſeinem Charakter eure Bewun=

derung und Liebe, und ſeinem Schickſaale eure

Thränen nicht verſagen.

                         A 2                      Und

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   Und du gute Seele, die du eben den

Drang fühlſt wie er, ſchöpfe Troſt aus ſei=

nem Leiden, und laß das Büchlein deinen

Freund ſeyn, wenn du aus Geſchick oder eig=

ner Schuld keinen nähern finden kannſt.




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                                                  Wie

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                          *

                                  am 4. May. 1771.


|||||||||||||||||  Wie froh bin ich, daß ich weg bin!
||||||||||||||||| Beſter Freund, was iſt das Herz des
|||||||||||||||||   Menſchen!  Dich zu verlaſſen, den
ich ſo liebe, von dem ich unzertrennlich war, und
froh zu ſeyn!  Ich weis, Du verzeihſt mir's.
Waren nicht meine übrigen Verbindungen recht
ausgeſucht vom Schickſaal, um ein Herz wie das
meine zu ängſtigen?  Die arme Leonore!  Und doch
war ich unſchuldig!  Konnt ich dafür, daß, wäh=
rend die eigenſinnigen Reize ihrer Schweſter mir
einen angenehmen Unterhalt verſchafften, daß eine
Leidenſchaft in dem armen Herzen ſich bildete!  Und
doch - bin ich ganz unſchuldig?  Hab ich nicht
                         A 3                     ihre

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6                   /////////////

ihre Empfindungen genährt?  Hab ich mich nicht
an denen ganz wahren Ausdrücken der Natur, die
uns ſo oft zu lachen machten, ſo wenig lächerlich ſie
waren, ſelbſt ergözt!  Hab ich nicht - O was
iſt der Menſch, daß er über ſich klagen darf! -
Ich will, lieber Freund, ich verſpreche Dir's, ich
will mich beſſern, will nicht mehr das Bisgen Ue=
bel, das das Schickſaal uns vorlegt, wiederkäuen,
wie ich's immer gethan habe.  Ich will das Ge=
genwärtige genießen, und das Vergangene ſoll mir
vergangen ſeyn.  Gewiß Du haſt recht, Beſter:
der Schmerzen wären minder unter den Menſchen,
wenn ſie nicht - Gott weis warum ſie ſo gemacht
ſind - mit ſo viel Emſigkeit der Einbildungskraft
ſich beſchäftigten, die Erinnerungen des vergangenen
Uebels zurückzurufen, ehe denn eine gleichgültige
Gegenwart zu tragen.
    Du biſt ſo gut, meiner Mutter zu ſagen, daß
ich ihr Geſchäfte beſtens betreiben, und ihr ehſtens
Nachricht davon geben werde.  Ich habe meine
Tante geſprochen, und habe bey weiten das böſe
Weib nicht gefunden, das man bey uns aus ihr
macht, ſie iſt eine muntere heftige Frau von dem
                                               beſten

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                    /////////////                   7

beſten Herzen.  Ich erklärte ihr meiner Mutter
Beſchwerden über den zurückgehaltenen Erbſchafts=
antheil.  Sie ſagte mir ihre Gründe, Urſachen
und die Bedingungen, unter welchen ſie bereit wäre
alles heraus zu geben, und mehr als wir verlang=
ten - Kurz, ich mag jezo nichts davon ſchreiben,
ſag meiner Mutter, es werde alles gut gehen.
Und ich habe, mein Lieber! wieder bey dieſem klei=
nen Geſchäfte gefunden: daß Mißverſtändniſſe und
Trägheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt ma=
chen, als Liſt und Boſheit nicht thun.  Wenig=
ſtens ſind die beyden leztern gewiß ſeltner.
   Uebrigens find ich mich hier gar wohl.  Die
Einſamkeit iſt meinem Herzen köſtlicher Balſam in
dieſer paradiſiſchen Gegend, und dieſe Jahrszeit
der Jugend wärmt mit aller Fülle mein oft ſchau=
derndes Herz.   Jeder Baum, jede Hecke iſt ein
Straus von Blüten, und man möchte zur Mayen=
käfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen
herumſchweben, und alle ſeine Nahrung darinne
finden zu können.
   Die Stadt iſt ſelbſt unangenehm, dagegen rings
umher eine unausſprechliche Schönheit der Natur.
                         A 4                        Das

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8                   /////////////

Das bewog den verſtorbenen Grafen von M .
einen Garten auf einem der Hügel anzulegen, die
mit der ſchönſten Mannigfaltigkeit der Natur ſich
kreuzen, und die lieblichſten Thäler bilden.  Der
Garten iſt einfach, und man fühlt gleich bey dem
Eintritte, daß nicht ein wiſſenſchaftlicher Gärtner,
ſondern ein fühlendes Herz den Plan bezeichnet,
das ſein ſelbſt hier genießen wollte.  Schon man=
che Thräne hab ich dem Abgeſchiedenen in dem ver=
fallnen Cabinetgen geweint, das ſein Lieblingspläz=
gen war, und auch mein's iſt.  Bald werd ich
Herr vom Garten ſeyn, der Gärtner iſt mir zu=
gethan, nur ſeit den paar Tagen, und er wird ſich
nicht übel davon befinden.

                           *

                                           am 10. May.

Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze
Seele eingenommen, gleich denen ſüßen Früh=
lingſmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieſſe.  Ich
bin ſo allein und freue mich ſo meines Lebens, in
dieſer Gegend, die für ſolche Seelen geſchaffen iſt,
wie die meine.  Ich bin ſo glücklich, mein Beſter,
                                                      ſo

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ſo ganz in dem Gefühl von ruhigem Daſeyn verſunken, daß meine
Kunſt darunter leidet.  Ich könnte jetzo nicht zeichnen, nicht einen
Strich, und bin niemalen ein gröſſerer Mahler geweſen als in dieſen
Augenblicken.  Wenn das liebe Thal um mich dampft, und die hohe Sonne an
der Oberfläche der undurchdringlichen Finſterniß meines Waldes ruht, und
nur einzelne Strahlen ſich in das innere Heiligthum ſtehlen, und ich
dann im hohen Graſe am fallenden Bache liege, und näher an der Erde
tauſend mannigfaltige Gräſgen mir merkwürdig werden.  Wenn ich das
Wimmeln der kleinen Welt zwiſchen Halmen, die unzähligen,
unergründlichen Geſtalten, all der Würmgen, der Mückgen, näher an meinem
Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns all nach
ſeinem Bilde ſchuf, das Wehen des Allliebenden, der uns in ewiger Wonne
ſchwebend trägt und erhält.  Mein Freund, wenn's denn um meine Augen
dämmert, und die Welt um mich her und Himmel ganz in meiner Seele ruht,
wie die Geſtalt einer Geliebten; dann ſehn ich mich oft und denke: ach
könnteſt du das wieder auſdrücken, könnteſt du dem Papier das
einhauchen, was ſo voll, ſo warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel
deiner Seele, wie deine Seele iſt der Spiegel des unendlichen Gottes.
Mein Freund - Aber ich gehe darüber zu Grunde, ich erliege unter der
Gewalt der Herrlichkeit dieſer Erſcheinungen.

am 12. May.

Ich weis nicht, ob ſo täuſchende Geiſter um dieſe Gegend ſchweben, oder
ob die warme himmliſche Phantaſie in meinem Herzen iſt, die mir alles
rings umher ſo paradiſiſch macht.  Da iſt gleich vor dem Orte ein Brunn'
ein Brunn', an den ich gebannt bin wie Meluſine mit ihren Schweſtern.
Du gehſt einen kleinen Hügel hinunter, und findeſt dich vor einem
Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinab gehen, wo unten das klarſte Waſſer
aus Marmorfelſen quillt.  Das Mäuergen, das oben umher die Einfaſſung
macht, die hohen Bäume, die den Platz rings umher bedecken, die Kühle
des Orts, das hat alles ſo was anzügliches, was ſchauerliches.  Es
vergeht kein Tag, daß ich nicht eine Stunde da ſizze.  Da kommen denn
die Mädgen aus der Stadt und holen Waſſer, das harmloſeſte Geſchäft und
das nöthigſte, das ehmals die Töchter der Könige ſelbſt verrichteten.
Wenn ich da ſizze, ſo lebt die patriarchaliſche Idee ſo lebhaft um mich,
wie ſie alle die Altväter am Brunnen Bekanntſchaft machen und freyen,
und wie um die Brunnen und Quellen wohlthätige Geiſter ſchweben.  O der
muß nie nach einer ſchweren Sommertagſwanderung ſich an des Brunnens
Kühle gelabt haben, der das nicht mit empfinden kann.

am 13. May.

Du fragſt, ob Du mir meine Bücher ſchikken ſollſt?  Lieber, ich bitte
dich um Gottes willen, laß mir ſie vom Hals.  Ich will nicht mehr
geleitet, ermuntert, angefeuret ſeyn, brauſt dieſes Herz doch genug aus
ſich ſelbſt, ich brauche Wiegengeſang, und den hab ich in ſeiner Fülle
gefunden in meinem Homer.  Wie oft lull ich mein empörendes Blut zur
Ruhe, denn ſo ungleich, ſo unſtet haſt Du nichts geſehn als dieſes Herz.
Lieber!  Brauch ich Dir das zu ſagen, der Du ſo oft die Laſt getragen
haſt, mich vom Kummer zur Auſſchweifung, und von ſüſſer Melancholie zur
verderblichen Leidenſchaft übergehn zu ſehn.  Auch halt ich mein Herzgen
wie ein krankes Kind, all ſein Wille wird ihm geſtattet.  Sag das nicht
weiter, es giebt Leute, die mir's verübeln würden.

am 15. May.

Die geringen Leute des Orts kennen mich ſchon, und lieben mich,
beſonders die Kinder.  Eine traurige Bemerkung hab ich gemacht.  Wie ich
im Anfange mich zu ihnen geſellte, ſie freundſchaftlich fragte über dieß
und das, glaubten einige, ich wollte ihrer ſpotten, und fertigten mich
wol gar grob ab.  Ich ließ mich das nicht verdrießen, nur fühlt ich, was
ich ſchon oft bemerkt habe, auf das lebhafteſte.  Leute von einigem
Stande werden ſich immer in kalter Entfernung vom gemeinen Volke halten,
als glaubten ſie durch Annäherung zu verlieren, und dann giebts
Flüchtlinge und üble Spaſvögel, die ſich herabzulaſſen ſcheinen, um
ihren Uebermuth dem armen Volke deſto empfindlicher zu machen.

Ich weiß wohl, daß wir nicht gleich ſind, noch ſeyn können.  Aber ich
halte dafür, daß der, der glaubt nöthig zu haben, vom ſogenannten Pöbel
ſich zu entfernen, um den Reſpekt zu erhalten, eben ſo tadelhaft iſt als
ein Feiger, der ſich für ſeinem Feinde verbirgt, weil er zu unterliegen
fürchtet.

Lezthin kam ich zum Brunnen, und fand ein junges Dienſtmädgen, das ihr
Gefäß auf die unterſte Treppe geſetzt hatte, und ſich umſah, ob keine
Camerädin kommen wollte, ihr's auf den Kopf zu helfen.  Ich ſtieg
hinunter und ſah ſie an.  Soll ich ihr helfen, Jungfer?  ſagt ich.  Sie
ward roth über und über.  O nein, Herr!  ſagte ſie. - Ohne Umſtände! -
Sie legte ihren Kringen zurechte, und ich half ihr.  Sie dankte und
ſtieg hinauf.

den 17. May.

Ich hab allerley Bekanntſchaft gemacht, Geſellſchaft hab ich noch keine
gefunden.  Ich weiß nicht, was ich anzügliches für die Menſchen haben
muß, es mögen mich ihrer ſo viele, und hängen ſich an mich, und da thut
mirs immer weh, wenn unſer Weg nur ſo eine kleine Strecke mit einander
geht.  Wenn Du fragſt, wie die Leute hier ſind?  muß ich Dir ſagen: wie
überall!  Es iſt ein einförmig Ding um's Menſchengeſchlecht.  Die
meiſten verarbeiten den gröſten Theil der Zeit, um zu leben, und das
Bisgen, das ihnen von Freyheit übrig bleibt, ängſtigt ſie ſo, daß ſie
alle Mittel aufſuchen, um's los zu werden.  O Beſtimmung des Menſchen!


Aber eine rechte gute Art Volks!  Wann ich mich manchmal vergeſſe,
manchmal mit ihnen die Freuden genieße, die ſo den Menſchen noch gewährt
ſind, an einem artig beſetzten Tiſch, mit aller Offen- und
Treuherzigkeit ſich herum zu ſpaſſen, eine Spazierfahrt, einen Tanz zur
rechten Zeit anzuordnen und dergleichen, das thut eine ganz gute Würkung
auf mich, nur muß mir nicht einfallen, daß noch ſo viele andere Kräfte
in mir ruhen, die alle ungenutzt vermodern, und die ich ſorgfältig
verbergen muß.  Ach, das engt all das Herz ſo ein - Und doch!
Miſverſtanden zu werden iſt das Schickſal von unſer einem.

Ach daß die Freundin meiner Jugend dahin iſt, ach daß ich ſie je gekannt
habe!  Ich würde zu mir ſagen: du biſt ein Thor!  du ſuchſt, was
hienieden nicht zu finden iſt.  Aber ich hab ſie gehabt, ich habe das
Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir ſchien mehr zu
ſeyn als ich war, weil ich alles war was ich ſeyn konnte.  Guter Gott,
blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt, konnt ich nicht vor
ihr all das wunderbare Gefühl entwickeln, mit dem mein Herz die Natur
umfaßt, war unſer Umgang nicht ein ewiges Weben von feinſter Empfindung,
ſchärfſtem Witze, deſſen Modifikationen bis zur Unart alle mit dem
Stempel des Genies bezeichnet waren?  Und nun - Ach ihre Jahre, die ſie
voraus hatte, führten ſie früher an's Grab als mich.  Nie werd ich ihrer
vergeſſen, nie ihren feſten Sinn und ihre göttliche Duldung.

Vor wenig Tagen traf ich einen jungen V an, ein offner Junge mit einer
gar glücklichen Geſichtſbildung.  Er kommt erſt von Akademien, dünkt
ſich nicht eben weiſe, aber glaubt doch, er wüßte mehr als andere.  Auch
war er fleißig, wie ich an allerley ſpüre, kurz, er hatt' hüpſche
Kenntniſſe.  Da er hörte, daß ich viel zeichnete, und Griechiſch konnte,
zwey Meteore hier zu Land, wandt er ſich an mich und kramte viel Wiſſens
aus, von Batteux bis zu Wood, von de Piles zu Winkelmann, und
verſicherte mich, er habe Sulzers Theorie den erſten Theil ganz
durchgeleſen, und beſitze ein Manuſcript von Heynen über das Studium der
Antike.  Ich ließ das gut ſeyn.

Noch gar einen braven Kerl hab ich kennen lernen, den fürſtlichen
Amtmann.  Einen offenen, treuherzigen Menſchen.  Man ſagt, es ſoll eine
Seelenfreude ſeyn, ihn unter ſeinen Kindern zu ſehen, deren er neune
hat.  Beſonders macht man viel Weſens von ſeiner ältſten Tochter.  Er
hat mich zu ſich gebeten, und ich will ihn ehſter Tage beſuchen, er
wohnt auf einem fürſtlichen Jagdhofe, anderthalb Stunden von hier, wohin
er, nach dem Tode ſeiner Frau, zu ziehen die Erlaubniß erhielt, da ihm
der Aufenthalt hier in der Stadt und dem Amthauſe zu weh that.

Sonſt ſind einige verzerrte Originale mir in Weg gelaufen, an denen
alles unauſſtehlich iſt, am unerträglichſten ihre
Freundſchaftſ-bezeugungen.

Leb wohl!  der Brief wird dir recht ſeyn, er iſt ganz hiſtoriſch.

am 22. May.

Daß das Leben des Menſchen nur ein Traum ſey, iſt manchem ſchon ſo
vorgekommen, und auch mit mir zieht dieſes Gefühl immer herum.  Wenn ich
die Einſchränkung ſo anſehe, in welche die thätigen und forſchenden
Kräfte des Menſchen eingeſperrt ſind, wenn ich ſehe, wie alle
Würkſamkeit dahinaus läuft, ſich die Befriedigung von Bedürfniſſen zu
verſchaffen, die wieder keinen Zwek haben, als unſere arme Exiſtenz zu
verlängern, und dann, daß alle Beruhigung über gewiſſe Punkte des
Nachforſchens nur eine träumende Reſignation iſt, da man ſich die Wände,
zwiſchen denen man gefangen ſizt, mit bunten Geſtalten und lichten
Auſſichten bemahlt.  Das alles, Wilhelm, macht mich ſtumm.  Ich kehre in
mich ſelbſt zurük, und finde eine Welt!  Wieder mehr in Ahndung und
dunkler Begier, als in Darſtellung und lebendiger Kraft.  Und da
ſchwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich lächle dann ſo träumend weiter
in die Welt.

Daß die Kinder nicht wiſſen, warum ſie wollen, darinn ſind alle
hochgelahrte Schul- und Hofmeiſter einig.  Daß aber auch Erwachſene,
gleich Kindern, auf dieſem Erdboden herumtaumeln, gleichwie jene nicht
wiſſen, woher ſie kommen und wohin ſie gehen, eben ſo wenig nach wahren
Zwekken handeln, eben ſo durch Biſkuit und Kuchen und Birkenreiſer
regiert werden, das will niemand gern glauben, und mich dünkt, man
kann's mit Händen greifen.

Ich geſtehe dir gern, denn ich weis, was du mir hierauf ſagen möchteſt,
daß diejenige die glüklichſten ſind, die gleich den Kindern in Tag
hinein leben, ihre Puppe herum ſchleppen, aus und anziehen, und mit
großem Reſpekte um die Schublade herumſchleichen, wo Mama das Zuckerbrod
hinein verſchloſſen hat, und wenn ſie das gewünſchte endlich erhaſchen,
es mit vollen Bakken verzehren und rufen: Mehr!  Das ſind glükliche
Geſchöpfe!  Auch denen iſts wohl, die ihren Lumpenbeſchäftigungen, oder
wohl gar ihren Leidenſchaften prächtige Titel geben, und ſie dem
Menſchengeſchlechte als Rieſenoperationen zu deſſen Heil und Wohlfahrt
anſchreiben.  Wohl dem, der ſo ſeyn kann!  Wer aber in ſeiner Demuth
erkennt, wo das alles hinauſläuft, der ſo ſieht, wie artig jeder Bürger,
dem's wohl iſt, ſein Gärtchen zum Paradieſe zuzuſtuzzen weis, und wie
unverdroſſen dann doch auch der Unglükliche unter der Bürde ſeinen Weg
fortkeicht, und alle gleich intereſſirt ſind, das Licht dieſer Sonne
noch eine Minute länger zu ſehn, ja!  der iſt ſtill und bildet auch
ſeine Welt aus ſich ſelbſt, und iſt auch glüklich, weil er ein Menſch
iſt.  Und dann, ſo eingeſchränkt er iſt, hält er doch immer im Herzen
das ſüſſe Gefühl von Freyheit, und daß er dieſen Kerker verlaſſen kann,
wann er will.

am 26. May.

Du kennſt von Alters her meine Art, mich anzubauen, irgend mir an einem
vertraulichen Orte ein Hüttchen aufzuſchlagen und da mit aller
Einſchränkung zu herbergen.  Ich hab auch hier wieder ein Pläzchen
angetroffen, das mich angezogen hat.

Ohngefähr eine Stunde von der Stadt liegt ein Ort, den ſie Wahlheim *)


*)

Der Leſer wird ſich keine Mühe geben, die hier genannten Orte zu ſuchen,
man hat ſich genöthigt geſehen, die im Originale befindlichen wahren
Namen zu verändern.


nennen.  Die Lage an einem Hügel iſt ſehr intereſſant, und wenn man oben
auf dem Fußpfade zum Dorfe heraus geht, überſieht man mit Einem das
ganze Thal.  Eine gute Wirthin, die gefällig und munter in ihrem Alter
iſt, ſchenkt Wein, Bier, Caffee, und was über alles geht, ſind zwey
Linden, die mit ihren auſgebreiteten Aeſten den kleinen Plaz vor der
Kirche bedecken, der ringſum mit Bauerhäuſern Scheuern und Höfen
eingeſchloſſen iſt.  So vertraulich, ſo heimlich hab ich nicht leicht
ein Pläzchen gefunden, und dahin laß ich mein Tiſchchen aus dem
Wirthſhauſe bringen und meinen Stuhl, und trinke meinen Caffee da, und
leſe meinen Homer.  Das erſtemal als ich durch einen Zufall an einem
ſchönen Nachmittage unter die Linden kam, fand ich das Pläzchen ſo
einſam.  Es war alles im Felde.  Nur ein Knabe von ohngefähr vier Jahren
ſaß an der Erde, und hielt ein andres etwa halbjähriges vor ihm zwiſchen
ſeinen Füſſen ſitzendes Kind mit beyden Armen wider ſeine Bruſt, ſo daß
er ihm zu einer Art von Seſſel diente, und ohngeachtet der Munterkeit,
womit er aus ſeinen ſchwarzen Augen herumſchaute, ganz ruhig ſaß.  Mich
vergnügte der Anblik, und ich ſezte mich auf einen Pflug, der gegen über
ſtund, und zeichnete die brüderliche Stellung mit vielem Ergözzen, ich
fügte den nächſten Zaun, ein Tennenthor und einige gebrochne Wagenräder
bey, wie es all hintereinander ſtund, und fand nach Verlauf einer
Stunde, daß ich eine wohlgeordnete ſehr intereſſante Zeichnung
verfertigt hatte, ohne das mindeſte von dem meinen hinzuzuthun.  Das
beſtärkte mich in meinem Vorſazze, mich künftig allein an die Natur zu
halten.  Sie allein iſt unendlich reich, und ſie allein bildet den
großen Künſtler.  Man kann zum Vortheile der Regeln viel ſagen,
ohngefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Geſellſchaft ſagen kann.
Ein Menſch, der ſich nach ihnen bildet, wird nie etwas abgeſchmaktes und
ſchlechtes hervor bringen, wie einer, der ſich durch Geſezze und
Wohlſtand modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein
merkwürdiger Böſewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel,
man rede was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren
Auſdruk derſelben zerſtören!  ſagſt du, das iſt zu hart!  Sie ſchränkt
nur ein, beſchneidet die geilen Reben &c.  Guter Freund, ſoll ich Dir
ein Gleichniß geben: es iſt damit wie mit der Liebe, ein junges Herz
hängt ganz an einem Mädchen, bringt alle Stunden ſeines Tags bey ihr zu,
verſchwendet all ſeine Kräfte, all ſein Vermögen, um ihr jeden Augenblik
auſzudrükken, daß er ſich ganz ihr hingiebt.  Und da käme ein Philiſter
ein Mann, der in einem öffentlichen Amte ſteht, und ſagte zu ihm: feiner
junger Herr, lieben iſt menſchlich, nur müßt ihr menſchlich lieben!
Theilet eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungſſtunden
widmet eurem Mädchen, berechnet euer Vermögen, und was euch von eurer
Nothdurft übrig bleibt, davon verwehr ich euch nicht ihr ein Geſchenk,
nur nicht zu oft, zu machen.  Etwa zu ihrem Geburtſ- und Namenſtage &c.
- Folgt der Menſch, ſo giebts einen brauchbaren jungen Menſchen, und ich
will ſelbſt jedem Fürſten rathen, ihn in ein Collegium zu ſezzen, nur
mit ſeiner Liebe iſt's am Ende, und wenn er ein Künſtler iſt, mit ſeiner
Kunſt.  O meine Freunde!  warum der Strom des Genies ſo ſelten
auſbricht, ſo ſelten in hohen Fluthen hereinbrauſt und eure ſtaunende
Seele erſchüttert.  Liebe Freunde, da wohnen die gelaßnen Kerls auf
beyden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuſchen, Tulpenbeete, und
Krautfelder zu Grunde gehen würden, und die daher in Zeiten mit dämmen
und ableiten der künftig drohenden Gefahr abzuwehren wiſſen.

am 27. May.

Ich bin, wie ich ſehe, in Verzükkung, Gleichniſſe und Deklamation
verfallen, und habe drüber vergeſſen, dir auſzuerzählen, was mit den
Kindern weiter worden iſt.  Ich ſaß ganz in mahleriſche Empfindungen
vertieft, die dir mein geſtriges Blatt ſehr zerſtükt darlegt, auf meinem
Pfluge wohl zwey Stunden.  Da kommt gegen Abend eine junge Frau auf die
Kinder los, die ſich die Zeit nicht gerührt hatten, mit einem Körbchen
am Arme, und ruft von weitem: Philips, du biſt recht brav.  Sie grüßte
mich, ich dankte ihr, ſtand auf, trat näher hin, und fragte ſie: ob ſie
Mutter zu den Kindern wäre?  Sie bejahte es, und indem ſie dem Aelteſten
einen halben Wek gab, nahm ſie das Kleine auf und küßte es mit aller
mütterlichen Liebe.  Ich habe, ſagte ſie, meinem Philips das Kleine zu
halten gegeben, und bin in die Stadt gegangen mit meinem Aeltſten, um
weis Brod zu holen, und Zukker, und ein irden Breypfännchen; ich ſah das
alles in dem Korbe, deſſen Dekkel abgefallen war.  Ich will meinem Hans
(das war der Nahme des Jüngſten) ein Süppchen kochen zum Abende; der
loſe Vogel der Große hat mir geſtern das Pfännchen zerbrochen, als er
ſich mit Philipſen um die Scharre des Brey's zankte.  Ich fragte nach
dem Aeltſten, und ſie hatte mir kaum geſagt, daß er auf der Wieſe ſich
mit ein paar Gänſen herumjagte, als er hergeſprungen kam, und dem
zweyten eine Haſelgerte mitbrachte.  Ich unterhielt mich weiter mit dem
Weibe, und erfuhr, daß ſie des Schulmeiſters Tochter ſey, und daß ihr
Mann eine Reiſe in die Schweiz gemacht habe, um die Erbſchaft eines
Vettern zu holen.  Sie haben ihn drum betrügen wollen, ſagte ſie, und
ihm auf ſeine Briefe nicht geantwortet, da iſt er ſelbſt hineingegangen.
Wenn ihm nur kein Unglük paſſirt iſt, ich höre nichts von ihm.  Es ward
mir ſchwer, mich von dem Weibe loſzumachen, gab jedem der Kinder einen
Kreuzer, und auch für's jüngſte gab ich ihr einen, ihm einen Wek
mitzubringen zur Suppe, wenn ſie in die Stadt gieng, und ſo ſchieden wir
von einander.

Ich ſage dir, mein Schaz, wenn meine Sinnen gar nicht mehr halten
wollen, ſo linderts all den Tumult, der Anblik eines ſolchen Geſchöpfs,
das in der glüklichen Gelaſſenheit ſo den engen Kreis ſeines Daſeyns
auſgeht, von einem Tag zum andern ſich durchhilft, die Blätter abfallen
ſieht, und nichts dabey denkt, als daß der Winter kömmt.

Seit der Zeit bin ich oft draus, die Kinder ſind ganz an mich gewöhnt.
Sie kriegen Zukker, wenn ich Caffee trinke, und theilen das Butterbrod
und die ſaure Milch mit mir des Abends.  Sonntags fehlt ihnen der
Kreuzer nie, und wenn ich nicht nach der Betſtunde da bin, ſo hat die
Wirthin Ordre, ihn auſzubezahlen.

Sie ſind vertraut, erzählen mir allerhand, und beſonders ergötz' ich
mich an ihren Leidenſchaften und ſimplen Auſbrüchen des Begehrens, wenn
mehr Kinder aus dem Dorfe ſich verſammeln.

Viel Mühe hat mich's gekoſtet, der Mutter ihre Beſorgniß zu benehmen:
«Sie möchten den Herrn inkommodiren.»

am 16. Juny.

Warum ich dir nicht ſchreibe?  Fragſt du das und biſt doch auch der
Gelehrten einer.  Du ſollteſt rathen, daß ich mich wohl befinde, und
zwar - Kurz und gut, ich habe eine Bekanntſchaft gemacht, die mein Herz
näher angeht.  Ich habe - ich weis nicht.

Dir in der Ordnung zu erzählen, wie's zugegangen iſt, daß ich ein's der
liebenſwürdigſten Geſchöpfe habe kennen lernen, wird ſchwer halten; ich
bin vergnügt und glüklich, und ſo kein guter Hiſtorien-ſchreiber.

Einen Engel!  Pfuy!  das ſagt jeder von der ſeinigen!  Nicht wahr?  Und
doch bin ich nicht im Stande, dir zu ſagen, wie ſie vollkommen iſt,
warum ſie vollkommen iſt, genug, ſie hat all meinen Sinn gefangen
genommen.

So viel Einfalt bey ſo viel Verſtand, ſo viel Güte bey ſo viel
Feſtigkeit, und die Ruhe der Seele bey dem wahren Leben und der
Thätigkeit. -

Das iſt alles garſtiges Gewäſche, was ich da von ihr ſage, leidige
Abſtraktionen, die nicht einen Zug ihres Selbſt auſdrükken.  Ein
andermal - Nein, nicht ein andermal, jezt gleich will ich dir's
erzählen.  Thu ich's jezt nicht, geſchäh's niemals.  Denn, unter uns,
ſeit ich angefangen habe zu ſchreiben, war ich ſchon dreymal im
Begriffe, die Feder niederzulegen, mein Pferd ſatteln zu laſſen und
hinaus zu reiten und doch ſchwur ich mir heut früh nicht hinaus zu
reiten - und gehe doch alle Augenblikke ans Fenſter zu ſehen, wie hoch
die Sonne noch ſteht.

Ich hab's nicht überwinden können, ich mußte zu ihr hinaus.  Da bin ich
wieder, Wilhelm, und will mein Butterbrod zu Nacht eſſen und dir
ſchreiben.  Welch eine Wonne das für meine Seele iſt, ſie in dem Kreiſe
der lieben muntern Kinder ihrer acht Geſchwiſter, zu ſehen! -

Wenn ich ſo fortfahre, wirſt du am Ende ſo klug ſeyn wie am Anfange,
höre denn, ich will mich zwingen ins Detail zu gehen.

Ich ſchrieb Dir neulich, wie ich den Amtmann S.  habe kennen lernen, und
wie er mich gebeten habe, ihn bald in ſeiner Einſiedeley, oder vielmehr
ſeinem kleinen Königreiche zu beſuchen.  Ich vernach-läßigte das, und
wäre vielleicht nie hingekommen, hätte mir der Zufall nicht den Schaz
entdekt, der in der ſtillen Gegend verborgen liegt.

Unſere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angeſtellt, zu dem
ich mich denn auch willig finden ließ.  Ich bot einem hieſigen guten,
ſchönen, weiters unbedeutenden Mädchen die Hand, und es wurde
auſgemacht, daß ich eine Kutſche nehmen, mit meiner Tänzerinn und ihrer
Baaſe nach dem Orte der Luſtbarkeit hinauſfahren, und auf dem Wege
Charlotten S.  mitnehmen ſollte.  Sie werden ein ſchönes Frauenzimmer
kennen lernen, ſagte meine Geſellſchafterinn, da wir durch den weiten
ſchön auſgehauenen Wald nach dem Jagdhauſe fuhren.  Nehmen Sie ſich in
Acht, verſezte die Baaſe, daß Sie ſich nicht verlieben! - Wie ſo?
ſagt' ich: Sie iſt ſchon vergeben, antwortete jene, an einen ſehr braven
Mann, der weggereiſt iſt, ſeine Sachen in Ordnung zu bringen nach ſeines
Vaters Tod, und ſich um eine anſehnliche Verſorgung zu bewerben.  Die
Nachricht war mir ziemlich gleichgültig.


Die Sonne war noch eine Viertelſtunde vom Gebürge, als wir vor dem
Hofthore anfuhren, es war ſehr ſchwühle, und die Frauenzimmer äuſſerten
ihre Beſorgniß wegen eines Gewitters, das ſich in weiſgrauen dumpfigen
Wölkchen rings am Horizonte zuſammen zu ziehen ſchien.  Ich täuſchte
ihre Furcht mit anmaßlicher Wetterkunde, ob mir gleich ſelbſt zu ahnden
anfieng, unſere Luſtbarkeit werde einen Stoß leiden.

Ich war auſgeſtiegen.  Und eine Magd, die an's Thor kam, bat uns, einen
Augenblik zu verziehen, Mamſell Lottchen würde gleich kommen.  Ich gieng
durch den Hof nach dem wohlgebauten Hauſe, und da ich die vorliegenden
Treppen hinaufgeſtiegen war und in die Thüre trat, fiel mir das
reizendſte Schauſpiel in die Augen, das ich jemals geſehen habe.  In dem
Vorſaale wimmelten ſechs Kinder, von eilf zu zwey Jahren, um ein Mädchen
von ſchöner mittlerer Taille, die ein ſimples weiſſes Kleid mit
blaßrothen Schleifen an Arm und Bruſt anhatte.  Sie hielt ein ſchwarzes
Brod und ſchnitt ihren Kleinen rings herum jedem ſein Stük nach
Proportion ihres Alters und Appetites ab, gabs jedem mit ſolcher
Freundlichkeit, und jedes rufte ſo ungekünſtelt ſein: Danke!  indem es
mit den kleinen Händchen lang in die Höh gereicht hatte, eh es noch
abgeſchnitten war, und nun mit ſeinem Abendbrode vergnügt entweder
wegſprang, oder nach ſeinem ſtillern Charakter gelaſſen davon nach dem
Hofthore zugieng, um die Fremden und die Kutſche zu ſehen, darinnen ihre
Lotte wegfahren ſollte.  Ich bitte um Vergebung, ſagte ſie, daß ich Sie
herein bemühe, und die Frauenzimmer warten laſſe.  Ueber dem Anziehen
und allerley Beſtellungen für's Haus in meiner Abweſenheit, habe ich
vergeſſen, meinen Kindern ihr Veſperſtük zu geben, und ſie wollen von
niemanden Brod geſchnitten haben als von mir.  Ich machte ihr ein
unbedeutendes Compliment, und meine ganze Seele ruhte auf der Geſtalt,
dem Tone, dem Betragen, und hatte eben Zeit, mich von der Ueberraſchung
zu erholen, als ſie in die Stube lief ihre Handſchuh und Fächer zu
nehmen.  Die Kleinen ſahen mich in einiger Entfernung ſo von der Seite
an, und ich gieng auf das jüngſte los, das ein Kind von der glüklichſten
Geſichtſbildung war.  Es zog ſich zurük als eben Lotte zur Thüre
herauſkam, und ſagte: Louis, gieb dem Herrn Vetter eine Hand.  Das that
der Knabe ſehr freymüthig, und ich konnte mich nicht enthalten, ihn
ohngeachtet ſeines kleinen Roznäſchens herzlich zu küſſen.  Vetter?
ſagt' ich, indem ich ihr die Hand reichte, glauben Sie, daß ich des
Glüks werth ſey, mit Ihnen verwandt zu ſeyn?  O!  ſagte ſie, mit einem
leichtfertigen Lächeln unſere Vetterſchaft iſt ſehr weitläuftig, und es
wäre mir leid, wenn Sie der Schlimmſte drunter ſeyn ſollten.  Im Gehen
gab ſie Sophien, der ältſten Schweſter nach ihr, einem Mädchen von
ohngefähr eilf Jahren, den Auftrag, wohl auf die Kleinen Acht zu haben
und den Papa zu grüſſen, wenn er vom Spazierritte zurükkäme.  Den
Kleinen ſagte ſie, ſie ſollten ihrer Schweſter Sophie folgen, als wenn
ſie's ſelbſt wäre, das denn auch einige auſdrüklich verſprachen.  Eine
kleine naſweiſe Blondine aber, von ohngefähr ſechs Jahren, ſagte: du
biſt's doch nicht, Lottchen!  wir haben dich doch lieber.  Die zwey
ältſten der Knaben waren hinten auf die Kutſche geklettert, und auf mein
Vorbitten erlaubte ſie ihnen, bis vor den Wald mit zu fahren, wenn ſie
verſprächen, ſich nicht zu necken, und ſich recht feſt zu halten.

Wir hatten uns kaum zurecht geſezt, die Frauenzimmer ſich bewillkommt,
wechſelſweis über den Anzug und vorzüglich die Hütchen ihre Anmerkungen
gemacht, und die Geſellſchaft, die man zu finden erwartete, gehörig
durchgezogen; als Lotte den Kutſcher halten, und ihre Brüder
herabſteigen lies, die noch einmal ihre Hand zu küſſen begehrten, das
denn der ältſte mit aller Zärtlichkeit, die dem Alter von funfzehn
Jahren eigen ſeyn kann, der andere mit viel Heftigkeit und Leichtſinn
that.  Sie ließ die Kleinen noch einmal grüßen, und wir fuhren weiter.

Die Baaſe fragte: ob ſie mit dem Buche fertig wäre, das ſie ihr neulich
geſchickt hätte.  Nein, ſagte Lotte, es gefällt mir nicht, ſie könnens
wieder haben.  Das vorige war auch nicht beſſer.  Ich erſtaunte, als ich
fragte: was es für Bücher wären, und ſie mir antwortete: *) -


*)

Man ſieht ſich genöthiget, dieſe Stelle des Briefs zu unterdrücken, um
niemand Gelegenheit zu einiger Beſchwerde zu geben.  Ob gleich im Grunde
jedem Autor wenig an dem Urtheile eines einzelnen Mädgens, und eines
jungen unſteten Menſchen gelegen ſeyn kann.


Ich fand ſo viel Charakter in allem was ſie ſagte, ich ſah mit jedem
Wort neue Reize, neue Strahlen des Geiſtes aus ihren Geſichtſzügen
hervorbrechen, die ſich nach und nach vergnügt zu entfalten ſchienen,
weil ſie an mir fühlte, daß ich ſie verſtund.


Wie ich jünger war, ſagte ſie, liebte ich nichts ſo ſehr als die
Romanen.  Weis Gott wie wohl mir's war, mich ſo Sonntags in ein Eckgen
zu ſezzen, und mit ganzem Herzen an dem Glükke und Unſtern einer Miß
Jenny Theil zu nehmen.  Ich läugne auch nicht, daß die Art noch einige
Reize für mich hat.  Doch da ich ſo ſelten an ein Buch komme, ſo müſſen
ſie auch recht nach meinem Geſchmakke ſeyn.  Und der Autor iſt mir der
liebſte, in dem ich meine Welt wieder finde, bey dem's zugeht wie um
mich, und deſſen Geſchichte mir doch ſo intereſſant, ſo herzlich wird,
als mein eigen häuſlich Leben, das freylich kein Paradies, aber doch im
Ganzen eine Quelle unſäglicher Glükſeligkeit iſt.


Ich bemühte mich, meine Bewegungen über dieſe Worte zu verbergen.  Das
gieng freylich nicht weit, denn da ich ſie mit ſolcher Wahrheit im
Vorbeygehn vom Landprieſter von Wakefield, vom *) -


*)

Man hat auch hier die Namen einiger vaterländiſchen Autoren auſgelaſſen.
Wer Theil an Lottens Beyfall hatte, wird es gewiß an ſeinem Herzen
fühlen, wenn er dieſe Stelle leſen ſollte.  Und ſonſt brauchts ja
niemand zu wiſſen.


reden hörte, kam ich eben auſſer mich und ſagte ihr alles was ich mußte,
und bemerkte erſt nach einiger Zeit, da Lotte das Geſpräch an die andern
wendete, daß dieſe die Zeit über mit offnen Augen, als ſäßen ſie nicht
da, da geſeſſen hatten.  Die Baaſe ſah mich mehr als einmal mit einem
ſpöttiſchen Näſgen an, daran mir aber nichts gelegen war.


Das Geſpräch fiel auf das Vergnügen am Tanze.  Wenn dieſe Leidenſchaft
ein Fehler iſt, ſagte Lotte, ſo geſteh ich ihnen gern, ich weis nichts
über's Tanzen.  Und wenn ich was im Kopfe habe, und mir auf meinem
verſtimmten Klaviere einen Contretanz vortrommle, ſo iſt alles wieder
gut.

Wie ich mich unter dem Geſpräche in den ſchwarzen Augen weidete, wie die
lebendigen Lippen und die friſchen muntern Wangen meine ganze Seele
anzogen, wie ich in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz verſunken, oft
gar die Worte nicht hörte, mit denen ſie ſich auſdrukte!  Davon haſt du
eine Vorſtellung, weil du mich kennſt.  Kurz, ich ſtieg aus dem Wagen
wie ein Träumender, als wir vor dem Luſthauſe ſtill hielten, und war ſo
in Träumen rings in der dämmernden Welt verlohren, daß ich auf die Muſik
kaum achtete, die uns von dem erleuchteten Saale herunter entgegen
ſchallte.

Die zwey Herren Audran und ein gewiſſer N.  N.  wer behält all die
Nahmen!  die der Baaſe und Lottens Tänzer waren, empfiengen uns am
Schlage, bemächtigten ſich ihrer Frauenzimmer, und ich führte die
meinige hinauf.

Wir ſchlangen uns in Menuets um einander herum, ich forderte ein
Frauenzimmer nach dem andern auf, und juſt die unleidlichſten konnten
nicht dazu kommen, einem die Hand zu reichen, und ein Ende zu machen.
Lotte und ihr Tänzer fiengen einen engliſchen an, und wie wohl mir's
war, als ſie auch in der Reihe die Figur mit uns anfieng, magſt du
fühlen.  Tanzen muß man ſie ſehen.  Siehſt du, ſie iſt ſo mit ganzem
Herzen und mit ganzer Seele dabey, ihr ganzer Körper, eine Harmonie, ſo
ſorglos, ſo unbefangen, als wenn das eigentlich alles wäre, als wenn ſie
ſonſt nichts dächte, nichts empfände, und in dem Augenblikke gewiß
ſchwindet alles andere vor ihr.

Ich bat ſie um den zweyten Contretanz, ſie ſagte mir den dritten zu, und
mit der liebenſwürdigſten Freymüthigkeit von der Welt verſicherte ſie
mich, daß ſie herzlich gern deutſch tanzte.  Es iſt hier ſo Mode, fuhr
ſie fort, daß jedes paar, das zuſammen gehört, beym Deutſchen zuſammen
bleibt, und mein Chapeau walzt ſchlecht, und dankt mir's, wenn ich ihm
die Arbeit erlaſſe; ihr Frauenzimmer kann's auch nicht und mag nicht,
und ich habe im Engliſchen geſehn, daß ſie gut walzen; wenn ſie nun mein
ſeyn wollen fürs Deutſche, ſo gehn ſie und bitten ſich's aus von meinem
Herrn, ich will zu ihrer Dame gehn.  Ich gab ihr die Hand drauf und es
wurde ſchon arrangirt, daß ihrem Tänzer inzwiſchen die Unterhaltung
meiner Tänzerinn aufgetragen ward.

Nun giengs, und wir ergözten uns eine Weile an mannchfaltigen
Schlingungen der Arme.  Mit welchem Reize, mit welcher Flüchtigkeit
bewegte ſie ſich!  Und da wir nun gar an's Walzen kamen, und wie die
Sphären um einander herumrollten, giengs freylich anfangs, weil's die
wenigſten können, ein biſgen bunt durch einander.  Wir waren klug und
lieſſen ſie auſtoben, und wie die ungeſchikteſten den Plan geräumt
hatten, fielen wir ein, und hielten mit noch einem Paare, mit Audran und
ſeiner Tänzerinn, wakker aus.  Nie iſt mir's ſo leicht vom Flekke
gegangen.  Ich war kein Menſch mehr.  Das liebenſwürdigſte Geſchöpf in
den Armen zu haben, und mit ihr herum zu fliegen wie Wetter, daß alles
rings umher vergieng und - Wilhelm, um ehrlich zu ſeyn, that ich aber
doch den Schwur, daß ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich Anſprüche
hätte, mir nie mit einem andern walzen ſollte, als mit mir, und wenn ich
drüber zu Grunde gehen müßte, du verſtehſt mich.

Wir machten einige Touren gehend im Saale, um zu verſchnauffen.  Dann
ſezte ſie ſich, und die Zitronen, die ich weggeſtohlen hatte beym Punſch
machen, die nun die einzigen noch übrigen waren, und die ich ihr in
Schnittchen, mit Zukker zur Erfriſchung brachte, thaten fürtrefliche
Würkung, nur daß mir mit jedem Schnittgen, das ihre Nachbarinn aus der
Taſſe nahm, ein Stich durch's Herz gieng, der ich's nun freylich
Schanden halber mit präſentiren mußte.

Beym dritten Engliſchen waren wir das zweyte Paar.  Wie wir die Reihe ſo
durchtanzten und ich, weis Gott mit wie viel Wonne, an ihrem Arme und
Auge hieng, das voll vom wahrſten Auſdrukke des offenſten reinſten
Vergnügens war, kommen wir an eine Frau, die mir wegen ihrer
liebenſwürdigen Mine auf einem nicht mehr ganz jungen Geſichte,
merkwürdig geweſen war.  Sie ſieht Lotten lächelnd an, hebt einen
drohenden Finger auf, und nennt den Nahmen Albert zweymal im
Vorbeyfliegen mit viel Bedeutung.

Wer iſt Albert, ſagte ich zu Lotten, wenns nicht Vermeſſenheit iſt zu
fragen.  Sie war im Begriffe zu antworten, als wir uns ſcheiden mußten,
die groſſe Achte zu machen, und mich dünkte einiges Nachdenken auf ihrer
Stirne zu ſehen, als wir ſo vor einander vorbeykreuzten.  Was ſoll ich's
ihnen läugnen, ſagte ſie, indem ſie mir die Hand zur Promenade bot.
Albert iſt ein braver Menſch, dem ich ſo gut als verlobt bin!  Nun war
mir das nichts neues, denn die Mädchen hatten mir's auf dem Wege geſagt,
und war mir doch ſo ganz neu, weil ich das noch nicht im Verhältniſſe
auf ſie, die mir in ſo wenig Augenblikken ſo werth geworden war, gedacht
hatte.  Genug, ich verwirrte mich, vergaß mich, und kam zwiſchen das
unrechte Paar hinein, daß alles drunter und drüber gieng, und Lottens
ganze Gegenwart und Zerren und Ziehen nöthig war, um's ſchnell wieder in
Ordnung zu bringen.

Der Tanz war noch nicht zu Ende, als die Blizze, die wir ſchon lange am
Horizonte leuchten geſehn, und die ich immer für Wetterkühlen auſgegeben
hatte, viel ſtärker zu werden anfiengen, und der Donner die Muſik
überſtimmte.  Drey Frauenzimmer liefen aus der Reihe, denen ihre Herren
folgten, die Unordnung ward allgemein, und die Muſik hörte auf.  Es iſt
natürlich, wenn uns ein Unglük oder etwas ſchrökliches im Vergnügen
überraſcht, daß es ſtärkere Eindrükke auf uns macht, als ſonſt, theils
wegen dem Gegenſazze, der ſich ſo lebhaft empfinden läßt, theils und
noch mehr, weil unſere Sinnen einmal der Fühlbarkeit geöffnet ſind und
alſo deſto ſchneller einen Eindruk annehmen.  Dieſen Urſachen muß ich
die wunderbaren Grimaſſen zuſchreiben, in die ich mehrere Frauenzimmer
auſbrechen ſah.  Die Klügſte ſezte ſich in eine Ekke, mit dem Rüken
gegen das Fenſter, und hielt die Ohren zu, eine andere kniete ſich vor
ihr nieder und verbarg den Kopf in der erſten Schoos, eine dritte ſchob
ſich zwiſchen beyde hinein, und umfaßte ihre Schweſterchen mit tauſend
Thränen.  Einige wollten nach Hauſe, andere, die noch weniger wußten was
ſie thaten, hatten nicht ſo viel Beſinnungſkraft, den Kekheiten unſerer
jungen Schlukkers zu ſteuern, die ſehr beſchäftigt zu ſeyn ſchienen,
alle die ängſtlichen Gebete, die dem Himmel beſtimmt waren, von den
Lippen der ſchönen Bedrängten wegzufangen.  Einige unſerer Herren hatten
ſich hinab begeben, um ein Pfeifchen in Ruhe zu rauchen, und die übrige
Geſellſchaft ſchlug es nicht aus, als die Wirthinn auf den klugen
Einfall kam, uns ein Zimmer anzuweiſen, das Läden und Vorhänge hätte.
Kaum waren wir da angelangt, als Lotte beſchäftigt war, einen Kreis von
Stühlen zu ſtellen, die Geſellſchaft zu ſezzen und den Vortrag zu einem
Spiele zu thun.

Ich ſahe manchen, der in Hoffnung auf ein ſaftiges Pfand ſein Mäulchen
ſpizte und ſeine Glieder rekte.  Wir ſpielen Zählens, ſagte ſie, nun
gebt Acht!  Ich gehe im Kreiſe herum von der Rechten zur Linken, und ſo
zählt ihr auch rings herum jeder die Zahl die an ihn kommt, und das muß
gehn wie ein Lauffeuer, und wer ſtokt, oder ſich irrt, kriegt eine
Ohrfeige, und ſo bis tauſend.  Nun war das luſtig anzuſehen.  Sie gieng
mit auſgeſtrekktem Arme im Kreiſe herum: Eins!  fieng der erſte an, der
Nachbar zwey!, drey!  der folgende und ſo fort; dann fieng ſie an,
geſchwinder zu gehn, immer geſchwinder.  Da verſahs einer, Patſch eine
Ohrfeige, und über das Gelächter der folgende auch Patſch!  Und immer
geſchwinder.  Ich ſelbſt kriegte zwey Maulſchellen und glaubte mit
innigem Vergnügen zu bemerken, daß ſie ſtärker ſeyen, als ſie ſie den
übrigen zuzumeſſen pflegte.  Ein allgemeines Gelächter und Geſchwärme
machte dem Spiele ein Ende, ehe noch das Tauſend auſgezählt war.  Die
Vertrauteſten zogen einander beyſeite, das Gewitter war vorüber, und ich
folgte Lotten in den Saal.  Unterwegs ſagte ſie: über die Ohrfeigen
haben ſie Wetter und alles vergeſſen!  Ich konnte ihr nichts antworten.
Ich war, fuhr ſie fort, eine der Furchtſamſten, und indem ich mich
herzhaft ſtellte, um den andern Muth zu geben, bin ich muthig geworden.
Wir traten an's Fenſter, es donnerte abſeitwärts, und der herrliche
Regen ſäuſelte auf das Land, und der erquikkendſte Wohlgeruch ſtieg in
aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf.  Sie ſtand auf ihrem
Ellenbogen geſtüzt, und ihr Blik durchdrang die Gegend, ſie ſah gen
Himmel und auf mich, ich ſah ihr Auge thränenvoll, ſie legte ihre Hand
auf die meinige und ſagte: - Klopſtock!  Ich verſank in dem Strome von
Empfindungen, den ſie in dieſer Looſung über mich auſgoß.  Ich ertrugs
nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte ſie unter den wonnevolleſten
Thränen.  Und ſah nach ihrem Auge wieder - Edler!  hätteſt du deine
Vergötterung in dieſem Blikke geſehn, und möcht ich nun deinen ſo oft
entweihten Nahmen nie wieder nennen hören!

am 19. Juny.

Wo ich neulich mit meiner Erzählung geblieben bin, weis ich nicht mehr,
das weis ich, daß es zwey Uhr des Nachts war, als ich zu Bette kam, und
daß, wenn ich dir hätte vorſchwäzzen können, ſtatt zu ſchreiben, ich
dich vielleicht bis an Tag aufgehalten hätte.

Was auf unſerer Hereinfahrt vom Balle paſſirt iſt, hab ich noch nicht
erzählt, hab auch heute keinen Tag dazu.

Es war der liebwürdigſte Sonnenaufgang.  Der tröpfelnde Wald und das
erfriſchte Feld umher!  Unſere Geſellſchafterinnen nikten ein.  Sie
fragte mich, ob ich nicht auch von der Parthie ſeyn wollte, ihrentwegen
ſollt ich unbekümmert ſeyn.  So lang ich dieſe Augen offen ſehe, ſagt'
ich und ſah ſie feſt an, ſo lang hats keine Gefahr.  Und wir haben beyde
auſgehalten, bis an ihr Thor, da ihr die Magd leiſe aufmachte, und auf
ihr Fragen vom Vater und den Kleinen verſicherte, daß alles wohl ſey und
noch ſchlief.  Und da verließ ich ſie mit dem Verſichern: ſie ſelbigen
Tags noch zu ſehn, und hab mein Verſprechen gehalten, und ſeit der Zeit
können Sonne, Mond und Sterne geruhig ihre Wirthſchaft treiben, ich weis
weder daß Tag noch daß Nacht iſt, und die ganze Welt verliert ſich um
mich her.

am 21. Juny.

Ich lebe ſo glükliche Tage, wie ſie Gott ſeinen Heiligen auſſpart, und
mit mir mag werden was will; ſo darf ich nicht ſagen, daß ich die
Freuden, die reinſten Freuden des Lebens nicht genoſſen habe.  Du kennſt
mein Wahlheim.  Dort bin ich völlig etablirt.  Von dort hab ich nur eine
halbe Stunde zu Lotten, dort fühl ich mich ſelbſt und alles Glük, das
dem Menſchen gegeben iſt.

Hätte ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwekke meiner Spaziergänge
wählte, daß es ſo nahe am Himmel läge!  Wie oft habe ich das Jagdhaus,
das nun alle meine Wünſche einſchließt, auf meinen weiten Wandrungen
bald vom Berge, bald in der Ebne über den Fluß geſehn.

Lieber Wilhelm, ich habe allerley nachgedacht, über die Begier im
Menſchen ſich auſzubreiten, neue Entdekkungen zu machen,
herumzuſchweifen; und dann wieder über den innern Trieb, ſich der
Einſchränkung willig zu ergeben, und in dem Gleiſe der Gewohnheit ſo
hinzufahren, und ſich weder um rechts noch links zu bekümmern.

Es iſt wunderbar, wie ich hierher kam und vom Hügel in das ſchöne Thal
ſchaute, wie es mich rings umher anzog.  Dort das Wäldchen!  Ach
könnteſt du dich in ſeine Schatten miſchen!  Dort die Spizze des Bergs!
Ach könnteſt du von da die weite Gegend überſchauen!  Die in einander
gekettete Hügel und vertrauliche Thäler.  O könnte ich mich in ihnen
verliehren! - Ich eilte hin!  und kehrte zurük, und hatte nicht
gefunden was ich hoffte.  O es iſt mit der Ferne wie mit der Zukunft!
Ein groſſes dämmerndes Ganzes ruht vor unſerer Seele, unſere Empfindung
verſchwimmt ſich darinne, wie unſer Auge, und wir ſehnen uns, ach!
unſer ganzes Weſen hinzugeben, uns mit all der Wonne eines einzigen
groſſen herrlichen Gefühls auſfüllen zu laſſen. - Und ach, wenn wir
hinzueilen, wenn das Dort nun Hier wird, iſt alles vor wie nach, und wir
ſtehen in unſerer Armuth, in unſerer Eingeſchränktheit, und unſere Seele
lechzt nach entſchlüpftem Labſale.

Und ſo ſehnt ſich der unruhigſte Vagabund zulezt wieder nach ſeinem
Vaterlande, und findet in ſeiner Hütte, an der Bruſt ſeiner Gattin, in
dem Kreiſe ſeiner Kinder und der Geſchäfte zu ihrer Erhaltung, all die
Wonne, die er in der weiten öden Welt vergebens ſuchte.

Wenn ich ſo des Morgens mit Sonnenaufgange hinauſgehe nach meinem
Wahlheim, und dort im Wirthſgarten mir meine Zukkererbſen ſelbſt
pflükke, mich hinſezze, und ſie abfädme und dazwiſchen leſe in meinem
Homer.  Wenn ich denn in der kleinen Küche mir einen Topf wähle, mir
Butter auſſteche, meine Schoten ans Feuer ſtelle, zudekke und mich dazu
ſezze , ſie manchmal umzuſchütteln.  Da fühl ich ſo lebhaft, wie die
herrlichen übermüthigen Freyer der Penelope Ochſen und Schweine
ſchlachten, zerlegen und braten.  Es iſt nichts, das mich ſo mit einer
ſtillen, wahren Empfindung auſfüllte, als die Züge patriarchaliſchen
Lebens, die ich, Gott ſey Dank, ohne Affektation in meine Lebenſart
verweben kann.

Wie wohl iſt mir's, daß mein Herz die ſimple harmloſe Wonne des Menſchen
fühlen kann, der ein Krauthaupt auf ſeinen Tiſch bringt, das er ſelbſt
gezogen, und nun nicht den Kohl allein, ſondern all die guten Tage, den
ſchönen Morgen, da er ihn pflanzte, die lieblichen Abende, da er ihn
begoß, und da er an dem fortſchreitenden Wachſthume ſeine Freude hatte,
alle in einem Augenblikke wieder mitgenieſt.

am 29. Juny.

Vorgeſtern kam der Medikus hier aus der Stadt hinaus zum Amtmanne und
fand mich auf der Erde unter Lottens Kindern, wie einige auf mir
herumkrabelten, andere mich nekten und wie ich ſie küzzelte, und ein
groſſes Geſchrey mit ihnen verführte.  Der Doktor, der eine ſehr
dogmatiſche Dratpuppe iſt, und im Diſkurs ſeine Manſchetten in Falten
legt, und den Kräuſel bis zum Nabel herauſzupft, fand dieſes unter der
Würde eines geſcheuten Menſchen, das merkte ich an ſeiner Naſe.  Ich
lies mich aber in nichts ſtören, lies ihn ſehr vernünftige Sachen
abhandeln, und baute den Kindern ihre Kartenhäuſer wieder, die ſie
zerſchlagen hatten.  Auch gieng er darauf in der Stadt herum und
beklagte: des Amtmanns Kinder wären ſchon ungezogen genug, der Werther
verdürbe ſie nun völlig.

Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen ſind die Kinder am nächſten auf der
Erde.  Wenn ich ſo zuſehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller
Tugenden, aller Kräfte ſehe, die ſie einmal ſo nöthig brauchen werden,
wenn ich in dem Eigenſinne, alle die künftige Standhaftigkeit und
Feſtigkeit des Charakters, in dem Muthwillen, allen künftigen guten
Humor und die Leichtigkeit, über alle die Gefahren der Welt
hinzuſchlüpfen, erblikke, alles ſo unverdorben, ſo ganz!  Immer, immer
wiederhol ich die goldnen Worte des Lehrers der Menſchen: wenn ihr nicht
werdet wie eines von dieſen!  Und nun, mein Beſter, ſie, die unſers
gleichen ſind, die wir als unſere Muſter anſehen ſollten; behandeln wir
als Unterthanen.  Sie ſollen keinen Willen haben! - Haben wir denn
keinen?  und wo liegt das Vorrecht? - Weil wir älter ſind und
geſcheuter? - Guter Gott von deinem Himmel, alte Kinder ſiehſt du, und
junge Kinder und nichts weiter, und an welchen du mehr Freude haſt, das
hat dein Sohn ſchon lange verkündigt.  Aber ſie glauben an ihn und hören
ihn nicht, das iſt auch was alt's, und bilden ihre Kinder nach ſich und
- Adieu, Wilhelm, ich mag darüber nicht weiter radotiren.

am 1. Juli.

Was Lotte einem Kranken ſeyn muß, fühl ich an meinem eignen armen
Herzen, das übler dran iſt als manches, das auf dem Siechbette
verſchmachtet.  Sie wird einige Tage in der Stadt bey einer
rechtſchaffenen Frau zubringen, die ſich nach der Auſſage der Aerzte
ihrem Ende naht, und in dieſen lezten Augenblikken will ſie Lotten um
ſich haben.  Ich war vorige Woche mit ihr den Pfarrer von St.  .  .  zu
beſuchen, ein Oertgen, das eine Stunde ſeitwärts im Gebürge liegt.  Wir
kamen gegen viere dahin.  Lotte hatte ihre zweyte Schweſter mitgenommen.
Als wir in den, von zwey hohen Nußbäumen überſchatteten, Pfarrhof
traten, ſaß der gute alte Mann auf einer Bank vor der Hauſthüre, und da
er Lotten ſah, ward er wie neubelebt, vergaß ſeinen Knotenſtok und wagte
ſich auf ihr entgegen.  Sie lief hin zu ihm, nöthigte ihn, ſich
niederzuſezzen, indem ſie ſich zu ihm ſezte, brachte viel Grüſſe von
ihrem Vater, herzte ſeinen garſtigen ſchmuzigen jüngſten Buben, das
Quakelgen ſeines Alters.  Du hätteſt ſie ſehen ſollen, wie ſie den Alten
beſchäftigte, wie ſie ihre Stimme erhub um ſeinen halb tauben Ohren
vernehmlich zu werden, wie ſie ihm erzählte von jungen robuſten Leuten,
die unvermuthet geſtorben wären, von der Vortreflichkeit des Carlſbades,
und wie ſie ſeinen Entſchluß lobte, künftigen Sommer hinzugehen, und wie
ſie fand, daß er viel beſſer auſſähe, viel munterer ſey als das
leztemal, da ſie ihn geſehn.  Ich hatte indeß der Frau Pfarrern meine
Höflichkeiten gemacht, der Alte wurde ganz munter, und da ich nicht
umhin konnte, die ſchönen Nußbäume zu loben, die uns ſo lieblich
beſchatteten, fieng er an, uns, wiewohl mit einiger Beſchwerlichkeit,
die Geſchichte davon zu geben.  Den alten ſagte er, wiſſen wir nicht,
wer den gepflanzt hat, einige ſagen dieſer, andere jener Pfarrer.  Der
jüngere aber dorthinten iſt ſo alt als meine Frau, im Oktober funfzig
Jahre.  Ihr Vater pflanzte ihn des Morgens, als ſie gegen Abend gebohren
wurde.  Er war mein Vorfahr im Amte, und wie lieb ihm der Baum war, iſt
nicht zu ſagen, mir iſt er's gewiß nicht weniger, meine Frau ſas drunter
auf einem Balken und ſtrikte, als ich vor ſieben und zwanzig Jahren als
ein armer Student zum erſtenmal hier in Hof kam.  Lotte fragte nach
ſeiner Tochter, es hieß, ſie ſey mit Herrn Schmidt auf der Wieſe hinaus
zu den Arbeitern, und der Alte fuhr in ſeiner Erzählung fort, wie ſein
Vorfahr ihn lieb gewonnen und die Tochter dazu, und wie er erſt ſein
Vikar und dann ſein Nachfolger geworden.  Die Geſchichte war nicht lange
zu Ende, als die Jungfer Pfarrern mit dem ſogenannten Herrn Schmidt
durch den Garten herkam, ſie bewillkommte Lotten mit herzlicher Wärme,
und ich muß ſagen, ſie gefiel mir nicht übel, eine raſche, wohlgewachſne
Brünette, die einen die Kurzeit über auf dem Lande wohl unterhalten
hätte.  Ihr Liebhaber, denn als ſolchen ſtellte ſich Herr Schmidt gleich
dar, ein feiner, doch ſtiller Menſch, der ſich nicht in unſere Geſpräche
miſchen wollte, ob ihn gleich Lotte immer herein zog; und was mich am
meiſten betrübte, war, daß ich an ſeinen Geſichtſzügen zu bemerken
ſchien, es ſey mehr Eigenſinn und übler Humor als Eingeſchränktheit des
Verſtandes, der ihn ſich mitzutheilen hinderte.  In der Folge ward dieß
nur leider zu deutlich, denn als Friedrike beym Spazierengehn mit Lotten
und verſchiedentlich auch mit mir gieng, wurde des Herrn Angeſicht, das
ohne das einer bräunlichen Farbe war, ſo ſichtlich verdunkelt, daß es
Zeit war, daß Lotte mich beym Ermel zupfte, und mir das Artigthun mit
Friederiken abrieth.  Nun verdrießt mich nichts mehr als wenn die
Menſchen einander plagen, am meiſten, wenn junge Leute in der Blüthe des
Lebens, da ſie am offenſten für alle Freuden ſeyn könnten, einander die
paar guten Tage mit Frazzen verderben, und nur erſt zu ſpät das
unerſezliche ihrer Verſchwendung einſehen.  Mir wurmte das, und ich
konnte nicht umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof zurükkehrten und
an einem Tiſche gebroktes Brod in Milch aſſen, und der Diſkurs auf
Freude und Leid in der Welt roulirte, den Faden zu ergreifen, und recht
herzlich gegen die üble Laune zu reden.  Wir Menſchen beklagen uns oft,
fing ich an, daß der guten Tage ſo wenig ſind und der ſchlimmen ſo viel,
und wie mich dünkt, meiſt mit Unrecht.  Wenn wir immer ein offenes Herz
hätten das Gute zu genieſſen, das uns Gott für jeden Tag bereitet, wir
würden alſdenn auch Kraft genug haben, das Uebel zu tragen, wenn es
kommt. - Wir haben aber unſer Gemüth nicht in unſerer Gewalt, verſezte
die Pfarrern, wie viel hängt vom Körper ab!  wenn man nicht wohl iſt,
iſt's einem überall nicht recht. - Ich geſtund ihr das ein.  Wir
wollens alſo, fuhr ich fort, als eine Krankheit anſehen, und fragen ob
dafür kein Mittel iſt! - Das läßt ſich hören, ſagte Lotte, ich glaube
wenigſtens, daß viel von uns abhängt; ich weis es an mir, wenn mich
etwas nekt und mich verdrüßlich machen will, ſpring ich auf und ſing ein
paar Contretänze den Garten auf und ab, gleich iſt's weg. - Das war's
was ich ſagen wollte, verſezte ich, es iſt mit der üblen Laune völlig
wie mit der Trägheit, denn es iſt eine Art von Trägheit; unſere Natur
hängt ſehr dahin, und doch, wenn wir nur einmal die Kraft haben, uns zu
ermannen, geht uns die Arbeit friſch von der Hand, und wir finden in der
Thätigkeit ein wahres Vergnügen.  Friederike war ſehr aufmerkſam, und
der junge Menſch wandte mir ein, daß man nicht Herr über ſich ſelbſt
ſey, und am wenigſten über ſeine Empfindungen gebieten könne.  Es iſt
hier die Frage von einer unangenehmen Empfindung, verſezt ich, die doch
jedermann gern los iſt, und niemand weis wie weit ſeine Kräfte gehn, bis
er ſie verſucht hat.  Gewiß, einer, der krank iſt, wird bey allen
Aerzten herum fragen, und die größten Reſignationen, die bitterſten
Arzneyen, wird er nicht abweiſen um ſeine gewünſchte Geſundheit zu
erhalten.  Ich bemerkte, daß der ehrliche Alte ſein Gehör anſtrengte um
an unſerm Diſkurs Theil zu nehmen, ich erhub die Stimme, indem ich die
Rede gegen ihn wandte.  Man predigt gegen ſo viele Laſter, ſagt ich, ich
habe noch nie gehört daß man gegen die üble Laune vom Predigtſtuhle
gearbeitet hätte *) -


*)

Wir haben nun von Lavatern eine trefliche Predigt hierüber unter denen
über das Buch Jonas.


Das müßten die Stadtpfarrer thun, ſagt er, die Bauern haben keinen böſen
Humor, doch könnts auch nichts ſchaden zuweilen, es wäre eine Lektion
für ſeine Frau wenigſtens, und den Herrn Amtmann.  Die Geſellſchaft
lachte und er herzlich mit, bis er in einen Huſten verfiel, der unſern
Diſkurs eine Zeitlang unterbrach, darauf denn der junge Menſch wieder
das Wort nahm: Sie nannten den böſen Humor ein Laſter, mich deucht, das
iſt übertrieben. - Mit nichten gab ich zur Antwort, wenn das, womit man
ſich ſelbſt und ſeinen Nächſten ſchadet, den Namen verdient.  Iſt es
nicht genug, daß wir einander nicht glüklich machen können, müſſen wir
auch noch einander das Vergnügen rauben, das jedes Herz ſich noch
manchmal ſelbſt gewähren kann.  Und nennen ſie mir den Menſchen, der
übler Laune iſt und ſo brav dabey ſie zu verbergen, ſie allein zu
tragen, ohne die Freuden um ſich her zu zerſtören; oder iſt ſie nicht
vielmehr ein innerer Unmuth über unſre eigne Unwürdigkeit, ein Miſfallen
an uns ſelbſt, das immer mit einem Neide verknüpft iſt, der durch eine
thörige Eitelkeit aufgehezt wird: wir ſehen glükliche Menſchen, die wir
nicht glüklich machen, und das iſt unerträglich!  Lotte lächelte mich
an, da ſie die Bewegung ſah mit der ich redte, und eine Thräne in
Friederikens Auge ſpornte mich, fortzufahren.  Weh denen ſagt ich, die
ſich der Gewalt bedienen, die ſie über ein Herz haben, um ihm die
einfachen Freuden zu rauben, die aus ihm ſelbſt hervorkeimen.  Alle
Geſchenke, alle Gefälligkeiten der Welt erſezzen nicht einen Augenblik
Vergnügen an ſich ſelbſt, den uns eine neidiſche Unbehaglichkeit unſers
Tyrannen vergällt hat.

Mein ganzes Herz war voll in dieſem Augenblikke, die Erinnerung ſo
manches Vergangenen drängte ſich an meine Seele, und die Thränen kamen
mir in die Augen.

Wer ſich das nur täglich ſagte, rief ich aus: du vermagſt nichts auf
deine Freunde, als ihnen ihre Freude zu laſſen und ihr Glük zu
vermehren, indem du es mit ihnen genieſſeſt.  Vermagſt du, wenn ihre
innre Seele von einer ängſtigenden Leidenſchaft gequält, vom Kummer
zerrüttet iſt, ihnen einen Tropfen Linderung zu geben?

Und wenn die lezte bangſte Krankheit dann über das Geſchöpf herfällt,
das du in blühenden Tagen untergraben haſt, und ſie nun da liegt in dem
erbärmlichen Ermatten, und das Aug gefühllos gen Himmel ſieht, und der
Todeſſchweis auf ihrer Stirne abwechſelt, und du vor dem Bette ſtehſt
wie ein Verdammter, in dem innigſten Gefühl, daß du nichts vermagſt mit
all deinem Vermögen, und die Angſt dich inwendig krampft, daß du alles
hingeben möchteſt, um dem untergehenden Geſchöpf einen Tropfen Stärkung,
einen Funken Muth einflößen zu können.

Die Erinnerung einer ſolchen Scene, da ich gegenwärtig war, fiel mit
ganzer Gewalt bey dieſen Worten über mich.  Ich nahm das Schnupftuch vor
die Augen, und verlies die Geſellſchaft, und nur Lottens Stimme, die mir
rief: wir wollten fort, brachte mich zu mir ſelbſt.  Und wie ſie mich
auf dem Wege ſchalt, über den zu warmen Antheil an allem!  und daß ich
drüber zu Grunde gehen würde!  Daß ich mich ſchonen ſollte!  O der
Engel!  Um deinetwillen muß ich leben!

am 6. Juli.

Sie iſt immer um ihre ſterbende Freundinn, und iſt immer dieſelbe, immer
das gegenwärtige holde Geſchöpf, das, wo ſie hinſieht, Schmerzen lindert
und Glückliche macht.  Sie gieng geſtern Abend mit Mariannen und dem
kleinen Malgen ſpazieren, ich wußt es und traf ſie an, und wir giengen
zuſammen.  Nach einem Wege von anderthalb Stunden kamen wir gegen die
Stadt zurück, an den Brunnen, der mir ſo werth iſt, und nun tauſendmal
werther ward, als Lotte ſich auf's Mäuergen ſezte.  Ich ſah umher, ach!
und die Zeit, da mein Herz ſo allein war, lebte wieder vor mir auf.
Lieber Brunn, ſagt ich, ſeither hab ich nicht mehr an deiner Kühle
geruht, habe in eilendem Vorübergehn dich manchmal nicht angeſehn.  Ich
blikte hinab und ſah, daß Malgen mit einem Glaſe Waſſer ſehr beſchäftigt
heraufſtieg.  Ich ſahe Lotten an und fühlte alles, was ich an ihr habe.
Indem ſo kommt Malgen mit einem Glaſe, Marianne wollt es ihr abnehmen,
nein!  rufte das Kind mit dem ſüßten Auſdrukke: nein, Lottgen, du ſollſt
zuerſt trinken!  Ich ward über die Wahrheit, die Güte, womit ſie das
auſrief, ſo entzükt, daß ich meine Empfindung mit nichts auſdrukken
konnte, als ich nahm das Kind von der Erde und küßte es lebhaft, das
ſogleich zu ſchreien und zu weinen anfieng.  Sie haben übel gethan,
ſagte Lotte!  Ich war betroffen.  Komm Malgen, fuhr ſie fort, indem ſie
es an der Hand nahm und die Stufen hinabführte; da waſche dich aus der
friſchen Quelle geſchwind, geſchwind, da thut's nichts.  Wie ich ſo da
ſtund und zuſah, mit welcher Emſigkeit das Kleine mit ſeinen naſſen
Händgen die Bakken rieb, mit welchem Glauben, daß durch die Wunderquelle
alle Verunreinigung abgeſpült, und die Schmach abgethan würde, einen
häſlichen Bart zu kriegen.  Wie Lotte ſagte, es iſt genug, und das Kind
doch immer eifrig fort wuſch, als wenn Viel mehr thäte als Wenig.  Ich
ſage dir, Wilhelm, ich habe mit mehr Reſpekt nie einer Taufhandlung
beygewohnt, und als Lotte herauf kam, hätte ich mich gern vor ihr
niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden einer Nation
weggeweiht hat.

Des Abends konnt ich nicht umhin, in der Freude meines Herzens den
Vorfall einem Manne zu erzählen, dem ich Menſchenſinn zutraute, weil er
Verſtand hat.  Aber wie kam ich an.  Er ſagte, das wäre ſehr übel von
Lotten geweſen, man ſolle die Kinder nichts weis machen, dergleichen
gäbe zu unzählichen Irrthümern und Aberglauben Anlaß, man müßte die
Kinder frühzeitig davor bewahren.  Nun fiel mir ein, daß der Mann vor
acht Tagen hatte taufen laſſen, drum ließ ich's vorbey gehn und blieb in
meinem Herzen der Wahrheit getreu: wir ſollen es mit den Kindern machen,
wie Gott mit uns, der uns am glüklichſten macht, wenn er uns im
freundlichen Wahne ſo hintaumeln läßt.

am 8. Juli.

Was man ein Kind iſt!  Was man nach ſo einem Blikke geizt!  Was man ein
Kind iſt!  Wir waren nach Wahlheim gegangen, die Frauenzimmer fuhren
hinaus, und während unſrer Spaziergänge glaubt ich in Lottens ſchwarzen
Augen - Ich bin ein Thor, verzeih mir's, du ſollteſt ſie ſehn, dieſe
Augen.  Daß ich kurz bin, denn die Augen fallen mir zu vom Schlaf.
Siehe die Frauenzimmer ſtiegen ein, da ſtunden um die Kutſche der junge
W.  .  ., Selſtadt und Audran und ich.  Da ward aus dem Schlage
geplaudert mit den Kerlgens, die freylich leicht und lüftig genug waren.
Ich ſuchte Lottens Augen!  Ach ſie giengen von einem zum andern!  Aber
auf mich!  Mich!  Mich!  der ganz allein auf ſie reſignirt daſtund,
fielen ſie nicht!  Mein Herz ſagte ihr tauſend Adieu!  Und ſie ſah mich
nicht!  Die Kutſche fuhr vorbey und eine Thräne ſtund mir im Auge.  Ich
ſah ihr nach!  Und ſah Lottens Kopfputz ſich zum Schlag herauſlehnen,
und ſie wandte ſich um zu ſehn.  Ach!  Nach mir? - Lieber!  In dieſer
Ungewißheit ſchweb ich!  Das iſt mein Troſt.  Vielleicht hat ſie ſich
nach mir umgeſehen.  Vielleicht - Gute Nacht!  O was ich ein Kind bin!

am 10. Juli.

Die alberne Figur, die ich mache, wenn in Geſellſchaft von ihr
geſprochen wird, ſollteſt du ſehen.  Wenn man mich nun gar fragt, wie
ſie mir gefällt - Gefällt!  das Wort haß ich in Tod.  Was muß das für
ein Kerl ſeyn, dem Lotte gefällt, dem ſie nicht alle Sinnen, alle
Empfindungen auſfüllt.  Gefällt!  Neulich fragte mich einer, wie mir
Oſſian gefiele.

am 11. Juli.

Frau M.  .  iſt ſehr ſchlecht, ich bete für ihr Leben, weil ich mit
Lotten dulde.  Ich ſeh ſie ſelten bey einer Freundinn, und heut hat ſie
mir einen wunderbaren Vorfall erzählt.  Der alte M.  .  iſt ein geiziger
rangiger Hund, der ſeine Frau im Leben was rechts geplagt und
eingeſchränkt hat.  Doch hat ſich die Frau immer durchzuhelfen gewußt.
Vor wenig Tagen, als der Doktor ihr das Leben abgeſprochen hatte, ließ
ſie ihren Mann kommen, Lotte war im Zimmer, und redte ihn alſo an: Ich
muß dir eine Sache geſtehn, die nach meinem Tode Verwirrung und Verdruß
machen könnte.  Ich habe biſher die Hauſhaltung geführt, ſo ordentlich
und ſparſam als möglich, allein du wirſt mir verzeihen, daß ich dich
dieſe dreyßig Jahre her hintergangen habe.  Du beſtimmteſt im Anfange
unſerer Heyrath ein geringes für die Beſtreitung der Küche und anderer
häuſlichen Auſgaben.  Als unſere Hauſhaltung ſtärker wurde, unſer Gewerb
gröſſer, warſt du nicht zu bewegen, mein Wochengeld nach dem
Verhältniſſe zu vermehren, kurz du weißt, daß du in den Zeiten, da ſie
am gröſten war, verlangteſt, ich ſolle mit ſieben Gulden die Woche
auſkommen.  Die hab ich denn ohne Widerrede genommen und mir den
Ueberſchuß wöchentlich aus der Looſung geholt, da niemand vermuthete,
daß die Frau die Caſſe beſtehlen würde.  Ich habe nichts verſchwendet
und wäre auch, ohne es zu bekennen, getroſt der Ewigkeit entgegen
gegangen, wenn nicht diejenige, die nach mir das Weſen zu führen hat,
ſich nicht zu helfen wiſſen würde, und du doch immer drauf beſtehen
könnteſt, deine erſte Frau ſey damit auſgekommen.

Ich redete mit Lotten über die unglaubliche Verblendung des
Menſchenſinns, daß einer nicht argwohnen ſoll, dahinter müſſe was anders
ſtekken, wenn eins mit ſieben Gulden hinreicht, wo man den Aufwand
vielleicht um zweymal ſo viel ſieht.  Aber ich hab ſelbſt Leute gekannt,
die des Propheten ewiges Oelkrüglein ohne Verwunderung in ihrem Hauſe
ſtatuirt hätten.

am 13. Juli.

Nein, ich betrüge mich nicht!  Ich leſe in ihren ſchwarzen Augen wahre
Theilnehmung an mir, und meinem Schickſaale.  Ja ich fühle, und darin
darf ich meinem Herzen trauen, daß ſie - O darf ich, kann ich den Himmel
in dieſen Worten ausſprechen? - daß ſie mich liebt.

Und ob das Vermeſſenheit iſt oder Gefühl des wahren Verhältniſſes: ich
kenne den Menſchen nicht, von dem ich etwas in Lottens Herzen fürchtete.
Und doch - wenn ſie von ihrem Bräutigam ſpricht mit all der Wärme, all
der Liebe, da iſt mir's wie einem, der all ſeiner Ehren und Würden
entſezt, und dem der Degen abgenommen wird.

am 16. Juli.

Ach, wie mir das durch alle Adern läuft, wenn mein Finger unverſehns den
ihrigen berührt, wenn unſere Füſſe ſich unter dem Tiſche begegnen.  Ich
ziehe zurück wie vom Feuer, und eine geheime Kraft zieht mich wieder
vorwärts, mir wirds ſo ſchwindlig vor allen Sinnen.  O und ihre
Unſchuld, ihre unbefangene Seele fühlt nicht, wie ſehr mich die kleinen
Vertraulichkeiten peinigen.  Wenn ſie gar im Geſpräch ihre Hand auf die
meinige legt, und im Intereſſe der Unterredung näher zu mir rückt, daß
der himmliſche Athem ihres Mundes meine Lippen reichen kann. - Ich
glaube zu verſinken, wie vom Wetter gerührt.  Und Wilhelm, wenn ich mich
jemals unterſtehe, dieſen Himmel, dieſes Vertrauen - Du verſtehſt mich.
Nein, mein Herz iſt ſo verderbt nicht!  Schwach!  ſchwach genug!  Und
iſt das nicht Verderben?

Sie iſt mir heilig.  Alle Begier ſchweigt in ihrer Gegenwart.  Ich weis
nimmer, wie mir iſt, wenn ich bey ihr bin, es iſt als wenn die Seele
ſich mir in allen Nerven umkehrte.  Sie hat eine Melodie, die ſie auf
dem Clavier ſpielt mit der Kraft eines Engels, ſo ſimpel und ſo
geiſtvoll, es iſt ihr Leiblied, und mich ſtellt es von aller Pein,
Verwirrung und Grillen her, wenn ſie nur die erſte Note davon greift.

Kein Wort von der Zauberkraft der alten Muſik iſt mir unwahrſcheinlich,
wie mich der einfache Geſang angreift.  Und wie ſie ihn anzubringen
weis, oft zur Zeit, wo ich mir eine Kugel vor'n Kopf ſchieſſen möchte.
Und all die Irrung und Finſterniß meiner Seele zerſtreut ſich, und ich
athme wieder freyer.

am 18ten Juli.

Wilhelm, was iſt unſerm Herzen die Welt ohne Liebe!  Was eine
Zauberlaterne iſt, ohne Licht!  Kaum bringſt Du das Lämpgen hinein, ſo
ſcheinen Dir die bunteſten Bilder an deine weiße Wand!  Und wenn's
nichts wäre als das, als vorübergehende Phantomen, ſo machts doch immer
unſer Glük, wenn wir wie friſche Bubens davor ſtehen und uns über die
Wundererſcheinungen entzükken.  Heut konnt ich nicht zu Lotten, eine
unvermeidliche Geſellſchaft hielt mich ab.  Was war zu thun.  Ich
ſchikte meinen Buben hinaus, nur um einen Menſchen um mich zu haben, der
ihr heute nahe gekommen wäre.  Mit welcher Ungedult ich den Buben
erwartete, mit welcher Freude ich ihn wieder ſah.  Ich hätt' ihn gern
bey'm Kopf genommen und geküßt, wenn ich mich nicht geſchämt hätte.

Man erzählt von dem Bononiſchen Stein, daß er, wenn man ihn in die Sonne
legt, ihre Strahlen anzieht und eine Weile bey Nacht leuchtet.  So war
mir's mit dem Jungen.  Das Gefühl, daß ihre Augen auf ſeinem Geſicht',
ſeinen Bakken, ſeinen Rokknöpfen und dem Kragen am Sürtout geruht
hatten, machte mir das all ſo heilig, ſo werth, ich hätte in dem
Augenblikke den Jungen nicht vor tauſend Thaler gegeben.  Es war mir ſo
wohl in ſeiner Gegenwart - Bewahre dich Gott, daß du darüber nicht
lachſt.  Wilhelm, ſind das Phantomen, wenn es uns wohl wird?

den 19.  Juli.

Ich werde ſie ſehen: ruf ich Morgens aus, wenn ich mich ermuntere, und
mit aller Heiterkeit der ſchönen Sonne entgegen blikke.  Ich werde ſie
ſehen!  Und da habe ich für den ganzen Tag keinen Wunſch weiter.  Alles,
alles verſchlingt ſich in dieſer Auſſicht.

den 20.  Juli.

Eure Idee will noch nicht die meinige werden, daß ich mit dem Geſandten
nach *** gehen ſoll.  Ich liebe die Subordination nicht ſehr, und wir
wiſſen alle, daß der Mann noch dazu ein widriger Menſch iſt.  Meine
Mutter möchte mich gern in Aktivität haben, ſagſt du, das hat mich zu
lachen gemacht, bin ich jezt nicht auch aktiv?  und iſt's im Grund nicht
einerley: ob ich Erbſen zähle oder Linſen?  Alles in der Welt läuft doch
auf eine Lumperey hinaus, und ein Kerl, der um anderer willen, ohne daß
es ſeine eigene Leidenſchaft iſt, ſich um Geld, oder Ehre, oder ſonſt
was, abarbeitet, iſt immer ein Thor.

am 24. Juli.

Da Dir ſo viel daran gelegen iſt, daß ich mein Zeichnen nicht
vernachläſſige, möcht ich lieber die ganze Sache übergehn, als Dir
ſagen: daß zeither wenig gethan wird.

Noch nie war ich glüklicher, noch nie meine Empfindung an der Natur, bis
auf's Steingen, auf's Gräſgen herunter, voller und inniger, und doch -
ich weis nicht, wie ich mich auſdrükken ſoll, meine vorſtellende Kraft
iſt ſo ſchwach, alles ſchwimmt, ſchwankt vor meiner Seele, daß ich
keinen Umriß pakken kann; aber ich bilde mir ein, wenn ich Thon hätte
oder Wachs, ſo wollt ich's wohl herauſbilden, ich werde auch Thon nehmen
wenn's länger währt, und kneten, und ſollten's Kuchen werden.


Lottens Porträt habe ich dreymal angefangen, und habe mich dreymal
proſtituirt, das mich um ſo mehr verdrieſt, weil ich vor einiger Zeit
ſehr glüklich im Treffen war, darauf hab ich denn ihren Schattenriß
gemacht, und damit ſoll mir genügen.

am 26. Juli.

Ich habe mir ſchon ſo manchmal vorgenommen, ſie nicht ſo oft zu ſehn.
Ja wer das halten könnte!  Alle Tage unterlieg ich der Verſuchung, und
verſpreche mir heilig: Morgen willſt du einmal wegbleiben, und wenn der
Morgen kommt, find ich doch wieder eine unwiderſtehliche Urſache, und eh
ich mich's verſehe, bin ich bey ihr.  Entweder ſie hat des Abends
geſagt: Sie kommen doch Morgen? - Wer könnte da wegbleiben?  Oder der
Tag iſt gar zu ſchön, ich gehe nach Wahlheim, und wenn ich ſo da bin -
iſt's nur noch eine halbe Stunde zu ihr!  Ich bin zu nah in der
Atmoſphäre, Zuk!  ſo bin ich dort.  Meine Großmutter hatte ein Märgen
vom Magnetenberg.  Die Schiffe, die zu nahe kamen, wurden auf einmal
alles Eiſenwerks beraubt, die Nägel flogen dem Berge zu, und die armen
Elenden ſcheiterten zwiſchen den übereinanderſtürzenden Brettern.

am 30. Juli.

Albert iſt angekommen, und ich werde gehen, und wenn er der beſte, der
edelſte Menſch wäre, unter den ich mich in allem Betracht zu ſtellen
bereit wäre, ſo wär's unerträglich, ihn vor meinem Angeſichte im Beſizze
ſo vieler Vollkommenheiten zu ſehen.  Beſiz! - Genug, Wilhelm, der
Bräutigam iſt da.  Ein braver lieber Kerl, dem man gut ſeyn muß.
Glüklicher weiſe war ich nicht bey'm Empfange!  Das hätte mir das Herz
zerriſſen.  Auch iſt er ſo ehrlich und hat Lotten in meiner Gegenwart
noch nicht einmal geküßt.  Das lohn ihm Gott!  Um des Reſpekts willen,
den er vor dem Mädgen hat, muß ich ihn lieben.  Er will mir wohl, und
ich vermuthe, das iſt Lottens Werk, mehr als ſeiner eigenen Empfindung,
denn darinn ſind die Weiber fein und haben recht.  Wenn ſie zwey Kerls
in gutem Vernehmen mit einander halten können, iſt der Vortheil immer
ihre, ſo ſelten es auch angeht.

Indeß kann ich Alberten meine Achtung nicht verſagen, ſeine gelaſſne
Auſſenſeite ſticht gegen die Unruhe meines Charakters ſehr lebhaft ab,
die ſich nicht verbergen läßt, er hat viel Gefühl und weis, was er an
Lotten hat.  Er ſcheint wenig üble Laune zu haben, und du weiſt, das iſt
die Sünde, die ich ärger haſſe am Menſchen als alle andre.

Er hält mich für einen Menſchen von Sinn, und meine Anhänglichkeit an
Lotten, meine warme Freude, die ich an all ihren Handlungen habe
vermehrt ſeinen Triumph, und er liebt ſie nur deſto mehr.  Ob er ſie
nicht manchmal heimlich mit kleiner Eiferſüchteley peinigt, das laß ich
dahin geſtellt ſeyn, wenigſtens an ſeinem Plazze würde ich nicht ganz
ſicher vor dem Teufel bleiben.

Dem ſey nun, wie ihm wolle, meine Freude, bey Lotten zu ſeyn, iſt hin!
Soll ich das Thorheit nennen oder Verblendung? - Was braucht's Nahmen!
Erzählt die Sache an ſich! - Ich wuſte alles, was ich jezt weis, eh
Albert kam, ich wuſte, daß ich keine Prätenſionen auf ſie zu machen
hatte, machte auch keine - Heiſt das, inſofern es möglich iſt, bey ſo
viel Liebenſwürdigkeiten nicht zu begehren - Und jezt macht der Frazze
groſſe Augen, da der andere nun wirklich kommt, und ihm das Mädgen
wegnimmt.

Ich beiſſe die Zähne auf einander und ſpotte über mein Elend, und
ſpottete derer doppelt und dreyfach, die ſagen könnten, ich ſollte mich
reſigniren, und weil's nun einmal nicht anders ſeyn könnte. - Schafft
mir die Kerls vom Hals! - Ich laufe in den Wäldern herum, und wenn ich
zu Lotten komme, und Albert ſo bey ihr ſizt im Gärtgen unter der Laube,
und ich nicht weiter kann, ſo bin ich auſgelaſſen närriſch, und fange
viel Poſſen, viel verwirrtes Zeug an.  Um Gottes willen, ſagte mir Lotte
heute, ich bitte Sie!  keine Scene wie die von geſtern Abend!  ſie ſind
fürchterlich, wenn ſie ſo luſtig ſind.  Unter uns, ich paſſe die Zeit
ab, wenn er zu thun hat, wutſch!  bin ich draus, und da iſt mir's immer
wohl, wenn ich ſie allein finde.

am 8. Aug.

Ich bitte dich, lieber Wilhelm!  Es war gewiß nicht auf dich geredt,
wenn ich ſchrieb: ſchafft mir die Kerls vom Hals, die ſagen, ich ſollte
mich reſigniren.  Ich dachte warlich nicht dran, daß du von ähnlicher
Meinung ſeyn könnteſt.  Und im Grunde haſt du recht!  Nur eins, mein
Beſter, in der Welt iſt's ſehr ſelten mit dem Entweder Oder gethan, es
giebt ſo viel Schattirungen der Empfindungen und Handlungſweiſen, als
Abfälle zwiſchen einer Habichtſ- und Stumpfnaſe.

Du wirſt mir alſo nicht übel nehmen, wenn ich dir dein ganzes Argument
einräume, und mich doch zwiſchen dem Entweder Oder durchzuſtehlen ſuche.

Entweder ſagſt du, haſt du Hofnung auf Lotten, oder du haſt keine.  Gut!
Im erſten Falle ſuch ſie durchzutreiben, ſuche die Erfüllung deiner
Wünſche zu umfaſſen, im andern Falle ermanne dich und ſuche einer
elenden Empfindung los zu werden, die all deine Kräfte verzehren muß.
Beſter, das iſt wohl geſagt und - bald geſagt.

Und kannſt du von dem Unglüklichen, deſſen Leben unter einer
ſchleichenden Krankheit unaufhaltſam allmählich abſtirbt, kannſt du von
ihm verlangen, er ſolle durch einen Dolchſtos der Quaal auf einmal ein
Ende machen?  Und raubt das Uebel, das ihm die Kräfte wegzehrt, ihm
nicht auch zugleich den Muth, ſich davon zu befreyen?

Zwar könnteſt du mir mit einem verwandten Gleichniſſe antworten: Wer
lieſſe ſich nicht lieber den Arm abnehmen, als daß er durch Zaudern und
Zagen ſein Leben auf's Spiel ſezte - Ich weis nicht - und wir wollen uns
nicht in Gleichniſſen herumbeiſſen.  Genug - Ja, Wilhelm, ich habe
manchmal ſo einen Augenblik aufſpringenden, abſchüttelnden Muths, und
da, wenn ich nur wüſte wohin, ich gienge wohl.

am 10. Aug.

Ich könnte das beſte glüklichſte Leben führen, wenn ich nicht ein Thor
wäre.  So ſchöne Umſtände vereinigen ſich nicht leicht zuſammen, eines
Menſchen Herz zu ergözzen, als die ſind, in denen ich mich jezt befinde.
Ach ſo gewiß iſt's, daß unſer Herz allein ſein Glük macht!  Ein Glied
der liebenſwürdigen Familie auſzumachen, von dem Alten geliebt zu werden
wie ein Sohn, von den Kleinen wie ein Vater und von Lotten - und nun der
ehrliche Albert, der durch keine launiſche Unart mein Glük ſtört, der
mich mit herzlicher Freundſchaft umfaßt, dem ich nach Lotten das liebſte
auf der Welt bin - Wilhelm, es iſt eine Freude, uns zu hören, wenn wir
ſpazieren gehn und uns einander von Lotten unterhalten, es iſt in der
Welt nichts lächerlichers erfunden worden als dieſes Verhältniß, und
doch kommen mir drüber die Thränen oft in die Augen.

Wenn er mir ſo von ihrer rechtſchaffenen Mutter erzählt, wie die auf
ihrem Todbette Lotten ihr Hauß und ihre Kinder übergeben und ihm Lotten
anbefohlen habe, wie ſeit der Zeit ein ganz anderer Geiſt Lotten belebt,
wie ſie in Sorge für ihre Wirthſchaft und im Ernſte eine wahre Mutter
geworden, wie kein Augenblik ihrer Zeit ohne thätige Liebe, ohne Arbeit
verſtrichen, und wie dennoch all ihre Munterkeit, all ihr Leichtſinn ſie
nicht verlaſſen habe.  Ich gehe ſo neben ihm hin und pflükke Blumen am
Wege, füge ſie ſehr ſorgfältig in einen Straus und - werfe ſie in den
vorüberflieſſenden Strohm, und ſehe ihnen nach, wie ſie leiſe
hinunterwallen.  Ich weis nicht, ob ich dir geſchrieben habe, daß Albert
hier bleiben, und ein Amt mit einem artigen Auſkommen vom Hofe erhalten
wird, wo er ſehr beliebt iſt.  In Ordnung und Emſigkeit in Geſchäften
hab ich wenig ſeines gleichen geſehen.

am 12. Aug.

Gewiß, Albert iſt der beſte Menſch unter dem Himmel, ich habe geſtern
eine wunderbare Scene mit ihm gehabt.  Ich kam zu ihm, um Abſchied zu
nehmen, denn mich wandelte die Luſt an, in's Gebürg zu reiten, von daher
ich dir auch jezt ſchreibe, und wie ich in der Stube auf und ab gehe,
fallen mir ſeine Piſtolen in die Augen.  Borg mir die Piſtolen, ſagt
ich, zu meiner Reiſe.  Meinetwegen, ſagt er, wenn du dir die Mühe geben
willſt, ſie zu laden, bey mir hängen ſie nur pro forma.  Ich nahm eine
herunter, und er fuhr fort: Seit mir meine Vorſicht einen ſo unartigen
Streich geſpielt hat, mag ich mit dem Zeuge nichts mehr zu thun haben.
Ich war neugierig, die Geſchichte zu wiſſen.  Ich hielte mich, erzählte
er, wohl ein Vierteljahr auf dem Lande bey einem Freunde auf, hatte ein
Paar Terzerolen ohngeladen und ſchlief ruhig.  Einmal an einem regnigten
Nachmittage, da ich ſo müßig ſizze, weis ich nicht wie mir einfällt: wir
könnten überfallen werden, wir könnten die Terzerols nöthig haben, und
könnten - du weiſt ja, wie das iſt.  Ich gab ſie dem Bedienten, ſie zu
puzzen, und zu laden, und der dahlt, mit den Mädgen, will ſie
erſchrökken, und Gott weis wie, das Gewehr geht los, da der Ladſtok noch
drinn ſteckt, und ſchießt den Ladſtok einem Mädgen zur Maus herein, an
der rechten Hand, und zerſchlägt ihr den Daumen.  Da hatt' ich das
Lamentiren und den Barbierer zu bezahlen oben drein, und ſeit der Zeit
laß ich all das Gewehr ungeladen.  Lieber Schaz, was iſt Vorſicht!  die
Gefahr läßt ſich nicht auſlernen!  Zwar - Nun weiſt du, daß ich den
Menſchen ſehr liebhabe bis auf ſeine Zwar.  Denn verſteht ſich's nicht
von ſelbſt, daß jeder allgemeine Saz Auſnahmen leidet.  Aber ſo
rechtfertig iſt der Menſch, wenn er glaubt, etwas übereiltes,
allgemeines, halbwahres geſagt zu haben; ſo hört er dir nicht auf zu
limitiren, modificiren, und ab und zu zu thun, bis zulezt gar nichts
mehr an der Sache iſt.  Und bey dieſem Anlaſſe kam er ſehr tief in Text,
und ich hörte endlich gar nicht weiter auf ihn, verfiel in Grillen, und
mit einer auffahrenden Gebärde drukt ich mir die Mündung der Piſtolen
übers rechte Aug an die Stirn.  Pfuy ſagte Albert, indem er mir die
Piſtole herabzog, was ſoll das! - Sie iſt nicht geladen, ſagt ich.  Und
auch ſo!  Was ſoll's?  verſezt er ungedultig.  Ich kann mir nicht
vorſtellen, wie ein Menſch ſo thörigt ſeyn kann, ſich zu erſchieſſen;
der bloße Gedanke erregt mir Widerwillen.

Daß ihr Menſchen, rief ich aus, um von einer Sache zu reden, gleich
ſprechen müßt: Das iſt thörig, das iſt klug, das iſt gut, das iſt bös!
Und was will das all heiſſen?  Habt ihr deßwegen die innern Verhältniſſe
einer Handlung erforſcht?  Wißt ihr mit Beſtimmtheit die Urſachen zu
entwikkeln, warum ſie geſchah, warum ſie geſchehen mußte?  Hättet ihr
das, ihr würdet nicht ſo eilfertig mit euren Urtheilen ſeyn.

Du wirſt mir zugeben, ſagte Albert, daß gewiſſe Handlungen laſterhaft
bleiben, ſie mögen aus einem Beweggrunde geſchehen, aus welchem ſie
wollen.

Ich zukte die Achſeln und gabs ihm zu.  Doch, mein Lieber, fuhr ich
fort, finden ſich auch hier einige Auſnahmen.  Es iſt wahr, der
Diebſtahl iſt ein Laſter; aber der Menſch, der, um ſich und die Seinigen
vom ſchmäligen Hungertode zu erretten, auf Raub auſgeht, verdient der
Mitleiden oder Strafe?  Wer hebt den erſten Stein auf gegen den Ehemann,
der im gerechten Zorne ſein untreues Weib und ihren nichtſwürdigen
Verführer aufopfert?  Gegen das Mädgen, das in einer wonnevollen Stunde,
ſich in den unaufhaltſamen Freuden der Liebe verliert?  Unſere Geſetze
ſelbſt, dieſe kaltblütigen Pedanten, laſſen ſich rühren, und halten ihre
Strafe zurük.

Das iſt ganz was anders, verſezte Albert, weil ein Menſch, den ſeine
Leidenſchaften hinreiſſen, alle Beſinnungſkraft verliert und als ein
Trunkener, als ein Wahnſinniger angeſehen wird. - Ach ihr vernünftigen
Leute!  rief ich lächelnd aus.  Leidenſchaft!  Trunkenheit!  Wahnſinn!
Ihr ſteht ſo gelaſſen, ſo ohne Theilnehmung da, ihr ſittlichen Menſchen,
ſcheltet den Trinker, verabſcheuet den Unſinnigen, geht vorbey wie der
Prieſter, und dankt Gott wie der Phariſäer, daß er euch nicht gemacht
hat, wie einen von dieſen.  Ich bin mehr als einmal trunken geweſen, und
meine Leidenſchaften waren nie weit vom Wahnſinne, und beydes reut mich
nicht, denn ich habe in meinem Maaſſe begreifen lernen: Wie man alle
auſſerordentliche Menſchen, die etwas groſſes, etwas unmöglich
ſcheinendes würkten, von jeher für Trunkene und Wahnſinnige auſſchreien
müßte.


Aber auch im gemeinen Leben iſts unerträglich, einem Kerl bey halbweg
einer freyen, edlen, unerwarteten That nachrufen zu hören: Der Menſch
iſt trunken, der iſt närriſch.  Schämt euch, ihr Nüchternen!  Schämt
euch, ihr Weiſen.  Das ſind nun wieder von deinen Grillen, ſagte Albert.
Du überſpannſt alles, und haſt wenigſtens hier gewiß unrecht, daß du den
Selbſtmord, wovon wir jetzo reden, mit groſſen Handlungen vergleichſt,
da man es doch für nichts anders als eine Schwäche halten kann, denn
freylich iſt es leichter zu ſterben, als ein qualvolles Leben ſtandhaft
zu ertragen.

Ich war im Begriffe abzubrechen, denn kein Argument in der Welt bringt
mich ſo aus der Faſſung, als wenn einer mit einem unbedeutenden
Gemeinſpruche angezogen kommt, da ich aus ganzem Herzen rede.  Doch faßt
ich mich, weil ich's ſchon öfter gehört und mich öfter darüber geärgert
hatte, und verſezte ihm mit einiger Lebhaftigkeit: Du nennſt das
Schwäche!  ich bitte dich, laß dich vom Anſcheine nicht verführen.  Ein
Volk, das unter dem unerträglichen Joche eines Tyrannen ſeufzt, darfſt
du das ſchwach heiſſen, wenn es endlich aufgährt und ſeine Ketten
zerreißt?  Ein Menſch, der über dem Schrekken, daß Feuer ſein Haus
ergriffen hat, alle Kräfte zuſammen geſpannt fühlt, und mit Leichtigkeit
Laſten wegträgt, die er bey ruhigem Sinne kaum bewegen kann; einer, der
in der Wuth der Beleidigung es mit Sechſen aufnimmt, und ſie
überwältigt, ſind dir ſchwach zu nennen?  Und, mein Guter, wenn
Anſtrengung Stärke iſt, warum ſoll die Ueberſpannung das Gegentheil
ſeyn?  Albert ſah mich an und ſagte: nimm mirs nicht übel, die Beyſpiele
die du da giebſt, ſcheinen hierher gar nicht zu gehören.  Es mag ſeyn,
ſagt ich, man hat mir ſchon öfter vorgeworfen, daß meine Combinationſart
manchmal an's Radotage gränze!  Laßt uns denn ſehen, ob wir auf eine
andere Weiſe uns vorſtellen können, wie es dem Menſchen zu Muthe ſeyn
mag, der ſich entſchließt, die ſonſt ſo angenehme Bürde des Lebens
abzuwerfen, denn nur in ſo fern wir mit empfinden, haben wir Ehre von
einer Sache zu reden.

Die menſchliche Natur, fuhr ich fort, hat ihre Gränzen, ſie kann Freude,
Leid, Schmerzen, bis auf einen gewiſſen Grad ertragen, und geht zu
Grunde, ſobald der überſtiegen iſt.


Hier iſt alſo nicht die Frage, ob einer ſchwach oder ſtark iſt, ſondern
ob er das Maas ſeines Leidens auſdauren kann; es mag nun moraliſch oder
phyſikaliſch ſeyn, und ich finde es eben ſo wunderbar zu ſagen, der
Menſch iſt feig, der ſich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den
einen Feigen zu nennen, der an einem böſartigen Fieber ſtirbt.

Paradox!  ſehr paradox!  rief Albert aus. - Nicht ſo ſehr, als du
denkſt, verſezt ich.  Du giebſt mir zu wir nennen das eine Krankheit zum
Todte, wodurch die Natur ſo angegriffen wird, daß theils ihre Kräfte
verzehrt, theils ſo außer Würkung geſezt werden, daß ſie ſich nicht
wieder aufzuhelfen, durch keine glükliche Revolution, den gewöhnlichen
Umlauf des Lebens wieder herzuſtellen fähig iſt.

Nun, mein Lieber, laß uns das auf den Geiſt anwenden.  Sieh den Menſchen
an in ſeiner Eingeſchränktheit, wie Eindrükke auf ihn würken, Ideen ſich
bey ihm feſt ſezzen, bis endlich eine wachſende Leidenſchaft ihn aller
ruhigen Sinneſkraft beraubt, und ihn zu Grunde richtet.

Vergebens, daß der gelaßne vernünftige Menſch den Zuſtand des
Unglüklichen überſieht, vergebens, daß er ihm zuredet, eben als wie ein
Geſunder, der am Bette des Kranken ſteht, ihm von ſeinen Kräften nicht
das geringſte einflößen kann.

Alberten war das zu allgemein geſprochen, ich erinnerte ihn an ein
Mädgen, das man vor weniger Zeit im Waſſer todt gefunden, und wiederholt
ihm ihre Geſchichte.  Ein gutes junges Geſchöpf, das in dem engen Kreiſe
häuſlicher Beſchäftigungen, wöchentlicher beſtimmter Arbeit ſo
herangewachſen war, das weiter keine Auſſicht von Vergnügen kannte, als
etwa Sonntags in einem nach und nach zuſammengeſchafften Puzze mit ihres
gleichen um die Stadt ſpazieren zu gehen, vielleicht alle hohe Feſte
einmal zu tanzen, und übrigens mit aller Lebhaftigkeit des herzlichſten
Antheils manche Stunde über den Anlas eines Gezänkes, einer übeln
Nachrede, mit einer Nachbarin zu verplaudern; deren feurige Natur fühlt
nun endlich innigere Bedürfniſſe, die durch die Schmeicheleyen der
Männer vermehrt werden, all ihre vorige Freuden werden ihr nach und nach
unſchmakhaft, bis ſie endlich einen Menſchen antrifft, zu dem ein
unbekanntes Gefühl ſie unwiderſtehlich hinreißt, auf den ſie nun all
ihre Hofnungen wirft, die Welt rings um ſich vergißt, nichts hört,
nichts ſieht, nichts fühlt als ihn, den Einzigen, ſich nur ſehnt nach
ihm, dem Einzigen.  Durch die leere Vergnügen einer unbeſtändigen
Eitelkeit nicht verdorben, zieht ihr Verlangen grad nach dem Zwecke: ſie
will die Seinige werden, ſie will in ewiger Verbindung all das Glück
antreffen, das ihr mangelt, die Vereinigung aller Freuden genieſſen,
nach denen ſie ſich ſehnte.  Wiederholtes Verſprechen, das ihr die
Gewißheit aller Hofnungen verſiegelt, kühne Liebkoſungen, die ihre
Begierden vermehren, umfangen ganz ihre Seele, ſie ſchwebt in einem
dumpfen Bewußtſeyn, in einem Vorgefühl aller Freuden, ſie iſt bis auf
den höchſten Grad geſpannt, wo ſie endlich ihre Arme auſſtrekt, all ihre
Wünſche zu umfaſſen - und ihr Geliebter verläßt Sie. - Erſtarrt; ohne
Sinne ſteht ſie vor einem Abgrunde, und alles iſt Finſterniß um ſie her,
keine Auſſicht, kein Troſt, keine Ahndung, denn der hat ſie verlaſſen,
in dem ſie allein ihr Daſeyn fühlte.  Sie ſieht nicht die weite Welt,
die vor ihr liegt, nicht die Vielen, die ihr den Verluſt erſezzen
könnten, ſie fühlt ſich allein, verlaſſen von aller Welt, - und blind,
in die Enge gepreßt von der entſezlichen Noth ihres Herzens ſtürzt ſie
ſich hinunter, um in einem rings umfangenden Tode all ihre Quaalen zu
erſtikken. - Sieh, Albert, das iſt die Geſchichte ſo manches Menſchen,
und ſag, iſt das nicht der Fall der Krankheit?  Die Natur findet keinen
Auſweg aus dem Labyrinthe der verworrenen und widerſprechenden Kräfte,
und der Menſch muß ſterben.

Wehe dem, der zuſehen und ſagen könnte: Die Thörinn!  hätte ſie
gewartet, hätte ſie die Zeit würken laſſen, es würde ſich die
Verzweiflung ſchon gelegt, es würde ſich ein anderer ſie zu tröſten
ſchon vorgefunden haben

Das iſt eben, als wenn einer ſagte: Der Thor!  ſtirbt am Fieber!  hätte
er gewartet, bis ſich ſeine Kräfte erhohlt, ſeine Säfte verbeſſert, der
Tumult ſeines Blutes gelegt hätten, alles wäre gut gegangen, und er
lebte bis auf den heutigen Tag!

Albert, dem die Vergleichung noch nicht anſchaulich war, wandte noch
einiges ein, und unter andern: ich habe nur von einem einfältigen Mädgen
geſprochen, wie denn aber ein Menſch von Verſtande, der nicht ſo
eingeſchränkt ſey, der mehr Verhältniſſe überſähe, zu entſchuldigen ſeyn
möchte, könne er nicht begreifen.  Mein Freund, rief ich aus, der Menſch
iſt Menſch, und das Bißgen Verſtand, das einer haben mag, kommt wenig
oder nicht in Anſchlag, wenn Leidenſchaft wüthet, und die Gränzen der
Menſchheit einen drängen.  Vielmehr - ein andermal, davon ſagt ich, und
grif nach meinem Hute.  O mir war das Herz ſo voll - Und wir giengen
auſeinander, ohne einander verſtanden zu haben.  Wie denn auf dieſer
Welt keiner leicht den andern verſteht.

am 15. Aug.

Es iſt doch gewiß, daß in der Welt den Menſchen nichts nothwendig macht
als die Liebe.  Ich fühl's an Lotten, daß ſie mich ungern verlöhre, und
die Kinder haben keine andre Idee, als daß ich immer morgen wiederkommen
würde.  Heut war ich hinauſgegangen, Lottens Clavier zu ſtimmen, ich
konnte aber nicht dazu kommen, denn die Kleinen verfolgten mich um ein
Mährgen, und Lotte ſagte denn ſelbſt, ich ſollte ihnen den Willen thun.
Ich ſchnitt ihnen das Abendbrod, das ſie nun faſt ſo gerne von mir als
von Lotten annehmen, und erzählte ihnen das Hauptſtückgen von der
Prinzeßinn, die von Händen bedient wird.  Ich lerne viel dabey, das
verſichr' ich dich, und ich bin erſtaunt, was es auf ſie für Eindrükke
macht.  Weil ich manchmal einen Inzidenzpunkt erfinden muß, den ich
bey'm zweyten Mal vergeſſe, ſagen ſie gleich, das vorigemal wär's anders
geweſt, ſo daß ich mich jezt übe, ſie unveränderlich in einem ſingenden
Sylbenfall an einem Schnürgen weg zu rezitiren.  Ich habe daraus gelernt
wie ein Autor, durch eine zweyte veränderte Auflage ſeiner Geſchichte,
und wenn ſie noch ſo poetiſch beſſer geworden wäre, nothwendig ſeinem
Buche ſchaden muß.  Der erſte Eindruk findet uns willig, und der Menſch
iſt ſo gemacht, daß man ihm das abenteuerlichſte überreden kann, das
haftet aber auch gleich ſo feſt, und wehe dem, der es wieder auſkrazzen
und auſtilgen will.

am 18. Aug.

Mußte denn das ſo ſeyn?  daß das, was des Menſchen Glükſeligkeit macht,
wieder die Quelle ſeines Elends würde.

Das volle warme Gefühl meines Herzens an der lebendigen Natur, das mich
mit ſo viel Wonne überſtrömte, das rings umher die Welt mir zu einem
Paradieſe ſchuf, wird mir jezt zu einem unerträglichen Peiniger, zu
einem quälenden Geiſte, der mich auf allen Wegen verfolgt.  Wenn ich
ſonſt vom Fels über den Fluß bis zu jenen Hügeln das fruchtbare Thal
überſchaute, und alles um mich her keimen und quellen ſah, wenn ich jene
Berge, vom Fuße bis auf zum Gipfel, mit hohen dichten Bäumen bekleidet,
all jene Thäler in ihren mannichfaltigen Krümmungen von den lieblichſten
Wäldern beſchattet ſah, und der ſanfte Fluß zwiſchen den liſpelnden
Rohren dahin gleitete, und die lieben Wolken abſpiegelte, die der ſanfte
Abendwind am Himmel herüber wiegte, wenn ich denn die Vögel um mich den
Wald beleben hörte, und die Millionen Mükkenſchwärme im lezten rothen
Strahle der Sonne muthig tanzten, und ihr lezter zukkender Blik den
ſummenden Käfer aus ſeinem Graſe befreyte und das Gewebere um mich her,
mich auf den Boden aufmerkſam machte und das Moos, das meinem harten
Felſen ſeine Nahrung abzwingt, und das Geniſte, das den dürren Sandhügel
hinunter wächſt, mir alles das innere glühende, heilige Leben der Natur
eröfnete, wie umfaßt ich das all mit warmen Herzen, verlohr mich in der
unendlichen Fülle, und die herrlichen Geſtalten der unendlichen Welt
bewegten ſich alllebend in meiner Seele.  Ungeheure Berge umgaben mich,
Abgründe lagen vor mir, und Wetterbäche ſtürzten herunter, die Flüſſe
ſtrömten unter mir, und Wald und Gebürg erklang.  Und ich ſah ſie würken
und ſchaffen in einander in den Tiefen der Erde, all die Kräfte
unergründlich.  Und nun über der Erde und unter dem Himmel wimmeln die
Geſchlechter der Geſchöpfe all, und alles, alles bevölkert mit
tauſendfachen Geſtalten, und die Menſchen dann ſich in Häuſlein zuſammen
ſichern, und ſich anniſten, und herrſchen in ihrem Sinne über die weite
Welt!  Armer Thor, der du alles ſo gering achteſt, weil du ſo klein
biſt.  Vom unzugänglichen Gebürge über die Einöde, die kein Fuß betrat,
bis ans Ende des unbekannten Ozeans weht der Geiſt des Ewigſchaffenden
und freut ſich jedes Staubs, der ihn vernimmt und lebt.  Ach damals, wie
oft hab ich mich mit Fittigen eines Kranichs, der über mich hinflog, zu
dem Ufer des ungemeſſenen Meeres geſehnt, aus dem ſchäumenden Becher des
Unendlichen, jene ſchwellende Lebenſwonne zu trinken, und nur einen
Augenblick in der eingeſchränkten Kraft meines Buſens einen Tropfen der
Seligkeit des Weſens zu fühlen, das alles in ſich und durch ſich
hervorbringt.


Bruder, nur die Erinnerung jener Stunden macht mir wohl, ſelbſt dieſe
Anſtrengung, jene unſäglichen Gefühle zurük zu rufen, wieder
auſzuſprechen, hebt meine Seele über ſich ſelbſt und läßt mir dann das
Bange des Zuſtands doppelt empfinden, der mich jezt umgiebt.


Es hat ſich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der
Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt ſich vor mir in den Abgrund
des ewig offnen Grabs.  Kannſt du ſagen: Das iſt!  da alles vorübergeht,
da alles mit der Wetterſchnelle vorüber rollt, ſo ſelten die ganze Kraft
ſeines Daſeyns auſdauert, ach, in den Strom fortgeriſſen, untergetaucht
und an Felſen zerſchmettert wird.  Da iſt kein Augenblik, der nicht dich
verzehrte und die Deinigen um dich her, kein Augenblik, da du nicht ein
Zerſtöhrer biſt, ſeyn mußt.  Der harmloſeſte Spaziergang koſtet tauſend
tauſend armen Würmgen das Leben, es zerrüttet ein Fuſtritt die
mühſeligen Gebäude der Ameiſen, und ſtampft eine kleine Welt in ein
ſchmähliches Grab.  Ha!  nicht die groſſe ſeltene Noth der Welt, dieſe
Fluthen, die eure Dörfer wegſpülen, dieſe Erdbeben, die eure Städte
verſchlingen, rühren mich.  Mir untergräbt das Herz die verzehrende
Kraft, die im All der Natur verborgen liegt, die nichts gebildet hat,
das nicht ſeinen Nachbar, nicht ſich ſelbſt zerſtörte.  Und ſo taumele
ich beängſtet!  Himmel und Erde und all die webenden Kräfte um mich her!
Ich ſehe nichts als ein ewig verſchlingendes, ewig wiederkäuendes
Ungeheur.

am 21. Aug.

Umſonſt ſtrekke ich meine Arme nach ihr aus, Morgens, wenn ich von
ſchweren Träumen aufdämmere, vergebens ſuch ich ſie Nachts in meinem
Bette, wenn mich ein glüklicher unſchuldiger Traum getäuſcht hat, als
ſäß ich neben ihr auf der Wieſe, und hielte ihre Hand und dekte ſie mit
tauſend Küſſen.  Ach wenn ich denn noch halb im Taumel des Schlafs nach
ihr tappe, und drüber mich ermuntere - Ein Strom von Thränen bricht aus
meinem gepreßten Herzen, und ich weine troſtlos einer finſtern Zukunft
entgegen.

am 22. Aug.

Es iſt ein Unglük, Wilhelm!  all meine thätigen Kräfte ſind zu einer
unruhigen Läſſigkeit verſtimmt, ich kann nicht müſſig ſeyn und wieder
kann ich nichts thun.  Ich habe keine Vorſtellungſkraft, kein Gefühl an
der Natur und die Bücher ſpeien mich alle an.  Wenn wir uns ſelbſt
fehlen, fehlt uns doch alles.  Ich ſchwöre Dir, manchmal wünſchte ich
ein Taglöhner zu ſeyn, um nur des Morgens bey'm Erwachen eine Auſſicht
auf den künftigen Tag, einen Drang, eine Hofnung zu haben.  Oft beneid
ich Alberten, den ich über die Ohren in Akten begraben ſehe, und bilde
mir ein: mir wär's wohl, wenn ich an ſeiner Stelle wäre!  Schon
etlichemal iſt mir's ſo aufgefahren, ich wollte Dir ſchreiben und dem
Miniſter und um die Stelle bey der Geſandtſchaft anhalten, die, wie Du
verſicherſt, mir nicht verſagt werden würde.  Ich glaube es ſelbſt, der
Miniſter liebt mich ſeit lange, hatte lange mir angelegen, ich ſolle
mich employiren, und eine Stunde iſt mir's auch wohl drum zu thun;
hernach, wenn ich ſo wieder dran denke, und mir die Fabel vom Pferde
einfällt, das ſeiner Freyheit ungedultig, ſich Sattel und Zeug auflegen
läßt, und zu Schanden geritten wird.  Ich weis nicht, was ich ſoll - Und
mein Lieber!  Iſt nicht vielleicht das Sehnen in mir nach Veränderung
des Zuſtands, eine innre unbehagliche Ungedult, die mich überallhin
verfolgen wird?

am 28. Aug.

Es iſt wahr, wenn meine Krankheit zu heilen wäre, ſo würden dieſe
Menſchen es thun.  Heut iſt mein Geburtſtag, und in aller Frühe empfang
ich ein Päkgen von Alberten.  Mir fällt bey'm Eröfnen ſogleich eine der
blaßrothen Schleifen in die Augen, die Lotte vorhatte, als ich ſie
kennen lernte, und um die ich ſie ſeither etlichemal gebeten hatte.  Es
waren zwey Büchelgen in duodez dabey, der kleine Wetſteiniſche Homer,
ein Büchelgen, nach dem ich ſo oft verlangt, um mich auf dem
Spaziergange mit dem Erneſtiſchen nicht zu ſchleppen.  Sieh!  ſo kommen
ſie meinen Wünſchen zuvor, ſo ſuchen ſie all die kleinen Gefälligkeiten
der Freundſchaft auf, die tauſendmal werther ſind als jene blendende
Geſchenke, wodurch uns die Eitelkeit des Gebers erniedrigt.  Ich küſſe
dieſe Schleife tauſendmal, und mit jedem Athemzuge ſchlürfe ich die
Erinnerung jener Seligkeiten ein, mit denen mich jene wenige,
glückliche, unwiederbringliche Tage überfüllten.  Wilhelm es iſt ſo, und
ich murre nicht, die Blüthen des Lebens ſind nur Erſcheinungen!  wie
viele gehn vorüber, ohne eine Spur hinter ſich zu laſſen, wie wenige
ſezzen Frucht an, und wie wenige dieſer Früchte werden reif.  Und doch
ſind deren noch genug da, und doch - O mein Bruder!  können wir gereifte
Früchte vernachläſſigen, verachten, ungenoſſen verwelken und verfaulen
laſſen?

Lebe wohl!  Es iſt ein herrlicher Sommer, ich ſizze oft auf den
Obſtbäumen in Lottens Baumſtük mit dem Obſtbrecher der langen Stange,
und hole die Birn aus dem Gipfel.  Sie ſteht unten und nimmt ſie ab,
wenn ich ſie ihr hinunter laſſe.

am 30. Aug.

Unglücklicher!  Biſt du nicht ein Thor?  Betrügſt du dich nicht ſelbſt?
Was ſoll all dieſe tobende, endloſe Leidenſchaft?  Ich habe kein Gebet
mehr, als an ſie, meiner Einbildungskraft erſcheint keine andere Geſtalt
als die ihrige, und alles in der Welt um mich her, ſehe ich nur im
Verhältniſſe mit ihr.  Und das macht mir denn ſo manche glükliche Stunde
- Bis ich mich wieder von ihr loſreißen muß, ach Wilhelm, wozu mich mein
Herz oft drängt! - Wenn ich ſo bey ihr geſeſſen bin, zwey, drey
Stunden, und mich an der Geſtalt, an dem Betragen, an dem himmliſchen
Auſdruk ihrer Worte geweidet habe, und nun ſo nach und nach alle meine
Sinnen aufgeſpannt werden, mir's düſter vor den Augen wird, ich kaum was
noch höre, und mich's an die Gurgel faßt wie ein Meuchelmörder, dann
mein Herz in wilden Schlägen den bedrängten Sinnen Luft zu machen ſucht
und ihre Verwirrung vermehrt.  Wilhelm, ich weis oft nicht, ob ich auf
der Welt bin!  Und wenn nicht manchmal die Wehmuth das Uebergewicht
nimmt, und Lotte mir den elenden Troſt erlaubt, auf ihrer Hand meine
Beklemmung auſzuweinen, ſo muß ich fort!  Muß hinaus!  Und ſchweife dann
weit im Felde umher.  Einen gähen Berg zu klettern, iſt dann meine
Freude, durch einen unwegſamen Wald einen Pfad durchzuarbeiten, durch
die Hekken die mich verlezzen, durch die Dornen die mich zerreiſſen!  Da
wird mir's etwas beſſer!  Etwas!  Und wenn ich für Müdigkeit und Durſt
manchſmal unterwegs liegen bleibe, manchmal in der tiefen Nacht, wenn
der hohe Vollmond über mir ſteht, im einſamen Walde auf einem
krumgewachſnen Baum mich ſezze, um meinen verwundeten Solen nur einige
Linderung zu verſchaffen, und dann in einer ermattenden Ruhe in dem
Dämmerſcheine hinſchlummre!  O Wilhelm!  Die einſame Wohnung einer
Zelle, das härne Gewand und der Stachelgürtel wären Labſale, nach denen
meine Seele ſchmachtet.  Adieu.  Ich ſeh all dieſes Elends kein Ende als
das Grab.

am 3. Sept.

Ich muß fort!  ich danke Dir, Wilhelm, daß Du meinen wankenden Entſchluß
beſtimmt haſt.  Schon vierzehn Tage geh ich mit dem Gedanken um, ſie zu
verlaſſen.  Ich muß.  Sie iſt wieder in der Stadt bey einer Freundinn.
Und Albert - und - ich muß fort.

am 10. Sept.

Das war eine Nacht!  Wilhelm, nun überſteh ich alles.  Ich werde ſie
nicht wiederſehn.  O daß ich nicht an Deinen Hals fliegen, Dir mit
tauſend Thränen und Entzükkungen auſdrükken kann, mein Beſter, all die
Empfindungen, die mein Herz beſtürmen.  Hier ſizz ich und ſchnappe nach
Luft, ſuche mich zu beruhigen, und erwarte den Morgen, und mit Sonnen
Aufgang ſind die Pferde beſtellt.


Ach, ſie ſchläft ruhig und denkt nicht, daß ſie mich nie wieder ſehen
wird.  Ich habe mich loſgeriſſen, bin ſtark genug geweſen, in einem
Geſpräche von zwey Stunden mein Vorhaben nicht zu verrathen.  Und Gott,
welch ein Geſpräch!


Albert hatte mir verſprochen, gleich nach dem Nachteſſen mit Lotten im
Garten zu ſeyn.  Ich ſtand auf der Terraſſe unter den hohen
Caſtanienbäumen, und ſah der Sonne nach, die mir nun zum letztenmal über
dem lieblichen Thale, über dem ſanften Fluſſe untergieng.  So oft hatte
ich hier geſtanden mit ihr, und eben dem herrlichen Schauſpiele
zugeſehen und nun - Ich gieng in der Allee auf und ab, die mir ſo lieb
war, ein geheimer ſympathetiſcher Zug hatte mich hier ſo oft gehalten,
eh ich noch Lotten kannte, und wie freuten wir uns, als im Anfange
unſerer Bekanntſchaft wir die wechſelſeitige Neigung zu dem Pläzgen
entdekten, das wahrhaftig eins der romantiſchten iſt, die ich von der
Kunſt habe hervorgebracht geſehen.


Erſt haſt du zwiſchen den Caſtanienbäumen die weite Auſſicht - Ach, ich
erinnere mich, ich habe dir, denk ich, ſchon viel geſchrieben davon, wie
hohe Buchenwände einen endlich einſchlieſſen und durch ein daran
ſtoßendes Boſquet die Allee immer düſtrer wird, bis zuletzt alles ſich
in ein geſchloſſenes Pläzgen endigt, das alle Schauer der Einſamkeit
umſchweben.  Ich fühl es noch wie heimlich mir's ward, als ich zum
erſtenmal an einem hohen Mittage hinein trat, ich ahndete ganz leiſe,
was das noch für ein Schauplaz werden ſollte von Seligkeit und Schmerz.


Ich hatte mich etwa eine halbe Stunde in denen ſchmachtend ſüſſen
Gedanken des Abſcheidens, des Wiederſehns geweidet; als ich ſie die
Terraſſe herauf ſteigen hörte, ich lief ihnen entgegen, mit einem
Schauer faßt ich ihre Hand und küßte ſie.  Wir waren eben herauf
getreten, als der Mond hinter dem büſchigen Hügel aufgieng, wir redeten
mancherley und kamen unvermerkt dem düſtern Cabinette näher.  Lotte trat
hinein und ſezte ſich, Albert neben ſie, ich auch, doch, meine Unruhe
lies mich nicht lange ſizzen, ich ſtand auf, trat vor ſie, gieng auf und
ab, ſezte mich wieder, es war ein ängſtlicher Zuſtand.  Sie machte uns
aufmerkſam auf die ſchöne Würkung des Mondenlichts, das am Ende der
Buchenwände die ganze Terraſſe vor uns erleuchtete, ein herrlicher
Anblik, der um ſo viel frappanter war, weil uns rings eine tiefe
Dämmerung einſchloß.  Wir waren ſtill, und ſie fieng nach einer Weile
an: Niemals geh ich im Mondenlichte ſpazieren, niemals daß mir nicht der
Gedanke an meine Verſtorbenen begegnete, daß nicht das Gefühl von Tod,
von Zukunft über mich käme.  Wir werden ſeyn, fuhr ſie mit der Stimme
des herrlichſten Gefühls fort, aber Werther, ſollen wir uns wieder
finden?  und wieder erkennen?  Was ahnden ſie, was ſagen ſie?


Lotte, ſagt ich, indem ich ihr die Hand reichte und mir die Augen voll
Thränen wurden, wir werden uns wieder ſehn!  Hier und dort wieder ſehn!
- Ich konnte nicht weiter reden - Wilhelm, mußte ſie mich das fragen?
da ich dieſen ängſtlichen Abſchied im Herzen hatte.


Und ob die lieben Abgeſchiednen von uns wiſſen, fuhr ſie fort, ob ſie
fühlen, wann's uns wohl geht, daß wir mit warmer Liebe uns ihrer
erinnern?  O die Geſtalt meiner Mutter ſchwebt immer um mich, wenn ich
ſo am ſtillen Abend, unter ihren Kindern, unter meinen Kindern ſizze,
und ſie um mich verſammlet ſind, wie ſie um ſie verſammlet waren.  Wenn
ich ſo mit einer ſehnenden Thräne gen Himmel ſehe, und wünſche: daß ſie
herein ſchauen könnte einen Augenblik, wie ich mein Wort halte, das ich
ihr in der Stunde des Todes gab: die Mutter ihrer Kinder zu ſeyn.
Hundertmal ruf ich aus: Verzeih mir's, Theuerſte, wenn ich ihnen nicht
bin, was du ihnen warſt.  Ach!  thu ich doch alles was ich kann, ſind
ſie doch gekleidet, genährt, ach und was mehr iſt als das alles,
gepflegt und geliebet.  Könnteſt du unſere Eintracht ſehn, liebe
Heilige!  du würdeſt mit dem heiſſeſten Danke den Gott verherrlichen,
den du mit den lezten bitterſten Thränen um die Wohlfahrt deiner Kinder
batſt.  Sie ſagte das!  O Wilhelm!  wer kann wiederholen, was ſie ſagte,
wie kann der kalte todte Buchſtabe dieſe himmliſche Blüthe des Geiſtes
darſtellen.  Albert fiel ihr ſanft in die Rede: es greift ſie zu ſtark
an, liebe Lotte, ich weis, ihre Seele hängt ſehr nach dieſen Ideen, aber
ich bitte Sie - O Albert, ſagte ſie, ich weis, du vergißt nicht die
Abende, da wir zuſammen ſaßen an dem kleinen runden Tiſchgen, wenn der
Papa verreiſt war, und wir die Kleinen ſchlafen geſchikt hatten.  Du
hatteſt oft ein gutes Buch, und kamſt ſo ſelten dazu etwas zu leſen.
War der Umgang dieſer herrlichen Seele nicht mehr als alles!  die
ſchöne, ſanfte, muntere und immer thätige Frau!  Gott kennt meine
Thränen, mit denen ich mich oft in meinem Bette vor ihn hinwarf: er
möchte mich ihr gleich machen.


Lotte!  rief ich aus, indem ich mich vor ſie hinwarf, ihre Hände nahm
und mit tauſend Thränen nezte.  Lotte, der Segen Gottes ruht über dir,
und der Geiſt deiner Mutter! - Wenn ſie ſie gekannt hätten!  ſagte ſie,
indem ſie mir die Hand drükte, ſie war werth, von ihnen gekannt zu ſeyn.
- Ich glaubte zu vergehen; nie war ein gröſſeres, ſtolzeres Wort über
mich auſgeſprochen worden, und ſie fuhr fort: und dieſe Frau mußte in
der Blüthe ihrer Jahre dahin, da ihr jüngſter Sohn nicht ſechs Monathe
alt war.  Ihre Krankheit dauerte nicht lange; ſie war ruhig, reſignirt,
nur ihre Kinder thaten ihr weh, beſonders das kleine.  Wie es gegen das
Ende gieng, und ſie zu mir ſagte: Bring mir ſie herauf, und wie ich ſie
herein führte, die kleinen die nicht wußten, und die älteſten die ohne
Sinne waren, wie ſie um's Bett ſtanden und wie ſie die Hände aufhub und
über ſie betete, und ſie küßte nach einander und ſie wegſchikte, und zu
mir ſagte: Sey ihre Mutter!  Ich gab ihr die Hand drauf!  Du verſprichſt
viel, meine Tochter, ſagte ſie, das Herz einer Mutter und das Aug einer
Mutter!  Ich hab oft an deinen dankbaren Thränen geſehen, daß du fühlſt
was das ſey.  Hab es für deine Geſchwiſter, und für deinen Vater, die
Treue, den Gehorſam einer Frau.  Du wirſt ihn tröſten.  Sie fragte nach
ihm, er war auſgegangen, um uns den unerträglichen Kummer zu verbergen,
den er fühlte, der Mann war ganz zerriſſen.


Albert, du warſt im Zimmer!  Sie hörte jemand gehn, und fragte, und
forderte dich zu ihr.  Und wie ſie dich anſah und mich, mit dem
getröſteten ruhigen Blikke, daß wir glüklich ſeyn, zuſammen glüklich
ſeyn würden.  Albert fiel ihr um den Hals und küßte ſie, und rief: wir
ſinds!  wir werdens ſeyn.  Der ruhige Albert war ganz aus ſeiner
Faſſung, und ich wußte nichts von mir ſelber.


Werther, fieng ſie an, und dieſe Frau ſollte dahin ſeyn!  Gott, wenn ich
manchmal ſo denke, wie man das Liebſte ſeines Lebens ſo wegtragen läßt,
und niemand als die Kinder das ſo ſcharf fühlt, die ſich noch lange
beklagten: die ſchwarzen Männer hätten die Mamma weggetragen.


Sie ſtund auf, und ich ward erwekt und erſchüttert, blieb ſizzen und
hielt ihre Hand.  Wir wollen fort, ſagte ſie, es wird Zeit.  Sie wollte
ihre Hände zurük ziehen und ich hielt ſie feſter!  Wir werden uns
wiederſehn, rief ich, wir werden uns finden, unter allen Geſtalten
werden wir uns erkennen.  Ich gehe, fuhr ich fort, ich gehe willig, und
doch, wenn ich ſagen ſollte auf ewig, ich würde es nicht auſhalten.  Leb
wohl, Lotte!  Leb wohl, Albert!  Wir ſehen uns wieder. - Morgen, denk
ich, verſezte ſie ſcherzend, ich fühlte das Morgen!  Ach ſie wußte nicht
als ſie ihre Hand aus der meinigen zog - ſie giengen die Allee hinaus,
ich ſtand, ſah ihnen nach im Mondſcheine und warf mich an die Erde und
weinte mich aus, und ſprang auf, lief auf die Terraſſe hervor und ſah
noch dort drunten im Schatten der hohen Lindenbäume ihr weiſſes Kleid
nach der Gartenthüre ſchimmern, ich ſtrekte meine Arme hinaus, und es
verſchwand.


D i e  L e i d e n  des  j u n g e n  W e r t h e r s.

Zweyter Theil.

L e i p z i g, in der Weygandſchen Buchhandlung.
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am 20. Okt. 1771.

Geſtern ſind wir hier angelangt.  Der Geſandte iſt unpaß, und wird ſich
alſo einige Tage einhalten, wenn er nur nicht ſo unhold wäre, wär alles
gut.  Ich merke, ich merke, das Schikſal hat mir harte Prüfungen
zugedacht.  Doch gutes Muths!  ein leichter Sinn trägt alles!  Ein
leichter Sinn!  das macht mich zu lachen, wie das Wort in meine Feder
kommt.  O ein Bißgen leichteres Blut würde mich zum glüklichſten
Menſchen unter der Sonne machen.  Was!  Da wo andre, mit ihrem Bißgen
Kraft und Talent, vor mir in behaglicher Selbſtgefälligkeit herum
ſchwadroniren, verzweifl' ich an meiner Kraft, an meinen Gaben.  Guter
Gott!  der du mir das alles ſchenkteſt, warum hielteſt du nicht die
Hälfte zurük und gabſt mir Selbſtvertrauen und Genügſamkeit!

Gedult!  Gedult!  Es wird beſſer werden.  Denn ich ſage dir, Lieber, du
haſt Recht.  Seit ich unter dem Volke ſo alle Tage herumgetrieben werde,
und ſehe was ſie thun und wie ſie's treiben, ſteh ich viel beſſer mit
mir ſelbſt.  Gewiß, weil wir doch einmal ſo gemacht ſind, daß wir alles
mit uns, und uns mit allem vergleichen, ſo liegt Glük oder Elend in den
Gegenſtänden, womit wir uns zuſammenhalten, und da iſt nichts
gefährlicher als die Einſamkeit.  Unſere Einbildungskraft, durch ihre
Natur gedrungen ſich zu erheben, durch die phantaſtiſchen Bilder der
Dichtkunſt genährt, bildet ſich eine Reihe Weſen hinauf, wo wir das
unterſte ſind, und alles auſſer uns herrlicher erſcheint, jeder andre
vollkommner iſt.  Und das geht ganz natürlich zu: Wir fühlen ſo oft, daß
uns manches mangelt, und eben was uns fehlt ſcheint uns oft ein anderer
zu beſizzen, dem wir denn auch alles dazu geben, was wir haben, und noch
eine gewiſſe idealiſche Behaglichkeit dazu.  Und ſo iſt der Glükliche
vollkommen fertig, das Geſchöpf unſerer ſelbſt.

Dagegen wenn wir mit all unſerer Schwachheit und Mühſeligkeit nur gerade
fortarbeiten, ſo finden wir gar oft, daß wir mit all unſerm Schlendern
und Laviren es weiter bringen als andre mit ihren Segeln und Rudern -
und - das iſt doch ein wahres Gefühl ſeiner ſelbſt, wenn man andern
gleich oder gar vorlauft.

am 10. Nov.

Ich fange an, mich in ſofern ganz leidlich hier zu befinden.  Das beſte
iſt, daß es zu thun genug giebt, und dann die vielerley Menſchen, die
allerley neue Geſtalten, machen mir ein buntes Schauſpiel vor meiner
Seele.  Ich habe den Grafen C.  kennen lernen, einen Mann, den ich jeden
Tag mehr verehren muß.  Einen weiten groſſen Kopf, und der deſwegen
nicht kalt iſt, weil er viel überſieht; aus deſſen Umgange ſo viel
Empfindung für Freundſchaft und Liebe hervorleuchtet.  Er nahm Theil an
mir, als ich einen Geſchäftſauftrag an ihn auſrichtete, und er bey den
erſten Worten merkte, daß wir uns verſtunden, daß er mit mir reden
konnte wie nicht mit jedem.  Auch kann ich ſein offnes Betragen gegen
mich nicht genug rühmen.  So eine wahre warme Freude iſt nicht in der
Welt, als eine groſſe Seele zu ſehen, die ſich gegen einen öffnet.

am 24. Dec.

Der Geſandte macht mir viel Verdruß, ich hab es voraus geſehn.  Es iſt
der pünktlichſte Narre, den's nur geben kann.  Schritt vor Schritt und
umſtändlich wie eine Baaſe.  Ein Menſch, der nie ſelbſt mit ſich
zufrieden iſt und dem's daher niemand zu Danke machen kann.  Ich arbeite
gern leicht weg, und wie's ſteht ſo ſteht's, da iſt er im Stande, mir
einen Aufſaz zurükzugeben und zu ſagen: er iſt gut, aber ſehen ſie ihn
durch, man findt immer ein beſſer Wort, eine reinere Partikel.  Da möcht
ich des Teufels werden.  Kein Und, kein Bindwörtchen ſonſt darf
auſſenbleiben, und von allen Inverſionen die mir manchmal entfahren, iſt
er ein Todtfeind.  Wenn man ſeinen Period nicht nach der hergebrachten
Melodie heraborgelt; ſo verſteht er gar nichts drinne.  Das iſt ein
Leiden, mit ſo einem Menſchen zu thun zu haben.

Das Vertrauen des Grafen von C.  iſt noch das einzige, was mich ſchadlos
hält.  Er ſagte mir lezthin ganz aufrichtig: wie unzufrieden er über die
Langſamkeit und Bedenklichkeit meines Geſandten ſey.  Die Leute
erſchweren ſich's und andern.  Doch, ſagt er, man muß ſich darein
reſigniren, wie ein Reiſender, der über einen Berg muß.  Freylich!  wär
der Berg nicht da, wäre der Weg viel bequemer und kürzer, er iſt nun
aber da!  und es ſoll drüber! -

Mein Alter ſpürt auch wohl den Vorzug, den mir der Graf vor ihm giebt,
und das ärgert ihn, und er ergreift jede Gelegenheit, übels gegen mich
vom Grafen zu reden, ich halte, wie natürlich, Widerpart, und dadurch
wird die Sache nur ſchlimmer.  Geſtern gar bracht er mich auf, denn ich
war mit gemeint.  Zu ſo Weltgeſchäften wäre der Graf ganz gut, er hätte
viel Leichtigkeit zu arbeiten und führte eine gute Feder, doch an
gründlicher Gelehrſamkeit mangelt es ihm, wie all den Bellettriſten.
Darüber hätt ich ihn gern auſgeprügelt, denn weiter iſt mit den Kerls
nicht zu räſonniren; da das aber nun nicht angieng, ſo focht ich mit
ziemlicher Heftigkeit, und ſagt ihm, der Graf ſey ein Mann, vor dem man
Achtung haben müßte, wegen ſeines Charakters ſowohl, als ſeiner
Kenntniſſe; ich habe, ſagt ich, niemand gekannt, dem es ſo geglükt wäre,
ſeinen Geiſt zu erweitern, ihn über unzählige Gegenſtände zu verbreiten,
und doch die Thätigkeit für's gemeine Leben zu behalten.  Das waren dem
Gehirn ſpaniſche Dörfer, und ich empfahl mich, um nicht über ein
weiteres Deraiſonnement noch mehr Galle zu ſchlukken.

Und daran ſeyd ihr all Schuld, die ihr mich in das Joch geſchwazt und
mir ſo viel von Aktivität vorgeſungen habt.  Aktivität!  Wenn nicht der
mehr thut, der Kartoffeln ſtekt, und in die Stadt reitet, ſein Korn zu
verkaufen, als ich, ſo will ich zehn Jahre noch mich auf der Galeere
abarbeiten, auf der ich nun angeſchmiedet bin.

Und das glänzende Elend die Langeweile unter dem garſtigen Volke das
ſich hier neben einander ſieht.  Die Rangſucht unter ihnen, wie ſie nur
wachen und aufpaſſen, einander ein Schrittgen abzugewinnen, die
elendeſten, erbärmlichſten Leidenſchaften, ganz ohne Rökgen!  Da iſt ein
Weib, zum Exempel, die jederman von ihrem Adel und ihrem Lande
unterhält, daß nun jeder Fremde denken muß: das iſt eine Närrin, die
ſich auf das Bißgen Adel und auf den Ruf ihres Landes Wunderſtreiche
einbildet - Aber es iſt noch viel ärger, eben das Weib iſt hier aus der
Nachbarſchaft eine Amtſchreibers Tochter. - Sieh, ich kann das
Menſchengeſchlecht nicht begreifen, das ſo wenig Sinn hat, um ſich ſo
platt zu proſtituiren.

Zwar ich merke täglich mehr, mein Lieber, wie thöricht man iſt andre
nach ſich zu berechnen.  Und weil ich ſo viel mit mir ſelbſt zu thun
habe, und dieſes Herz und Sinn ſo ſtürmiſch iſt, ach ich laſſe gern die
andern ihres Pfads gehen, wenn ſie mich nur auch könnten gehn laſſen.

Was mich am meiſten nekt, ſind die fatalen bürgerlichen Verhältniſſe.
Zwar weis ich ſo gut als einer, wie nöthig der Unterſchied der Stände
iſt, wie viel Vortheile er mir ſelbſt verſchafft, nur ſoll er mir nicht
eben grad im Wege ſtehn, wo ich noch ein wenig Freude, einen Schimmer
von Glük auf dieſer Erden genieſſen könnte.  Ich lernte neulich auf dem
Spaziergange ein Fräulein von B..  kennen, ein liebenſwürdiges Geſchöpf,
das ſehr viele Natur mitten in dem ſteifen Leben erhalten hat.  Wir
gefielen uns in unſerm Geſpräche, und da wir ſchieden, bat ich ſie um
Erlaubniß, ſie bey ſich ſehen zu dürfen.  Sie geſtattete mir das mit ſo
viel Freymüthigkeit, daß ich den ſchiklichen Augenblik kaum erwarten
konnte, zu ihr zu gehen.  Sie iſt nicht von hier, und wohnt bey einer
Tante im Hauſe.  Die Phyſiognomie der alten Schachtel gefiel mir nicht.
Ich bezeigte ihr viel Aufmerkſamkeit, mein Geſpräch war meiſt an ſie
gewandt, und in minder als einer halben Stunde hatte ich ſo ziemlich
weg, was mir das Fräulein nachher ſelbſt geſtund: daß die liebe Tante in
ihrem Alter, und dem Mangel von allem, vom anſtändigen Vermögen an bis
auf den Geiſt keine Stüzze hat, als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen
Schirm, als den Stand, in dem ſie ſich verpalliſadirt, und kein
Ergözzen, als von ihrem Stokwerk herab über die bürgerlichen Häupter weg
zu ſehen.  In ihrer Jugend ſoll ſie ſchön geweſen ſeyn, und ihr Leben ſo
weggegaukelt, erſt mit ihrem Eigenſinne manchen armen Jungen gequält,
und in reifern Jahren ſich unter den Gehorſam eines alten Offiziers
gedukt haben, der gegen dieſen Preis und einen leidlichen Unterhalt das
ehrne Jahrhundert mit ihr zubrachte, und ſtarb, und nun ſieht ſie im
eiſernen ſich allein und würde nicht angeſehn, wär ihre Nichte nicht ſo
liebenſwürdig.

den 8. Jan. 1772.

Was das für Menſchen ſind, deren ganze Seele auf dem Ceremoniel ruht,
deren Dichten und Trachten Jahre lang dahin geht, wie ſie um einen Stuhl
weiter hinauf bey Tiſche ſich einſchieben wollen.  Und nicht, daß die
Kerls ſonſt keine Angelegenheit hätten, nein, vielmehr häufen ſich die
Arbeiten, eben weil man über die kleinen Verdrüßlichkeiten, von
Beförderung der wichtigen Sachen abgehalten wird.  Vorige Woche gabs bey
der Schlittenfahrt Händel, und der ganze Spas wurde verdorben.

Die Thoren, die nicht ſehen, daß es eigentlich auf den Plaz gar nicht
ankommt, und daß der, der den erſten hat, ſo ſelten die erſte Rolle
ſpielt!  Wie mancher König wird durch ſeinen Miniſter, wie mancher
Miniſter durch ſeinen Sekretär regiert.  Und wer iſt dann der Erſte?
der, dünkt mich, der die andern überſieht, und ſo viel Gewalt oder Liſt
hat, ihre Kräfte und Leidenſchaften zu Auſführung ſeiner Plane
anzuſpannen.

am 20. Jan.

Ich muß Ihnen ſchreiben, liebe Lotte, hier in der Stube einer geringen
Bauernherberge, in die ich mich vor einem ſchweren Wetter geflüchtet
habe.  Solange ich in dem traurigen Neſte D..  unter dem fremden, meinem
Herzen ganz fremden Volke herumziehe, hab' ich keinen Augenblik gehabt,
keinen, an dem mein Herz mich geheiſſen hätte Ihnen zu ſchreiben.  Und
jezt in dieſer Hütte, in dieſer Einſamkeit, in dieſer Einſchränkung, da
Schnee und Schloſſen wider mein Fenſtergen wüthen, hier waren Sie mein
erſter Gedanke.  Wie ich herein trat, überfiel mich Ihre Geſtalt, Ihr
Andenken.  O Lotte!  ſo heilig, ſo warm!  Guter Gott!  der erſte
glükliche Augenblik wieder.

Wenn Sie mich ſähen meine Beſte, in dem Schwall von Zerſtreuung!  Wie
auſgetroknet meine Sinnen werden, nicht Einen Augenblik der Fülle des
Herzens, nicht Eine ſelige, thränenreiche Stunde!  Nichts!  Nichts!  Ich
ſtehe wie vor einem Raritätenkaſten, und ſehe die Männgen und Gäulgen
vor mir herumrükken, und frage mich oft, ob's nicht optiſcher Betrug
iſt.  Ich ſpiele mit, vielmehr, ich werde geſpielt wie eine Marionette,
und faſſe manchmal meinen Nachbar an der hölzernen Hand und ſchaudere
zurück.

Ein einzig weiblich Geſchöpf hab ich hier gefunden.  Eine Fräulein von
B..  Sie gleicht Ihnen liebe Lotte, wenn man Ihnen gleichen kann.  Ey!
werden Sie ſagen: der Menſch legt ſich auf niedliche Komplimente!  Ganz
unwahr iſt's nicht.  Seit einiger Zeit bin ich ſehr artig, weil ich doch
nicht anders ſeyn kann, habe viel Wiz, und die Frauenzimmer ſagen: es
wüſte niemand ſo fein zu loben als ich (und zu lügen, ſezzen Sie hinzu,
denn ohne das geht's nicht ab, verſtehen Sie:) Ich wollte von Fräulein
B..  reden!  Sie hat viel Seele, die voll aus ihren blauen Augen
hervorblikt, ihr Stand iſt ihr zur Laſt, der keinen der Wünſche ihres
Herzens befriedigt.  Sie ſehnt ſich aus dem Getümmel, und wir
verphantaſiren manche Stunde in ländlichen Scenen von ungemiſchter
Glükſeligkeit, ach!  und von Ihnen!  Wie oft muß ſie Ihnen huldigen.
Muß nicht, thut's freywillig, hört ſo gern von Ihnen, liebt Sie -

O ſäs ich zu Ihren Füſſen in dem lieben vertraulichen Zimmergen, und
unſere kleinen Lieben wälzten ſich miteinander um mich herum, und wenn
ſie Ihnen zu laut würden, wollt ich ſie mit einem ſchauerlichen Märgen
um mich zur Ruhe verſammlen.  Die Sonne geht herrlich unter über der
ſchneeglänzenden Gegend, der Sturm iſt hinüber gezogen.  Und ich - muß
mich wieder in meinen Käfig ſperren.  Adieu!  Iſt Albert bey Ihnen?  Und
wie -?  Gott verzeihe mir dieſe Frage!

am 17. Febr.

Ich fürchte, mein Geſandter und ich, halten's nicht lange mehr zuſammen
aus.  Der Menſch iſt ganz und gar unerträglich.  Seine Art zu arbeiten
und Geſchäfte zu treiben iſt ſo lächerlich, daß ich mich nicht enthalten
kann ihm zu widerſprechen, und oft eine Sache nach meinem Kopfe und Art
zu machen, das ihm denn, wie natürlich, niemals recht iſt.  Darüber hat
er mich neulich bey Hofe verklagt, und der Miniſter gab mir einen zwar
ſanften Verweis, aber es war doch ein Verweis, und ich ſtand im
Begriffe, meinen Abſchied zu begehren, als ich einen Privatbrief*)

*)

Man hat aus Ehrfurcht für dieſen treflichen Mann, gedachten Brief, und
einen andern, deſſen weiter hinten erwehnt wird, dieſer Sammlung
entzogen, weil man nicht glaubte, ſolche Kühnheit durch den wärmſten
Dank des Publikums entſchuldigen zu können.

von ihm erhielt, einen Brief, vor dem ich mich niedergekniet, und den
hohen, edlen, weiſen Sinn angebetet habe, wie er meine allzu groſſe
Empfindlichkeit zurechte weißt, wie er meine überſpannte Ideen von
Würkſamkeit, von Einfluß auf andre, von Durchdringen in Geſchäften als
jugendlichen guten Muth zwar ehrt, ſie nicht auſzurotten, nur zu mildern
und dahin zu leiten ſucht, wo ſie ihr wahres Spiel haben, ihre kräftige
Würkung thun können.  Auch bin ich auf acht Tage geſtärkt, und in mir
ſelbſt einig geworden.  Die Ruhe der Seele iſt ein herrlich Ding, und
die Freude an ſich ſelbſt, lieber Freund, wenn nur das Ding nicht eben
ſo zerbrechlich wäre, als es ſchön und koſtbar iſt.


am 20. Febr.

Gott ſegne euch, meine Lieben, geb euch all die guten Tage, die er mir
abzieht.


Ich danke dir Albert, daß du mich betrogen haſt, ich wartete auf
Nachricht, wann euer Hochzeittag ſeyn würde, und hatte mir vorgenommen,
feyerlichſt an demſelben Lottens Schattenriß von der Wand zu nehmen, und
ſie unter andere Papiere zu begraben.  Nun ſeyd ihr ein Paar, und ihr
Bild iſt noch hier!  Nun ſo ſoll's bleiben!  Und warum nicht?  Ich weis,
ich bin ja auch bey euch, bin dir unbeſchadet in Lottens Herzen.  Habe,
ja ich habe den zweyten Plaz drinne, und will und muß ihn behalten.  O
ich würde raſend werden, wenn ſie vergeſſen könnte - Albert in dem
Gedanken liegt eine Hölle.  Albert!  Leb wohl.  Leb wohl, Engel des
Himmels, leb wohl, Lotte!

am 15. Merz.

Ich hab einen Verdruß gehabt, der mich von hier wegtreiben wird, ich
knirſche mit den Zähnen!  Teufel!  Er iſt nicht zu erſezzen, und ihr
ſeyd doch allein ſchuld daran, die ihr mich ſporntet und triebt und
quältet, mich in einen Poſten zu begeben, der nicht nach meinem Sinne
war.  Nun hab ich's nun habt ihr's.  Und daß du nicht wieder ſagſt:
meine überſpannten Ideen verdürben alles; ſo haſt du hier lieber Herr,
eine Erzählung, plan und nett, wie ein Chronikenſchreiber das
aufzeichnen würde.

Der Graf v.  C.  liebt mich, diſtingwirt mich, das iſt bekannt, das hab
ich dir ſchon hundertmal geſagt.  Nun war ich bey ihm zu Tiſche geſtern,
eben an dem Tage, da Abends die noble Geſellſchaft von Herren und Frauen
bey ihm zuſammenkommt, an die ich nie gedacht hab, auch mir nie
aufgefallen iſt, daß wir Subalternen nicht hinein gehören.  Gut.  Ich
ſpeiſe beym Grafen und nach Tiſche gehn wir im groſſen Saale auf und ab,
ich rede mit ihm, mit dem Obriſt B.  der dazu kommt, und ſo rükt die
Stunde der Geſellſchaft heran.  Ich denke, Gott weis, an nichts.  Da
tritt herein die übergnädige Dame von S..  mit Dero Herrn Gemahl und
wohl auſgebrüteten Gänſlein Tochter mit der flachen Bruſt und niedlichem
Schnürleib, machen en paſſant ihre hergebrachten hochadligen Augen und
Naſlöcher, und wie mir die Nation von Herzen zuwider iſt, wollt ich eben
mich empfehlen, und wartete nur, bis der Graf vom garſtigen Gewäſche
frey wäre, als eben meine Fräulein B.  herein trat, da mir denn das Herz
immer ein bißgen aufgeht, wenn ich ſie ſehe, blieb ich eben, ſtellte
mich hinter ihren Stuhl, und bemerkte erſt nach einiger Zeit, daß ſie
mit weniger Offenheit als ſonſt, mit einiger Verlegenheit mit mir redte.
Das fiel mir auf.  Iſt ſie auch wie all das Volk, dacht ich, hohl ſie
der Teufel!  und war angeſtochen und wollte gehn, und doch blieb ich,
weil ich intriguirt war, das Ding näher zu beleuchten.  Ueber dem füllt
ſich die Geſellſchaft.  Der Baron F..  mit der ganzen Garderobe von den
Krönungſzeiten Franz des erſten her, der Hofrath R..  hier aber in
qualitate Herr von R..  genannt mit ſeiner tauben Frau &c.  den übel
fournirten J.  nicht zu vergeſſen, bey deſſen Kleidung, Reſte des
altfränkiſchen mit dem neu'ſt aufgebrachten kontraſtiren &c.  das kommt
all und ich rede mit einigen meiner Bekanntſchaft, die alle ſehr
lakoniſch ſind, ich dachte - und gab nur auf meine B..  acht.  Ich
merkte nicht, daß die Weiber am Ende des Saals ſich in die Ohren
piſperten, daß es auf die Männer zirkulirte, daß Frau von S..  mit dem
Grafen redte (das alles hat mir Fräulein B..  nachher erzählt:) biß
endlich der Graf auf mich loſgieng und mich in ein Fenſter nahm.  Sie
wiſſen ſagt er, unſere wunderbaren Verhältniſſe, die Geſellſchaft iſt
unzufrieden, merk ich, ſie hier zu ſehn, ich wollte nicht um alles -
Ihro Excellenz, fiel ich ein, ich bitte tauſendmal um Verzeihung, ich
hätte eher dran denken ſollen, und ich weis, Sie verzeihen mir dieſe
Inkonſequenz, ich wollte ſchon vorhin mich empfehlen, ein böſer Genius
hat mich zurük gehalten, ſezte ich lächelnd hinzu, indem ich mich
neigte.  Der Graf drükte meine Hände mit einer Empfindung, die alles
ſagte.  Ich machte der vornehmen Geſellſchaft mein Compliment, gieng und
ſezte mich in ein Cabriolet und fuhr nach M..  dort vom Hügel die Sonne
untergehen zu ſehen, und dabey in meinem Homer den herrlichen Geſang zu
leſen, wie Ulyß von dem treflichen Schweinhirten bewirthet wird.  Das
war all gut.

Des Abends komm ich zurük zu Tiſche.  Es waren noch wenige in der
Gaſtſtube, die würfelten auf einer Ekke, hatten das Tiſchtuch zurük
geſchlagen.  Da kommt der ehrliche A..  hinein, legt ſeinen Hut nieder,
indem er mich anſieht, tritt zu mir und ſagt leiſe: Du haſt Verdruß
gehabt? - Ich?  ſagt ich - der Graf hat dich aus der Geſellſchaft
gewieſen - Hol ſie der Teufel, ſagt ich, mir war's lieb, daß ich in die
freye Luft kam - Gut, ſagt er, daß du's auf die leichte Achſel nimmſt.
Nur verdrießt mich's.  Es iſt ſchon überall herum.  Da fieng mir das
Ding erſt an zu wurmen.  Alle die zu Tiſche kamen und mich anſahen,
dacht ich die ſehen dich darum an!  Das fieng an mir böſes Blut zu
ſezzen.

Und da man nun heute gar wo ich hintrete mich bedauert, da ich höre, daß
meine Neider nun triumphiren und ſagen: Da ſähe man's, wo's mit den
Uebermüthigen hinauſgieng, die ſich ihres bißgen Kopfs überhüben und
glaubten, ſich darum über alle Verhältniſſe hinauſſezzen zu dürfen, und
was des Hundegeſchwäzzes mehr iſt.  Da möchte man ſich ein Meſſer in's
Herz bohren.  Denn man rede von Selbſtändigkeit was man will, den will
ich ſehn der dulden kann, daß Schurken über ihn reden, wenn ſie eine
Priſe über ihn haben.  Wenn ihr Geſchwätz leer iſt, ach!  da kann man
ſie leicht laſſen.

am 16. Merz.

Es hezt mich alles!  Heut treff ich die Fräulein B..  in der Allee.  Ich
konnte mich nicht enthalten ſie anzureden, und ihr, ſobald wir etwas
entfernt von der Geſellſchaft waren, meine Empfindlichkeit über ihr
neuliches Betragen zu zeigen.  O Werther, ſagte ſie mit einem innigen
Tone, konnten Sie meine Verwirrung ſo auſlegen, da Sie mein Herz kennen.
Was ich gelitten habe um ihrentwillen von dem Augenblikke an, da ich in
den Saal trat!  Ich ſah' alles voraus, hundertmal ſaß mir's auf der
Zunge, es Ihnen zu ſagen, ich wußte, daß die von S..  und T..  mit ihren
Männern eher aufbrechen würden, als in Ihrer Geſellſchaft zu bleiben,
ich wußte, daß der Graf es nicht mit Ihnen verderben darf, und jezo der
Lärm. - Wie Fräulein?  ſagt' ich, und verbarg meinen Schrekken, denn
alles was Adelin mir ehgeſtern geſagt hatte, lief mir wie ſiedend Waſſer
durch die Adern in dieſem Augenblikke. - Was hat mich's ſchon gekoſtet!
ſagte das ſüſſe Geſchöpf, indem ihr die Thränen in den Augen ſtunden.
Ich war nicht Herr mehr von mir ſelbſt, war im Begriff, mich ihr zu
Füſſen zu werfen.  Erklären ſie ſich, ruft ich: Die Thränen liefen ihr
die Wangen herunter, ich war auſſer mir.  Sie troknete ſie ab, ohne ſie
verbergen zu wollen.  Meine Tante kennen ſie, fieng ſie an; ſie war
gegenwärtig, und hat, o mit was für Augen hat ſie das angeſehn.
Werther, ich habe geſtern Nacht auſgeſtanden, und heute früh eine
Predigt über meinen Umgang mit Ihnen, und ich habe müſſen zuhören Sie
herabſezzen, erniedrigen, und konnte und durfte Sie nur halb
vertheidigen.

Jedes Wort, das ſie ſprach, gieng mir wie Schwerder durch's Herz.  Sie
fühlte nicht, welche Barmherzigkeit es geweſen wäre, mir das alles zu
verſchweigen, und nun fügte ſie noch all dazu, was weiter würde
geträtſcht werden, was die ſchlechten Kerls alle darüber triumphiren
würden.  Wie man nunmehro meinen Uebermuth und Geringſchäzzung andrer,
das ſie mir ſchon lange vorwerfen, geſtraft, erniedrigt auſſchreien
würde.  Das alles, Wilhelm, von ihr zu hören mit der Stimme der wahrſten
Theilnehmung.  Ich war zerſtört, und bin noch wüthend in mir.  Ich
wollte, daß ſich einer unterſtünde mir's vorzuwerfen, daß ich ihm den
Degen durch den Leib ſtoſſen könnte!  Wenn ich Blut ſähe würde mir's
beſſer werden.  Ach ich hab hundertmal ein Meſſer ergriffen, um dieſem
gedrängten Herzen Luft zu machen.  Man erzählt von einer edlen Art
Pferde, die, wenn ſie ſchröklich erhizt und aufgejagt ſind, ſich ſelbſt
aus Inſtinkt eine Ader aufbeiſſen, um ſich zum Athem zu helfen.  So iſt
mir's oft, ich möchte mir eine Ader öffnen, die mir die ewige Freyheit
ſchaffte.

am 24. Merz.

Ich habe meine Dimißion bey Hofe verlangt, und werde ſie, hoff ich,
erhalten, und ihr werdet mir verzeihen, daß ich nicht erſt Permißion
dazu bey euch eingeholt habe.  Ich mußte nun einmal fort, und was Ihr zu
ſagen hattet, um mir das Bleiben einzureden weis ich all, und alſo -
Bring das meiner Mutter in einem Säftgen bey, ich kann mir ſelbſt nicht
helfen, alſo mag ſie ſich's gefallen laſſen, wenn ich ihr auch nicht
helfen kann.  Freylich muß es ihr weh thun.  Den ſchönen Lauf, den ihr
Sohn grad zum Geheimderath und Geſandten anſezte, ſo auf einmal Halte zu
ſehen, und rükwärts mit dem Thiergen in Stall.  Macht nun draus, was ihr
wollt, und kombinirt die mögliche Fälle, unter denen ich hätte bleiben
können und ſollen.  Genug ich gehe.  Und damit ihr wißt wo ich hinkomme,
ſo iſt hier der Fürſt **, der viel Geſchmak an meiner Geſellſchaft
findet, der hat mich gebeten, da er von meiner Abſicht hörte, mit ihm
auf ſeine Güter zu gehen und den ſchönen Frühling da zuzubringen.  Ich
ſoll ganz mir ſelbſt gelaſſen ſeyn, hat er mir verſprochen, und da wir
uns zuſammen bis auf einen gewiſſen Punkt verſtehn, ſo will ich's denn
auf gut Glük wagen, und mit ihm gehn.

den 19.  April.

Zur Nachricht.

Danke für deine beyden Briefe.  Ich antwortete nicht, weil ich dieſen
Brief liegen ließ, bis mein Abſchied von Hofe da wäre, weil ich
fürchtete, meine Mutter möchte ſich an den Miniſter wenden und mir mein
Vorhaben erſchweren.  Nun aber iſt's geſchehen, mein Abſchied iſt da.
Ich mag euch nicht ſagen, wie ungern man mir ihn gegeben hat, und was
mir der Miniſter ſchreibt, ihr würdet in neue Lamentationen auſbrechen.
Der Erbprinz hat mir zum Abſchiede fünf und zwanzig Dukaten geſchikt,
mit einem Wort, das mich bis zu Thränen gerührt hat.  Alſo braucht die
Mutter mir das Geld nicht zu ſchikken, um das ich neulich ſchrieb.

am 5. May.

Morgen geh ich von hier ab, und weil mein Geburtſort nur ſechs Meilen
vom Wege liegt, ſo will ich den auch wieder ſehen, will mich der alten
glüklich verträumten Tage erinnern.  Zu eben dem Thore will ich
hineingehn, aus dem meine Mutter mit mir herauſfuhr, als ſie nach dem
Tode meines Vaters den lieben vertraulichen Ort verließ, um ſich in ihre
unerträgliche Stadt einzuſperren.  Adieu, Wilhelm, du ſollſt von meinem
Zuge hören.

am 9. May.

Ich habe die Wallfahrt nach meiner Heimath mit aller Andacht eines
Pilgrims vollendet, und manche unerwartete Gefühle haben mich ergriffen.
An der groſſen Linde, die eine Viertelſtunde vor der Stadt nach S..
zuſteht, ließ ich halten, ſtieg aus und hieß den Poſtillon fortfahren,
um zu Fuſſe jede Erinnerung ganz neu, lebhaft nach meinem Herzen zu
koſten.  Da ſtand ich nun unter der Linde, die ehedeſſen als Knabe das
Ziel und die Gränze meiner Spaziergänge geweſen.  Wie anders!  Damals
ſehnt ich mich in glüklicher Unwiſſenheit hinaus in die unbekannte Welt,
wo ich für mein Herz alle die Nahrung, alle den Genuß hoffte, deſſen
Ermangeln ich ſo oft in meinem Buſen fühlte.  Jezt kam ich zurük aus der
weiten Welt - O mein Freund, mit wie viel fehlgeſchlagenen Hofnungen,
mit wie viel zerſtörten Planen! - Ich ſah das Gebürge vor mir liegen,
das ſo tauſendmal der Gegenſtand meiner Wünſche geweſen.  Stundenlang
konnte ich hier ſizzen, und mich hinüber ſehnen, mit inniger Seele mich
in denen Wäldern, denen Thälern verliehren, die ſich meinen Augen ſo
freundlich dämmernd darſtellten - und wenn ich denn um die beſtimmte
Zeit wieder zurük mußte, mit welchem Widerwillen verließ ich nicht den
lieben Plaz!  Ich kam der Stadt näher, alle alten bekannte Gartenhäuſgen
wurden von mir gegrüßt, die neuen waren mir zuwider, ſo auch alle
Veränderungen, die man ſonſt vorgenommen hatte.  Ich trat zum Thore
hinein, und fand mich doch gleich und ganz wieder.  Lieber, ich mag
nicht in's Detail gehn, ſo reizend als es mir war, ſo einförmig würde es
in der Erzählung werden.  Ich hatte beſchloſſen, auf dem Markte zu
wohnen, gleich neben unſerm alten Hauſe.  Im Hingehen bemerkte ich daß
die Schulſtube, wo ein ehrlich altes Weib unſere Kindheit
zuſammengepfercht hatte, in einen Kram verwandelt war.  Ich erinnerte
mich der Unruhe, der Thränen, der Dumpfheit des Sinnes, der
Herzenſangſt, die ich in dem Loche auſgeſtanden hatte - Ich that keinen
Schritt, der nicht merkwürdig war.  Ein Pilger im heiligen Lande trifft
nicht ſo viel Stäten religioſer Erinnerung, und ſeine Seele iſt
ſchwerlich ſo voll heiliger Bewegung. - Noch eins für tauſend.  Ich
gieng den Fluß hinab, bis an einen gewiſſen Hof, das war ſonſt auch mein
Weg, und die Pläzgen da wir Knaben uns übten, die meiſten Sprünge der
flachen Steine im Waſſer hervorzubringen.  Ich erinnere mich ſo lebhaft,
wenn ich manchmal ſtand und dem Waſſer nachſah, mit wie wunderbaren
Ahndungen ich das verfolgte, wie abenteuerlich ich mir die Gegenden
vorſtellte, wo es nun hinflöſſe, und wie ich da ſo bald Grenzen meiner
Vorſtellungſkraft fand, und doch mußte das weiter gehn, immer weiter,
bis ich mich ganz in dem Anſchauen einer unſichtbaren Ferne verlohr.
Siehe mein Lieber, das iſt doch eben das Gefühl der herrlichen Altväter!
Wenn Ulyß von dem ungemeſſenen Meere, und von der unendlichen Erde
ſpricht, iſt das nicht wahrer, menſchlicher, inniger, als wenn jezzo
jeder Schulknabe ſich wunder weiſe dünkt, wenn er nachſagen kann, daß
ſie rund ſey.

Nun bin ich hier auf dem fürſtlichen Jagdſchloſſe.  Es läßt ſich noch
ganz wohl mit dem Herrn leben, er iſt ganz wahr, und einfach.  Was mir
noch manchmal leid thut, iſt, daß er oft über Sachen redt, die er nur
gehört und geleſen hat, und zwar aus eben dem Geſichtſpunkte, wie ſie
ihm der andere darſtellen mochte.

Auch ſchäzt er meinen Verſtand und Talente mehr als dies Herz, das doch
mein einziger Stolz iſt, das ganz allein die Quelle von allem iſt, aller
Kraft, aller Seligkeit und alles Elends.  Ach was ich weis, kann jeder
wiſſen. - Mein Herz hab ich allein.

am 25. May.

Ich hatte etwas im Kopfe, davon ich euch nichts ſagen wollte, bis es
auſgeführt wäre, jezt da nichts draus wird, iſt's eben ſo gut.  Ich
wollte in Krieg!  Das iſt mir lang am Herzen gelegen.  Vornehmlich darum
bin ich dem Fürſten hieher gefolgt, der General in ***ſchen Dienſten
iſt.  Auf einem Spaziergange entdekte ich ihm mein Vorhaben, er
widerrieth mir's, und es müßte bey mir mehr Leidenſchaft als Grille
geweſen ſeyn, wenn ich ſeinen Gründen nicht hätte Gehör geben wollen.

am 11. Juni.

Sag was Du willſt, ich kann nicht länger bleiben.  Was ſoll ich hier?
Die Zeit wird mir lang.  Der Fürſt hält mich wie ſeines Gleichen gut,
und doch bin ich nicht in meiner Lage.  Und dann, wir haben im Grunde
nichts gemeines mit einander.  Er iſt ein Mann von Verſtande, aber von
ganz gemeinem Verſtande, ſein Umgang unterhält mich nicht mehr, als wenn
ich ein wohlgeſchrieben Buch leſe.  Noch acht Tage bleib ich, und dann
zieh ich wieder in der Irre herum.  Das beſte, was ich hier gethan habe,
iſt mein Zeichnen.  Und der Fürſt fühlt in der Kunſt, und würde noch
ſtärker fühlen, wenn er nicht durch das garſtige, wiſſenſchaftliche
Weſen, und durch die gewöhnliche Terminologie eingeſchränkt wäre.
Manchmal knirſch ich mit den Zähnen, wenn ich ihn mit warmer Imagination
ſo an Natur und Kunſt herum führe und er's auf einmal recht gut zu
machen denkt, wenn er mit einem geſtempelten Kunſtworte drein tölpelt.

am 18. Juni.

Wo ich hin will?  Das laß Dir im Vertrauen eröfnen.  Vierzehn Tage muß
ich doch noch hier bleiben, und dann hab ich mir weis gemacht, daß ich
die Bergwerke in **ſchen beſuchen wollte, iſt aber im Grunde nichts
dran, ich will nur Lotten wieder näher, das iſt alles.  Und ich lache
über mein eigen Herz - und thu ihm ſeinen Willen.

am 29. Juli.

Nein es iſt gut!  Es iſt alles gut!  Ich ihr Mann!  O Gott, der du mich
machteſt, wenn du mir dieſe Seligkeit bereitet hätteſt, mein ganzes
Leben ſollte ein anhaltendes Gebet ſeyn.  Ich will nicht rechten, und
verzeih mir dieſe Thränen, verzeih mir meine vergeblichen Wünſche. -
Sie meine Frau!  Wenn ich das liebſte Geſchöpf unter der Sonne in meine
Arme geſchloſſen hätte - Es geht mir ein Schauder durch den ganzen
Körper, Wilhelm, wenn Albert ſie um den ſchlanken Leib faßt.


Und, darf ich's ſagen?  Warum nicht, Wilhelm, ſie wäre mit mir
glücklicher geworden als mit ihm!  O er iſt nicht der Menſch, die
Wünſche dieſes Herzens alle zu füllen.  Ein gewiſſer Mangel an
Fühlbarkeit, ein Mangel - nimm's wie du willſt, daß ſein Herz nicht
ſympathetiſch ſchlägt bey - Oh! - bey der Stelle eines lieben Buchs, wo
mein Herz und Lottens in einem zuſammen treffen.  In hundert andern
Vorfällen, wenn's kommt, daß unſere Empfindungen über eine Handlung
eines dritten laut werden.  Lieber Wilhelm! - Zwar er liebt ſie von
ganzer Seele, und ſo eine Liebe was verdient die nicht -


Ein unerträglicher Menſch hat mich unterbrochen.  Meine Thränen ſind
getroknet.  Ich bin zerſtreut.  Adieu Lieber.

am 4. Aug.

Es geht mir nicht allein ſo.  Alle Menſchen werden in ihren Hofnungen
getäuſcht, in ihren Erwartungen betrogen.  Ich beſuchte mein gutes Weib
unter der Linde.  Der ältſte Bub lief mir entgegen, ſein Freudengeſchrey
führte die Mutter herbey, die ſehr niedergeſchlagen auſſah.  Ihr erſtes
Wort war: Guter Herr!  ach mein Hanns iſt mir geſtorben, es war der
jüngſte ihrer Knaben, ich war ſtille, und mein Mann, ſagte ſie, iſt aus
der Schweiz zurük, und hat nichts mit gebracht, und ohne gute Leute
hätte er ſich heraus betteln müſſen.  Er hatte das Fieber kriegt
unterwegs.  Ich konnte ihr nichts ſagen, und ſchenkte dem Kleinen was,
ſie bat mich einige Aepfel anzunehmen, das ich that und den Ort des
traurigen Andenkens verließ.

am 21. Aug.

Wie man eine Hand umwendet, iſt's anders mit mir.  Manchmal will ſo ein
freudiger Blik des Lebens wieder aufdämmern, ach nur für einen
Augenblik!  Wenn ich mich ſo in Träumen verliehre, kann ich mich des
Gedankens nicht erwehren: Wie, wenn Albert ſtürbe!  Du würdeſt!  ja ſie
würde - und dann lauf ich dem Hirngeſpinſte nach, bis es mich an
Abgründe führt, vor denen ich zurükbebe.

Wenn ich ſo dem Thore hinaus gehe, den Weg, den ich zum erſtenmal fuhr,
Lotten zum Tanze zu holen, wie war das all ſo anders!  Alles, alles iſt
vorüber gegangen!  Kein Wink der vorigen Welt, kein Pulſſchlag meines
damaligen Gefühls.  Mir iſt's, wie's einem Geiſte ſeyn müßte, der in das
verſengte verſtörte Schloß zurükkehrte, das er als blühender Fürſt einſt
gebaut und mit allen Gaben der Herrlichkeit auſgeſtattet, ſterbend
ſeinem geliebten Sohne hoffnungſvoll hinterlaſſen.

am 3. September.

Ich begreife manchmal nicht, wie ſie ein anderer lieb haben kann, lieb
haben darf, da ich ſie ſo ganz allein, ſo innig, ſo voll liebe, nichts
anders kenne, noch weis, noch habe als ſie.

am 6. Sept.

Es hat ſchwer gehalten, bis ich mich entſchloß, meinen blauen einfachen
Frak, in dem ich mit Lotten zum erſtenmal tanzte, abzulegen, er ward
aber zulezt gar unſcheinbar.  Auch hab ich mir einen machen laſſen, ganz
wie den vorigen, Kragen und Aufſchlag und auch wieder ſo gelbe Weſt und
Hoſen dazu.

Ganz will's es doch nicht thun.  Ich weis nicht - Ich denke mit der Zeit
ſoll mir der auch lieber werden.

am 15. Sept.

Man möchte ſich dem Teufel ergeben, Wilhelm, über all die Hunde, die
Gott auf Erden duldet, ohne Sinn und Gefühl an dem wenigen, was drauf
noch was werth iſt.  Du kennſt die Nußbäume, unter denen ich bey dem
ehrlichen Pfarrer zu St.., mit Lotten geſeſſen, die herrlichen Nußbäume,
die mich, Gott weis, immer mit dem gröſten Seelenvergnügen füllten.  Wie
vertraulich ſie den Pfarrhof machten, wie kühl und wie herrlich die
Aeſte waren.  Und die Erinnerung bis zu den guten Kerls von Pfarrers,
die ſie vor ſo viel Jahren pflanzten.  Der Schulmeiſter hat uns den
einen Namen oft genannt, den er von ſeinem Groſvater gehört hatte, und
ſo ein braver Mann ſoll er geweſen ſeyn, und ſein Andenken war mir immer
heilig, unter den Bäumen.  Ich ſage Dir, dem Schulmeiſter ſtanden die
Thränen in den Augen, da wir geſtern davon redeten, daß ſie abgehauen
worden - Abgehauen!  Ich möchte raſend werden, ich könnte den Hund
ermorden, der den erſten Hieb dran that.  Ich, der ich könnte mich
vertrauren, wenn ſo ein paar Bäume in meinem Hofe ſtünden, und einer
davon ſtürbe vor Alter ab, ich muß ſo zuſehn.  Lieber Schaz, eins iſt
doch dabey!  Was Menſchengefühl iſt!  Das ganze Dorf murrt, und ich
hoffe, die Frau Pfarrern ſoll's an Butter und Eyern und übrigem Zutrauen
ſpüren, was für eine Wunde ſie ihrem Orte gegeben hat.  Denn ſie iſt's,
die Frau des neuen Pfarrers, unſer Alter iſt auch geſtorben, ein
hageres, kränkliches Thier, das ſehr Urſache hat, an der Welt keinen
Antheil zu nehmen, denn niemand nimmt Antheil an ihr.  Eine Frazze, die
ſich abgiebt gelehrt zu ſeyn, ſich in die Unterſuchung des Canons
melirt, gar viel an der neumodiſchen moraliſch kritiſchen Reformation
des Chriſtenthums arbeitet, und über Lavaters Schwärmereyen die Achſeln
zukt, eine ganz zerrüttete Geſundheit hat, und auf Gottes Erdboden
deſwegen keine Freude.  So ein Ding war's auch allein, um meine Nußbäume
abzuhauen.  Siehſt du, ich komme nicht zu mir!  Stelle dir vor, die
abfallenden Blätter machen ihr den Hof unrein und dumpfig, die Bäume
nehmen ihr das Tageſlicht, und wenn die Nüſſe reif ſind, ſo werfen die
Knaben mit Steinen darnach, und das fällt ihr auf die Nerven, und das
ſtört ſie in ihren tiefen Ueberlegungen, wenn ſie Kennikot, Semler und
Michaelis gegen einander abwiegt.  Da ich die Leute im Dorfe, beſonders
die Alten, ſo unzufrieden ſah, ſagt' ich: warum habt ihr's gelitten? -
Wenn der Schulz will, hier zu Lande, ſagten ſie, was kann man machen.
Aber eins iſt recht geſchehn, der Schulz und der Pfarrer, der doch auch
von ſeiner Frauen Grillen, die ihm ſo die Suppen nicht fett machen,
etwas haben wollte, dachtens mit einander zu theilen, da erfuhr's die
Kammer und ſagte: hier herein!  und verkaufte die Bäume an den
Meiſtbietenden.  Sie liegen!  O wenn ich Fürſt wäre!  Ich wollt die
Pfarrern, den Schulzen und die Kammer - Fürſt! - Ja wenn ich Fürſt
wäre, was kümmerten mich die Bäume in meinem Lande.

am 10. Oktober.

Wenn ich nur ihre ſchwarzen Augen ſehe, iſt mirs ſchon wohl!  Sieh, und
was mich verdrüſt, iſt, daß Albert nicht ſo beglükt zu ſeyn ſcheinet,
als er - hoffte - als ich - zu ſeyn glaubte - wenn - Ich mache nicht
gern Gedankenſtriche, aber hier kann ich mich nicht anders auſdrukken -
und mich dünkt deutlich genug.

am 12. Oktober.

Oſſian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt.  Welch eine Welt, in
die der Herrliche mich führt.  Zu wandern über die Haide, umſaußt vom
Sturmwinde, der in dampfenden Nebeln, die Geiſter der Väter im
dämmernden Lichte des Mondes hinführt.  Zu hören vom Gebürge her, im
Gebrülle des Waldſtroms, halb verwehtes Aechzen der Geiſter aus ihren
Hölen und die Wehklagen des zu Tode gejammerten Mädgens, um die vier
mooſbedekten, graſbewachſnen Steine des edelgefallnen ihres Geliebten.
Wenn ich ihn denn finde, den wandelnden grauen Barden, der auf der
weiten Haide die Fuſtapfen ſeiner Väter ſucht und ach!  ihre Grabſteine
findet.  Und dann jammernd nach dem lieben Sterne des Abends hinblikt,
der ſich in's rollende Meer verbirgt, und die Zeiten der Vergangenheit
in des Helden Seele lebendig werden, da noch der freundliche Stral den
Gefahren der Tapfern leuchtete, und der Mond ihr bekränztes,
ſiegrükkehrendes Schiff beſchien.  Wenn ich ſo den tiefen Kummer auf
ſeiner Stirne leſe, ſo den lezten verlaßnen Herrlichen in aller
Ermattung dem Grabe zu wanken ſehe, wie er immer neue, ſchmerzlich
glühende Freuden in der kraftloſen Gegenwart der Schatten ſeiner
Abgeſchiedenen einſaugt, und nach der kalten Erde dem hohen wehenden
Graſe niederſieht, und auſruft: Der Wanderer wird kommen, kommen, der
mich kannte in meiner Schönheit und fragen, wo iſt der Sänger, Fingals
treflicher Sohn?  Sein Fuſtritt geht über mein Grab hin, und er fragt
vergebens nach mir auf der Erde.  O Freund!  ich möchte gleich einem
edlen Waffenträger das Schwerd ziehen und meinen Fürſten von der
zükkenden Quaal des langſam abſterbenden Lebens auf einmal befreyen, und
dem befreyten Halbgott meine Seele nachſenden.

am 19. Oktober.

Ach dieſe Lükke!  Dieſe entſezliche Lükke, die ich hier in meinem Buſen
fühle!  ich denke oft! - Wenn du ſie nur einmal, nur einmal an dieſes
Herz drükken könnteſt.  All dieſe Lükke würde auſgefüllt ſeyn.

am 26. Oktober.

Ja es wird mir gewiß, Lieber!  gewiß und immer gewiſſer, daß an dem
Daſeyn eines Geſchöpfs ſo wenig gelegen iſt, ganz wenig.  Es kam eine
Freundinn zu Lotten, und ich gieng herein in's Nebenzimmer, ein Buch zu
nehmen, und konnte nicht leſen, und dann nahm ich eine Feder zu
ſchreiben.  Ich hörte ſie leiſe reden, ſie erzählten einander inſofern
unbedeutende Sachen, Stadtneuigkeiten: wie dieſe heyrathet, wie jene
krank, ſehr krank iſt.  Sie hat einen troknen Huſten, die Knochen ſtehn
ihr zum Geſichte heraus, und kriegt Ohnmachten, ich gebe keinen Kreuzer
für ihr Leben, ſagte die eine.  Der N.  N.  iſt auch ſo übel dran, ſagte
Lotte.  Er iſt ſchon geſchwollen, ſagte die andre.  Und meine lebhafte
Einbildungskraft verſezte mich an's Bette dieſer Armen, ich ſah ſie, mit
welchem Widerwillen ſie dem Leben den Rükken wandten, wie ſie - Wilhelm,
und meine Weibgens redeten davon, wie man eben davon redt: daß ein
Fremder ſtirbt. - Und wenn ich mich umſehe, und ſeh das Zimmer an, und
rings um mich Lottens Kleider, hier ihre Ohrringe auf dem Tiſchgen, und
Alberts Scripturen und dieſe Meubels, denen ich nun ſo befreundet bin,
ſogar dieſem Dintefaß, und denke: Sieh, was du nun dieſem Hauſe biſt!
Alles in allem.  Deine Freunde ehren dich!  Du machſt oft ihre Freude,
und deinem Herzen ſcheint's, als wenn es ohne ſie nicht ſeyn könnte, und
doch - wenn du nun giengſt?  wenn du aus dieſem Kreiſe ſchiedeſt, würden
ſie?  wie lange würden ſie die Lükke fühlen, die dein Verluſt in ihr
Schikſal reißt?  wie lang? - O ſo vergänglich iſt der Menſch, daß er
auch da, wo er ſeines Daſeyns eigentliche Gewißheit hat, da, wo er den
einzigen wahren Eindruk ſeiner Gegenwart macht; in dem Andenken in der
Seele ſeiner Lieben, daß er auch da verlöſchen, verſchwinden muß, und
das - ſo bald!

am 27. Oktober.

Ich möchte mir oft die Bruſt zerreiſſen und das Gehirn einſtoßen, daß
man einander ſo wenig ſeyn kann.  Ach die Liebe und Freude und Wärme und
Wonne, die ich nicht hinzu bringe, wird mir der andre nicht geben, und
mit einem ganzen Herzen voll Seligkeit, werd ich den andern nicht
beglükken der kalt und kraftlos vor mir ſteht.

am 30. Oktober.

Wenn ich nicht ſchon hundertmal auf dem Punkte geſtanden bin, ihr um den
Hals zu fallen.  Weiß der groſſe Gott, wie einem das thut, ſo viel
Liebenſwürdigkeit vor ſich herumkreuzen zu ſehn und nicht zugreifen zu
dürfen.  Und das Zugreifen iſt doch der natürlichſte Trieb der
Menſchheit.  Greifen die Kinder nicht nach allem, was ihnen in Sinn
fällt?  Und ich?

am 3. November.

Weis Gott, ich lege mich ſo oft zu Bette mit dem Wunſche, ja manchmal
mit der Hofnung, nicht wieder zu erwachen, und Morgens ſchlag ich die
Augen auf, ſehe die Sonne wieder und bin elend.  O daß ich launiſch ſeyn
könnte, könnte die Schuld auf's Wetter, auf einen dritten, auf eine
fehlgeſchlagene Unternehmung ſchieben; ſo würde die unerträgliche Laſt
des Unwillens doch nur halb auf mir ruhen.  Weh mir, ich fühle zu wahr,
daß an mir allein alle Schuld liegt - nicht Schuld!  Genug daß in mir
die Quelle alles Elendes verborgen iſt, wie es ehemals die Quelle aller
Seligkeiten war.  Bin ich nicht noch eben derſelbe, der ehemals in aller
Fülle der Empfindung herumſchwebte, dem auf jedem Tritte ein Paradies
folgte, der ein Herz hatte, eine ganze Welt liebevoll zu umfaſſen.  Und
das Herz iſt jezo todt, aus ihm fließen keine Entzükkungen mehr, meine
Augen ſind trokken, und meine Sinnen, die nicht mehr von erquikkenden
Thränen gelabt werden, ziehen ängſtlich meine Stirne zuſammen.  Ich
leide viel, denn ich habe verlohren, was meines Lebens einzige Wonne
war, die heilige belebende Kraft, mit der ich Welten um mich ſchuf.  Sie
iſt dahin! - Wenn ich zu meinem Fenſter hinaus an den fernen Hügel
ſehe, wie die Morgenſonne über ihn her den Nebel durchbricht und den
ſtillen Wieſengrund beſcheint, und der ſanfte Fluß zwiſchen ſeinen
entblätterten Weiden zu mir herſchlängelt, o wenn da dieſe herrliche
Natur ſo ſtarr vor mir ſteht wie ein lakirt Bildgen, und all die Wonne
keinen Tropfen Seligkeit aus meinem Herzen herauf in das Gehirn pumpen
kann, und der ganze Kerl vor Gottes Angeſicht ſteht wie ein verſiegter
Brunn, wie ein verlechter Eymer!  Ich habe mich ſo oft auf den Boden
geworfen und Gott um Thränen gebeten, wie ein Akkerſmann um Regen, wenn
der Himmel ehern über ihm iſt, und um ihn die Erde verdürſtet.

Aber, ach ich fühls!  Gott giebt Regen und Sonnenſchein nicht unſerm
ungeſtümen Bitten, und jene Zeiten, deren Andenken mich quält, warum
waren ſie ſo ſelig?  als weil ich mit Geduld ſeinen Geiſt erwartete, und
die Wonne, die er über mich auſgoß mit ganzem, innig dankbarem Herzen
aufnahm.

am 8. Nov.

Sie hat mir meine Exzeſſe vorgeworfen!  Ach mit ſo viel
Liebenſwürdigkeit!  Meine Exzeſſe, daß ich mich manchmal von einem Glas
Wein verleiten laſſe, eine Bouteille zu trinken.  Thun Sie's nicht!
ſagte ſie, denken Sie an Lotten! - Denken!  ſagt' ich, brauchen Sie mir
das zu heiſſen?  Ich denke! - Ich denke nicht!  Sie ſind immer vor
meiner Seelen.  Heut ſaß ich an dem Flekke, wo Sie neulich aus der
Kutſche ſtiegen - Sie redte was anders, um mich nicht tiefer in den Text
kommen zu laſſen.  Beſter, ich bin dahin!  Sie kann mit mir machen was
ſie will.

am 15.Nov.

Ich danke Dir, Wilhelm, für Deinen herzlichen Antheil, für Deinen
wohlmeynenden Rath, und bitte Dich, ruhig zu ſeyn.  Laß mich auſdulden,
ich habe bey all meiner Müdſeligkeit noch Kraft genug durchzuſezzen.
Ich ehre die Religion, das weiſt Du, ich fühle, daß ſie manchem
Ermatteten Stab, manchem Verſchmachtenden Erquikkung iſt.  Nur - kann
ſie denn, muß ſie denn das einem jeden ſeyn?  Wenn Du die groſſe Welt
anſiehſt; ſo ſiehſt du Tauſende, denen ſie's nicht war, Tauſende, denen
ſie's nicht ſeyn wird, gepredigt oder ungepredigt, und muß ſie mir's
denn ſeyn?  Sagt nicht ſelbſt der Sohn Gottes: daß die um ihn ſeyn
würden, die ihm der Vater gegeben hat.  Wenn ich ihm nun nicht gegeben
bin!  Wenn mich nun der Vater für ſich behalten will, wie mir mein Herz
ſagt!  Ich bitte Dich, lege das nicht falſch aus, ſieh nicht etwa Spott
in dieſen unſchuldigen Worten, es iſt meine ganze Seele, die ich dir
vorlege.  Sonſt wollt ich lieber, ich hätte geſchwiegen, wie ich denn
über all das, wovon jedermann ſo wenig weis als ich, nicht gern ein Wort
verliehre.  Was iſt's anders als Menſchenſchikſal, ſein Maas
auſzuleiden, ſeinen Becher auſzutrinken! - Und ward der Kelch dem Gott
vom Himmel auf ſeiner Menſchenlippe zu bitter, warum ſoll ich gros thun
und mich ſtellen, als ſchmekte er mir ſüſſe.  Und warum ſollte ich mich
ſchämen in dem ſchröklichen Augenblikke, da mein ganzes Weſen zwiſchen
Seyn und Nichtſeyn zittert, da die Vergangenheit wie ein Bliz über dem
finſtern Abgrunde der Zukunft leuchtet, und alles um mich her verſinkt,
und mit mir die Welt untergeht. - Iſt es da nicht die Stimme der ganz
in ſich gedrängten, ſich ſelbſt ermangelnden und unaufhaltſam
hinabſtürzenden Creatur, in den innern Tiefen ihrer vergebens
aufarbeitenden Kräfte zu knirſchen.  Mein Gott!  Mein Gott!  warum haſt
du mich verlaſſen?  Und ſollt ich mich des Auſdruks ſchämen, ſollte
mir's vor dem Augenblikke bange ſeyn, da ihm der nicht entgieng, der die
Himmel zuſammenrollt wie ein Tuch.

am 21. Nov.

Sie ſieht nicht, ſie fühlt nicht, daß ſie einen Gift bereitet, der mich
und ſie zu Grunde richten wird.  Und ich mit voller Wolluſt ſchlurfe den
Becher aus, den ſie mir zu meinem Verderben reicht.  Was ſoll der gütige
Blik, mit dem ſie mich oft - oft? - nein nicht oft, aber doch manchmal
anſieht, die Gefälligkeit, womit ſie einen unwillkührlichen Auſdruk
meines Gefühls aufnimmt, das Mitleiden mit meiner Duldung, das ſich auf
ihrer Stirne zeichnet.

Geſtern als ich weggieng, reichte ſie mir die Hand und ſagte: Adieu,
lieber Werther!  Lieber Werther!  Es war das erſtemal, daß ſie mich
Lieber hies, und mir giengs durch Mark und Bein.  Ich hab mir's
hundertmal wiederholt und geſtern Nacht da ich in's Bette gehen wollte,
und mit mir ſelbſt allerley ſchwazte, ſag ich ſo auf einmal: gute Nacht,
lieber Werther!  Und mußte hernach ſelbſt über mich lachen.

am 24. Nov.

Sie fühlt, was ich dulde.  Heut iſt mir ihr Blik tief durch's Herz
gedrungen.  Ich fand ſie allein.  Ich ſagte nichts und ſie ſah mich an.
Und ich ſah nicht mehr in ihr die liebliche Schönheit, nicht mehr das
Leuchten des treflichen Geiſtes; das war all vor meinem Auge
verſchwunden.  Ein weit herrlicherer Blik würkte auf mich, voll Auſdruk
des innigſten Antheils, des ſüßten Mitleidens.  Warum durft' ich mich
nicht ihr zu Füſſen werfen!  warum durft ich nicht an ihrem Halſe mit
tauſend Küſſen antworten - Sie nahm ihre Zuflucht zum Claviere und
hauchte mit ſüſſer leiſer Stimme harmoniſche Laute zu ihrem Spiele.  Nie
hab ich ihre Lippen ſo reizend geſehn, es war, als wenn ſie ſich
lechzend öffneten, jene ſüſſe Töne in ſich zu ſchlürfen, die aus dem
Inſtrumente hervorquollen, und nur der heimliche Wiederſchall aus dem
ſüſſen Munde zurükklänge - Ja wenn ich dir das ſo ſagen könnte!  Ich
widerſtund nicht länger, neigte mich und ſchwur: Nie will ich's wagen,
einen Kuß euch einzudrükken Lippen, auf denen die Geiſter des Himmels
ſchweben - Und doch - ich will - Ha ſiehſt du, das ſteht wie eine
Scheidewand vor meiner Seelen - dieſe Seligkeit - und dann
untergegangen, die Sünde abzubüſſen - Sünde?

am 30. Nov.

Ich ſoll, ich ſoll nicht zu mir ſelbſt kommen, wo ich hintrete, begegnet
mir eine Erſcheinung, die mich aus aller Faſſung bringt.  Heut!  O
Schikſal!  O Menſchheit!

Ich gehe an dem Waſſer hin in der Mittagſſtunde, ich hatte keine Luſt zu
eſſen.  Alles war ſo öde, ein naßkalter Abendwind blies vom Berge, und
die grauen Regenwolken zogen das Thal hinein.  Von ferne ſeh ich einen
Menſchen in einem grünen, ſchlechten Rokke, der zwiſchen den Felſen
herumkrabelte und Kräuter zu ſuchen ſchien.  Als ich näher zu ihm kam
und er ſich auf das Geräuſch, das ich machte, herumdrehte, ſah ich eine
gar intereſſante Phyſiognomie, darinn eine ſtille Trauer den Hauptzug
machte, die aber ſonſt nichts als einen graden guten Sinn auſdrükte,
ſeine ſchwarzen Haare waren mit Nadeln in zwey Rollen geſtekt, und die
übrigen in einen ſtarken Zopf geflochten, der ihm den Rükken herunter
hieng.  Da mir ſeine Kleidung einen Menſchen von geringem Stande zu
bezeichnen ſchien, glaubt' ich, er würde es nicht übel nehmen, wenn ich
auf ſeine Beſchäftigung aufmerkſam wäre, und daher fragte ich ihn, was
er ſuchte.  Ich ſuche, antwortete er mit einem tiefen Seufzer, Blumen -
und finde keine - Das iſt auch die Jahrszeit nicht, ſagt' ich lächelnd.
- Es giebt ſo viel Blumen, ſagt er, indem er zu mir herunter kam.  In
meinem Garten ſind Roſen und Je länger ie lieber zweyerley Sorten, eine
hat mir mein Vater gegeben, ſie wachſen wie's Unkraut, ich ſuche ſchon
zwey Tage darnach, und kann ſie nicht finden.  Da haußen ſind auch immer
Blumen, gelbe und blaue und rothe, und das Tauſend Güldenkraut hat ein
ſchön Blümgen.  Keines kann ich finden.  Ich merkte was unheimliches,
und drum fragte ich durch einen Umweg: Was will er denn mit den Blumen?
Ein wunderbares zukkendes Lächlen verzog ſein Geſicht.  Wenn er mich
nicht verrathen will, ſagt er, indem er den Finger auf den Mund drükte,
ich habe meinem Schazze einen Straus verſprochen.  Das iſt brav, ſagt
ich.  O ſagt' er, ſie hat viel andre Sachen, ſie iſt reich.  Und doch
hat ſie ſeinen Straus lieb, verſezt ich.  O!  fuhr er fort, ſie hat
Juwelen und eine Krone.  Wie heißt ſie denn? - Wenn mich die
Generalſtaaten bezahlen wollten!  verſezte er, ich wär ein anderer
Menſch!  Ja es war einmal eine Zeit, da mir's ſo wohl war.  Jezt iſt's
aus mit mir, ich bin nun - Ein naſſer Blik zum Himmel drükte alles aus.
Er war alſo glüklich?  fragt ich.  Ach ich wollt ich wäre wieder ſo!
ſagt' er, da war mir's ſo wohl, ſo luſtig, ſo leicht wie ein Fiſch im
Waſſer!  Heinrich!  rufte eine alte Frau, die den Weg herkam.  Heinrich,
wo ſtikſt du?  Wir haben dich überall geſucht.  Komm zum Eſſen.  Iſt das
Euer Sohn?  fragt' ich zu ihr tretend.  Wohl, mein armer Sohn, verſezte
ſie.  Gott hat mir ein ſchweres Kreuz aufgelegt.  Wie lang iſt er ſo?
fragt ich.  So ſtille, ſagte ſie, iſt er nun ein halb Jahr.  Gott ſey
Dank, daß es nur ſo weit iſt.  Vorher war er ein ganz Jahr raſend, da
hat er an Ketten im Tollhauſe gelegen.  Jezt thut er niemand nichts, nur
hat er immer mit Königen und Kayſern zu thun.  Es war ein ſo guter
ſtiller Menſch, der mich ernähren half, ſeine ſchöne Hand ſchrieb, und
auf einmal wird er tiefſinnig, fällt in ein hitzig Fieber, daraus in
Raſerey, und nun iſt er, wie ſie ihn ſehen.  Wenn ich ihm erzählen
ſollt, Herr - Ich unterbrach ihren Strom von Erzählungen mit der Frage:
was denn das für eine Zeit wäre von der er ſo rühmte, daß er ſo
glüklich, ſo wohl darinn geweſen wäre.  Der thörige Menſch, rief ſie mit
mitleidigem Lächlen, da meint er die Zeit, da er von ſich war, das rühmt
er immer!  Das iſt die Zeit, da er im Tollhauſe war, wo er nichts von
ſich wußte - Das fiel mir auf wie ein Donnerſchlag, ich drückte ihr ein
Stük Geld in die Hand und verließ ſie eilend.

Da du glüklich warſt!  rief ich aus, ſchnell vor mich hin nach der Stadt
zu gehend.  Da dir's wohl war wie einem Fiſch im Waſſer! - Gott im
Himmel!  Haſt du das zum Schikſaal der Menſchen gemacht, daß ſie nicht
glüklich ſind, als eh ſie zu ihrem Verſtande kommen, und wenn ſie ihn
wieder verliehren!  Elender und auch wie beneid ich deinen Trübſinn, die
Verwirrung deiner Sinne, in der du verſchmachteſt!  Du gehſt
hoffnungſvoll aus, deiner Königin Blumen zu pflükken - im Winter - und
traureſt, da du keine findeſt, und begreifſt nicht, warum, du keine
finden kannſt.  Und ich - und ich gehe ohne Hoffnung, ohne Zwek heraus,
und kehr wieder heim, wie ich gekommen bin. - Du wähnſt, welcher Menſch
du ſeyn würdeſt, wenn die Generalſtaaten dich bezahlten.  Seliges
Geſchöpf, das den Mangel ſeiner Glükſeligkeit einer irdiſchen Hinderniß
zuſchreiben kann. - Du fühlſt nicht!  Du fühlſt nicht!  daß in deinem
zerſtörten Herzen, in deinem zerrütteten Gehirne dein Elend liegt, wovon
alle Könige der Erde dir nicht helfen können.

Müſſe der troſtlos umkommen, der eines Kranken ſpottet, der nach der
entfernteſten Quelle reiſt die ſeine Krankheit vermehren, ſein Auſleben
ſchmerzhafter machen wird, der ſich über das bedrängte Herz erhebt, das,
um ſeine Gewiſſenſbiſſe los zu werden und die Leiden ſeiner Seele
abzuthun, ſeine Pilgrimſchaft nach dem heiligen Grabe thut!  Jeder
Fußtritt der ſeine Solen auf ungebahntem Wege durchſchneidet, iſt ein
Lindrungſtropfen der geängſteten Seele, und mit jeder auſgedauerten
Tagreiſe legt ſich das Herz um viel Bedrängniß leichter nieder. - Und
dürft ihr das Wahn nennen - Ihr Wortkrämer auf euren Polſtern - Wahn! -
O Gott!  du ſiehſt meine Thränen - Mußteſt du, der du den Menſchen arm
genug erſchufſt, ihm auch Brüder zugeben, die ihm das bißgen Armuth, das
bißgen Vertrauen noch raubten, das er auf dich hat, auf dich, du
Alliebender, denn das Vertrauen zu einer heilenden Wurzel, zu den
Thränen des Weinſtoks, was iſt's, als Vertrauen zu dir, daß du in alles,
was uns umgiebt, Heil und Lindrungſkraft gelegt haſt, der wir ſo
ſtündlich bedürfen. - Vater, den ich nicht kenne!  Vater, der ſonſt
meine ganze Seele füllte, und nun ſein Angeſicht von mir gewendet hat!
Rufe mich zu dir!  Schweige nicht länger!  Dein Schweigen wird dieſe
durſtende Seele nicht aufhalten - Und würde ein Menſch, ein Vater zürnen
können, dem ſein unvermuthet rük kehrender Sohn um den Hals fiele und
rief: Ich bin wieder da mein Vater.  Zürne nicht, daß ich die
Wanderſchaft abbreche, die ich nach deinem Willen länger auſhalten
ſollte.  Die Welt iſt überall einerley, auf Müh und Arbeit, Lohn und
Freude; aber was ſoll mir das?  mir iſt nur wohl, wo du biſt, und vor
deinem Angeſichte will ich leiden und genießen. - Und du, lieber
himmliſcher Vater, ſollteſt ihn von dir weiſen?

am 1. Dez.

Wilhelm!  der Menſch, von dem ich Dir ſchrieb, der glükliche
Unglükliche, war Schreiber bey Lottens Vater, und eine unglükliche
Leidenſchaft zu ihr, die er nährte, verbarg, entdekte, und aus dem
Dienſt geſchikt wurde, hat ihn raſend gemacht.  Fühle Kerl, bey dieſen
troknen Worten, mit welchem Unſinne mich die Geſchichte ergriffen hat,
da mir ſie Albert eben ſo gelaſſen erzählte, als du's vielleicht
lieſeſt.

am 4. Dez.

Ich bitte dich - ſiehſt du, mit mir iſt's aus - Ich trag das all nicht
länger.  Heut ſas ich bey ihr - ſas, ſie ſpielte auf ihrem Clavier,
manchfaltige Melodien und all den Auſdruk!  all!  all! - Was willſt Du?
- Ihr Schweſtergen puzte ihre Puppe auf meinem Knie.  Mir kamen die
Thränen in die Augen.  Ich neigte mich und ihr Trauring fiel mir in's
Geſicht - Meine Thränen floſſen - Und auf einmal fiel ſie in die alte
himmelſüſſe Melodie ein, ſo auf einmal, und mir durch die Seele gehn ein
Troſtgefühl und eine Erinnerung all des Vergangenen, all der Zeiten, da
ich das Lied gehört, all der düſtern Zwiſchenräume des Verdruſſes, der
fehlgeſchlagenen Hoffnungen, und dann - Ich gieng in der Stube auf und
nieder, mein Herz erſtikte unter all dem.  Um Gottes Willen, ſagt ich,
mit einem heftigen Auſbruch hin gegen ſie fahrend, um Gottes Willen
hören ſie auf.  Sie hielt, und ſah mich ſtarr an.  Werther, ſagte ſie,
mit einem Lächlen, das mir durch die Seele gieng, Werther, ſie ſind ſehr
krank, ihre Lieblingsgerichte widerſtehen ihnen.  Gehen ſie!  Ich bitte
ſie, beruhigen ſie ſich.  Ich riß mich von ihr weg, und - Gott!  du
ſiehſt mein Elend, und wirſt es enden.

am 6. Dez.

Wie mich die Geſtalt verfolgt.  Wachend und träumend füllt ſie meine
ganze Seele.  Hier, wenn ich die Augen ſchlieſſe, hier in meiner Stirne,
wo die innere Sehkraft ſich vereinigt, ſtehen ihre ſchwarzen Augen.
Hier!  Ich kann dir's nicht auſdrükken.  Mach ich meine Augen zu, ſo
ſind ſie da, wie ein Meer, wie ein Abgrund ruhen ſie vor mir, in mir,
füllen die Sinnen meiner Stirne.

Was iſt der Menſch?  der geprieſene Halbgott!  Ermangeln ihm nicht da
eben die Kräfte wo er ſie am nöthigſten braucht?  Und wenn er in Freude
ſich aufſchwingt, oder im Leiden verſinkt, wird er nicht in beyden eben
da aufgehalten, eben da wieder zu dem ſtumpfen kalten Bewuſtſeyn zurük
gebracht, da er ſich in der Fülle des Unendlichen zu verliehren ſehnte.

am 8. Dez.

Lieber Wilhelm, ich bin in einem Zuſtande, in dem jene Unglüklichen
müſſen geweſen ſeyn, von denen man glaubte, ſie würden von einem böſen
Geiſte umhergetrieben.  Manchmal ergreift mich's, es iſt nicht Angſt,
nicht Begier!  es iſt ein inneres unbekanntes Toben, das meine Bruſt zu
zerreiſſen droht, das mir die Gurgel zupreßt!  Wehe!  Wehe!  Und dann
ſchweif ich umher in den furchtbaren nächtlichen Scenen dieſer
menſchenfeindlichen Jahrszeit.

Geſtern Nacht mußt ich hinaus.  Ich hatte noch Abends gehört, der Fluß
ſey übergetreten und die Bäche all, und von Wahlheim herunter all mein
Liebeſthal überſchwemmt.  Nachts nach eilf rannt ich hinaus.  Ein
fürchterliches Schauſpiel.  Vom Fels herunter die wühlenden Fluthen in
dem Mondlichte wirbeln zu ſehn, über Aekker und Wieſen und Hekken und
alles, und das weite Thal hinauf und hinab eine ſtürmende See im Sauſen
des Windes.  Und wenn denn der Mond wieder hervortrat und über der
ſchwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus die Fluth in fürchterlich
herrlichen Wiederſchein rollte und klang, da überfiel mich ein Schauer,
und wieder ein Sehnen!  Ach!  Mit offenen Armen ſtand ich gegen den
Abgrund, und athmete hinab!  hinab, und verlohr mich in der Wonne, all
meine Quaalen all mein Leiden da hinab zu ſtürmen, dahin zu brauſen wie
die Wellen.  Oh!  Und den Fuß vom Boden zu heben!  Vermochteſt du nicht
und alle Qualen zu enden! - Meine Uhr iſt noch nicht auſgelaufen - ich,
fühl's!  O Wilhelm, wie gern hätt ich all mein Menſchſeyn drum gegeben,
mit jenem Sturmwinde die Wolken zu zerreiſſen, die Fluthen zu faſſen.
Ha!  Und wird nicht vielleicht dem Eingekerkerten einmal dieſe Wonne zu
Theil! -

Und wie ich wehmüthig hinab ſah auf ein Plätzgen, wo ich mit Lotten
unter einer Weide geruht, auf einem heiſſen Spaziergange, das war auch
überſchwemmt, und kaum daß ich die Weide erkannte!  Wilhelm.  Und ihre
Wieſen, dacht ich, und all die Gegend um ihr Jagdhaus, wie jezt vom
reiſſenden Strome, verſtört unſere Lauben, dacht ich.  Und der
Vergangenheit Sonnenſtrahl blikte herein - Wie einem Gefangenen ein
Traum von Heerden, Wieſen und Ehrenämtern.  Ich ſtand! - Ich ſchelte
mich nicht, denn ich habe Muth zu ſterben - Ich hätte - Nun ſiz ich hier
wie ein altes Weib, das ihr Holz an Zäunen ſtoppelt, und ihr Brod an den
Thüren, um ihr hinſterbendes freudloſes Daſeyn noch einen Augenblik zu
verlängern und zu erleichtern.

am 17. Dez.

Was iſt das, mein Lieber?  Ich erſchrekke vor mir ſelbſt!  Iſt nicht
meine Liebe zu ihr die heiligſte, reinſte, brüderlichſte Liebe?  Hab ich
jemals einen ſtrafbaren Wunſch in meiner Seele gefühlt - ich will nicht
betheuren - und nun - Träume!  O wie wahr fühlten die Menſchen, die ſo
widerſprechende Würkungen fremden Mächten zuſchrieben.  Dieſe Nacht!
Ich zittere, es zu ſagen, hielt ich ſie in meinen Armen, feſt an meinen
Buſen gedrükt, und dekte ihren lieben liſpelnden Mund mit unendlichen
Küſſen.  Mein Auge ſchwamm in der Trunkenheit des ihrigen.  Gott!  bin
ich ſtrafbar, daß ich auch jezt noch eine Seligkeit fühle, mir dieſe
glühende Freuden mit voller Innigkeit zurük zu rufen, Lotte!  Lotte! -
Und mit mir iſt's aus!  Meine Sinnen verwirren ſich.  Schon acht Tage
hab ich keine Beſinnungſkraft, meine Augen ſind voll Thränen.  Ich bin
nirgends wohl und überall wohl.  Ich wünſche nichts, verlange nichts.
Mir wärs beſſer ich gienge.


D e r  H e r a u s g e b e r an den Leſer.

Die auſführliche Geſchichte der lezten merkwürdigen Tage unſers Freundes
zu liefern, ſeh ich mich genöthiget, ſeine Briefe durch Erzäh-lung zu
unterbrechen, wozu ich den Stoff aus dem Munde Lottens, Albertens,
ſeines Bedienten und anderer Zeugen geſammlet habe.

Werthers Leidenſchaft hatte den Frieden zwiſchen Alberten und ſeiner
Frau allmählig untergraben, dieſer liebte ſie mit der ruhigen Treue
eines rechtſchafnen Manns, und der freundliche Umgang mit ihr
ſubordinirte ſich nach und nach ſeinen Geſchäften.  Zwar wollte er ſich
nicht den Unterſchied geſtehen, der die gegenwärtige Zeit den
Bräutigamſ-Tagen ſo ungleich machte: doch fühlte er innerlich einen
gewiſſen Widerwillen gegen Werthers Aufmerkſamkeiten für Lotten, die ihn
zugleich ein Eingriff in ſeine Rechte und ein ſtiller Vorwurf zu ſeyn
ſcheinen mußten.  Dadurch ward der üble Humor vermehrt, den ihm ſeine
überhäuften, gehinderten, ſchlecht belohnten Geſchäfte manchmal gaben,
und da denn Werthers Lage auch ihn zum traurigen Geſellſchafter machte,
indem die Beängſtigung ſeines Herzens die übrige Kräfte ſeines Geiſtes,
ſeine Lebhaftigkeit, ſeinen Scharfſinn aufgezehrt hatte; ſo konnte es
nicht fehlen daß Lotte zulezt ſelbſt mit angeſtekt wurde, und in eine
Art von Schwermuth verfiel, in der Albert eine wachſende Leidenſchaft
für ihren Liebhaber und Werther einen tiefen Verdruß über das veränderte
Betragen ihres Mannes zu entdekken glaubte.  Das Miſtrauen, womit die
beyden Freunde einander anſahen, machte ihnen ihre wechſelſeitige
Gegenwart höchſt beſchwerlich.  Albert mied das Zimmer ſeiner Frau, wenn
Werther bey ihr war, und dieſer, der es merkte, ergriff nach einigen
fruchtloſen Verſuchen ganz von ihr zu laſſen, die Gelegenheit, ſie in
ſolchen Stunden zu ſehen, da ihr Mann von ſeinen Geſchäften gehalten
wurde.  Daraus entſtund neue Unzufriedenheit, die Gemüther verhezten
ſich immer mehr gegen einander, bis zulezt Albert ſeiner Frau mit
ziemlich troknen Worten ſagte: ſie möchte, wenigſtens um der Leute
willen, dem Umgange mit Werthern eine andere Wendung geben und ſeine
allzu öfteren Beſuche abſchneiden.

Ohngefähr um dieſe Zeit hatte ſich der Entſchluß, dieſe Welt zu
verlaſſen, in der Seele des armen Jungen näher beſtimmt.  Es war von
jeher ſeine Lieblingsidee geweſen, mit der er ſich, beſonders ſeit der
Rückkehr zu Lotten, immer getragen.


Doch ſollte es keine übereilte, keine raſche That ſeyn, er wollte mit
der beſten Ueberzeugung, mit der möglichſten ruhigen Entſchloſſen-heit
dieſen Schritt thun.


Seine Zweifel, ſein Streit mit ſich ſelbſt blikken aus einem Zettelgen
hervor, das wahrſcheinlich ein angefangener Brief an Wilhelmen iſt, und
ohne Datum, unter ſeinen Papieren gefunden worden.

*

Ihre Gegenwart, ihr Schikſal, ihr Theilnehmen an dem meinigen preßt noch
die lezten Thränen aus meinem verſengten Gehirn.

Den Vorhang aufzuheben und dahinter zu treten, das iſt's all!  Und warum
das Zaudern und Zagen? - Weil man nicht weis, wie's dahinten auſſieht?
- und man nicht zurükkehrt? - Und daß das nun die Eigenſchaft unſeres
Geiſtes iſt, da Verwirrung und Finſterniß zu ahnden, wovon wir nichts
Beſtimmtes wiſſen.

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---

Den Verdruß, den er bey der Geſandtſchaft gehabt, konnte er nicht
vergeſſen.  Er erwähnte deſſen ſelten, doch wenn es auch auf die
entfernteſte Weiſe geſchah, ſo konnte man fühlen, daß er ſeine Ehre
dadurch unwiederbringlich gekränkt hielte und daß ihm dieſer Vorfall
eine Abneigung gegen alle Geſchäfte und politiſche Wirkſamkeit gegeben
hatte.  Daher überließ er ſich ganz der wunderbaren Empfind- und
Denkenſart, die wir aus ſeinen Briefen kennen, und einer endloſen
Leidenſchaft, worüber noch endlich alles, was thätige Kraft an ihm war,
verlöſchen mußte.  Das ewige einerley eines traurigen Umgangs mit dem
liebenſwürdigen und geliebten Geſchöpfe, deſſen Ruhe er ſtörte, das
ſtürmende Abarbeiten ſeiner Kräfte ohne Zwek und Auſſicht drängten ihn
endlich zu der ſchröklichen That.

am 20. Dec.

Ich danke Deiner Liebe, Wilhelm, daß Du das Wort ſo aufgefangen haſt.
Ja, Du haſt recht: Mir wäre beſſer, ich gienge.  Der Vorſchlag, den Du
zu einer Rükkehr zu euch thuſt, gefällt mir nicht ganz, wenigſtens möcht
ich noch gern einen Umweg machen, beſonders da wir anhaltenden Froſt und
gute Wege zu hoffen haben.  Auch iſt's mir ſehr lieb, daß Du kommen
willſt, mich abzuholen; verzieh nur noch vierzehn Tage, und erwarte noch
einen Brief von mir mit dem weitern.  Es iſt nöthig, daß nichts gepflükt
werde, eh es reif iſt.  Und vierzehn Tage auf oder ab thun viel.  Meiner
Mutter ſollſt du ſagen: daß ſie für ihren Sohn beten ſoll und daß ich
ſie um Vergebung bitte, wegen all des Verdruſſes, den ich ihr gemacht
habe.  Das war nun mein Schikſal, die zu betrüben, denen ich Freude
ſchuldig war.  Leb wohl, mein Theuerſter.  Allen Segen des Himmels über
Dich!  Leb wohl!

===
---

An eben dem Tage, es war der Sonntag vor Weyhnachten, kam er abends zu
Lotten, und fand ſie allein.  Sie beſchäftigte ſich, einige Spielwerke
in Ordnung zu bringen, die ſie ihren kleinen Geſchwiſtern zum
Chriſtgeſchenke zurecht gemacht hatte.  Er redete von dem Vergnügen, das
die Kleinen haben würden, und von den Zeiten, da einen die unerwartete
Oeffnung der Thüre, und die Erſcheinung eines aufgeputzten Baums mit
Wachſlichtern, Zukkerwerk und Aepfeln in paradiſiſche Entzükkung ſezte.
Sie ſollen, ſagte Lotte, indem ſie ihre Verlegenheit unter ein liebes
Lächeln verbarg: Sie ſollen auch beſcheert kriegen, wenn Sie recht
geſchikt ſind, ein Wachſſtökgen und noch was. - Und was heißen Sie
geſchikt ſeyn?  rief er aus, wie ſoll ich ſeyn, wie kann ich ſeyn, beſte
Lotte? - Donnerſtag Abend, ſagte ſie, iſt Weyhnachtſabend, da kommen
die Kinder, mein Vater auch, da kriegt jedes das ſeinige, da kommen Sie
auch - aber nicht eher. - Werther ſtutzte! - Ich bitte Sie, fuhr ſie
fort, es iſt nun einmal ſo, ich bitte Sie um meiner Ruhe willen, es kann
nicht, es kann nicht ſo bleiben! - Er wendete ſeine Augen von ihr,
gieng in der Stube auf und ab, und murmelte das: es kann nicht ſo
bleiben!  zwiſchen den Zähnen.  Lotte, die den ſchröklichen Zuſtand
fühlte, worinn ihn dieſe Worte verſezt hatten, ſuchte durch allerley
Fragen ſeine Gedanken abzulenken, aber vergebens.  Nein, Lotte, rief er
aus: ich werde Sie nicht wiederſehn! - Warum das?  verſezte ſie,
Werther, Sie können, Sie müſſen uns wiederſehen, nur mäſſigen Sie ſich.
O!  warum mußten Sie mit dieſer Heftigkeit, dieſer unbezwinglich
haftenden Leidenſchaft für alles, das Sie einmal anfaſſen, gebohren
werden.  Ich bitte Sie, fuhr ſie fort, indem ſie ihn bey der Hand nahm,
mäſſigen Sie ſich, Ihr Geiſt, Ihre Wiſſenſchaft, Ihre Talente, was
bieten die Ihnen für mannigfaltige Ergözzungen dar!  ſeyn Sie ein Mann,
wenden Sie dieſe traurige Anhänglichkeit von einem Geſchöpfe, das nichts
thun kann, als Sie bedauren. - Er knirrte mit den Zähnen, und ſah ſie
düſter an.  Sie hielt ſeine Hand: Nur einen Augenblik ruhigen Sinn,
Werther, ſagte ſie.  Fühlen Sie nicht, daß Sie ſich betrügen, ſich mit
Willen zu Grunde richten?  Warum denn mich!  Werther!  Juſt mich!  das
Eigenthum eines andern.  Juſt das!  Ich fürchte, ich fürchte, es iſt nur
die Unmöglichkeit, mich zu beſizzen, die Ihnen dieſen Wunſch ſo reizend
macht.  Er zog ſeine Hand aus der ihrigen, indem er ſie mit einem
ſtarren unwilligen Blikke anſah.  Weiſe!  rief er, ſehr weiſe!  hat
vielleicht Albert dieſe Anmerkung gemacht?  Politiſch!  ſehr politiſch!
- Es kann ſie jeder machen, verſezte ſie drauf.  Und ſollte denn in der
weiten Welt kein Mädgen ſeyn, das die Wünſche Ihres Herzens erfüllte?
Gewinnen Sie's über ſich, ſuchen Sie darnach, und ich ſchwöre Ihnen, Sie
werden ſie finden.  Denn ſchon lange ängſtet mich für Sie und uns die
Einſchränkung, in die Sie ſich dieſe Zeit her ſelbſt gebannt haben.
Gewinnen Sie's über ſich!  Eine Reiſe wird Sie, muß Sie zerſtreuen!
Suchen Sie, finden Sie einen werthen Gegenſtand all Ihrer Liebe, und
kehren Sie zurük und laſſen Sie uns zuſammen die Seligkeit einer wahren
Freundſchaft genießen.


Das könnte man, ſagte er mit einem kalten Lachen, drukken laſſen und
allen Hofmeiſtern empfehlen.  Liebe Lotte, laſſen Sie mir noch ein klein
wenig Ruh, es wird alles werden. - Nur das, Werther!  daß Sie nicht
eher kommen als Weyhnachtſabend!  Er wollte antworten, und Albert trat
in die Stube.  Man bot ſich einen froſtigen guten Abend, und gieng
verlegen im Zimmer nebeneinander auf und nieder.  Werther fieng einen
unbedeutenden Diſkurs an, der bald aus war, Albert deſgleichen, der
ſodann ſeine Frau nach einigen Aufträgen fragte und, als er hörte, ſie
ſeyen noch nicht auſgerichtet, ihr ſpizze Reden gab, die Werthern
durch's Herz giengen.  Er wollte gehn, er konnte nicht und zauderte bis
Acht, da ſich denn der Unmuth und Unwillen an einander immer vermehrte,
bis der Tiſch gedekt wurde und er Huth und Stok nahm, da ihm denn Albert
ein unbedeutend Kompliment, ob er nicht mit ihnen vorlieb nehmen wollte,
mit auf den Weg gab.


Er kam nach Hauſe, nahm ſeinem Burſchen, der ihm leuchten wollte, das
Licht aus der Hand, und gieng allein in ſein Zimmer, weinte laut, redete
aufgebracht mit ſich ſelbſt, gieng heftig die Stube auf und ab, und warf
ſich endlich in ſeinen Kleidern auf's Bette, wo ihn der Bediente fand,
der es gegen Eilf wagte hinein zu gehn, um zu fragen, ob er dem Herrn
die Stiefel auſziehen ſollte, das er denn zuließ und dem Diener verbot,
des andern Morgens nicht in's Zimmer zu kommen, bis er ihm rufte.


Montags früh, den ein und zwanzigſten December, ſchrieb er folgenden
Brief an Lotten, den man nach ſeinem Tode verſiegelt auf ſeinem
Schreibtiſche gefunden und ihr überbracht hat, und den ich Abſatzweiſe
hier einrükken will, ſo wie aus den Umſtänden erhellet, daß er ihn
geſchrieben habe.

*

Es iſt beſchloſſen, Lotte, ich will ſterben, und das ſchreib ich Dir
ohne romantiſche Ueberſpannung gelaſſen, an dem Morgen des Tags, an dem
ich Dich zum lezten mal ſehn werde.  Wenn Du dieſes lieſeſt, meine
Beſte, dekt ſchon das kühle Grab die erſtarrten Reſte des Unruhigen,
Unglüklichen, der für die lezten Augenblikke ſeines Lebens keine größere
Süſſigkeit weis, als ſich mit Dir zu unterhalten.  Ich habe eine
ſchrökliche Nacht gehabt und ach eine wohlthätige Nacht, ſie iſt's, die
meinen wankenden Entſchluß befeſtiget, beſtimmt hat: ich will ſterben.
Wie ich mich geſtern von Dir riß, in der fürchterlichen Empörung meiner
Sinnen, wie ſich all all das nach meinem Herzen drängte, und mein
hoffnungſloſes, freudloſes Daſeyn neben Dir, in gräßlicher Kälte mich
anpakte; ich erreichte kaum mein Zimmer, ich warf mich auſſer mir auf
meine Knie, und o Gott!  du gewährteſt mir das lezte Labſal der
bitterſten Thränen, und tauſend Anſchläge, tauſend Auſſichten wütheten
durch meine Seele, und zulezt ſtand er da, feſt ganz der lezte einzige
Gedanke: Ich will ſterben! - Ich legte mich nieder, und Morgens, in all
der Ruh des Erwachens, ſteht er noch feſt, noch ganz ſtark in meinem
Herzen: Ich will ſterben! - Es iſt nicht Verzweiflung, es iſt
Gewißheit, daß ich auſgetragen habe, und daß ich mich opfere für Dich,
ja Lotte, warum ſollt ich's verſchweigen: eins von uns dreyen muß
hinweg, und das will ich ſeyn.  O meine Beſte, in dieſem zerriſſenen
Herzen iſt es wüthend herum geſchlichen, oft - Deinen Mann zu ermorden!
- Dich! - mich! - So ſey's denn! - Wenn du hinauf ſteigſt auf den
Berg, an einem ſchönen Sommerabende, dann erinnere Dich meiner, wie ich
ſo oft das Thal herauf kam, und dann blikke nach dem Kirchhofe hinüber
nach meinem Grabe, wie der Wind das hohe Gras im Schein der ſinkenden
Sonne hin und her wiegt. - Ich war ruhig da ich anfieng, und nun wein
ich wie ein Kind, da mir all das ſo lebhaft um mich wird. -

===
---

Gegen zehn Uhr rufte Werther ſeinem Bedienten, und unter dem Anziehen
ſagte er ihm: wie er in einigen Tagen verreiſen würde, er ſolle daher
die Kleider auſkehren und alles zum Einpakken zurechte machen, auch gab
er ihm Befehl, überall Contis zu fordern, einige auſgeliehene Bücher
abzuholen und einigen Armen, denen er wöchentlich etwas zu geben gewohnt
war, ihr Zugetheiltes auf zwey Monathe voraus zu bezahlen.

Er ließ ſich das Eſſen auf die Stube bringen, und nach Tiſche ritt er
hinaus zum Amtmanne, den er nicht zu Hauſe antraf.  Er gieng tiefſinnig
im Garten auf und ab und ſchien noch zulezt alle Schwermuth der
Erinnerung auf ſich häufen zu wollen.


Die Kleinen ließen ihn nicht lange in Ruhe, ſie verfolgten ihn, ſprangen
an ihn hinauf, erzählten ihm: daß, wenn Morgen und wieder Morgen und
noch ein Tag wäre, daß ſie die Chriſtgeſchenke bey Lotten holten, und
erzählten ihm Wunder, die ſich ihre kleine Einbildungskraft verſprach.
Morgen!  rief er aus, und wieder Morgen, und noch ein Tag!  Und küßte
ſie alle herzlich, und wollte ſie verlaſſen, als ihm der kleine noch was
in's Ohr ſagen wollte.  Der verrieth ihm, daß die großen Brüder hätten
ſchöne Neujahrſwünſche geſchrieben, ſo gros, und einen für den Papa, für
Albert und Lotte einen, und auch einen für Herrn Werther.  Die wollten
ſie des Neujahrſtags früh überreichen.


Das übermannte ihn, er ſchenkte jedem was, ſezte ſich zu Pferde, ließ
den Alten grüßen, und ritt mit Thränen in den Augen davon.


Gegen fünfe kam er nach Hauſe, befahl der Magd, nach dem Feuer zu ſehen,
und es bis in die Nacht zu unterhalten.  Dem Bedienten hieß er Bücher
und Wäſche unten in den Coffer pakken und die Kleider einnähen.  Darauf
ſchrieb er wahrſcheinlich folgenden Abſaz ſeines lezten Briefes an
Lotten.

*

Du erwarteſt mich nicht.  Du glaubſt, ich würde gehorchen und erſt
Weyhnachtſabend Dich wieder ſehn.  O Lotte!  Heut oder nie mehr.
Weyhnachtſabend hältſt Du dieſes Papier in Deiner Hand, zitterſt und
benezt es mit Deinen lieben Thränen.  Ich will, ich muß!  O wie wohl iſt
mir's, daß ich entſchloſſen bin.

===
---

Um halb ſieben gieng er nach Albertens Hauſe, und fand Lotten allein,
die über ſeinen Beſuch ſehr erſchrokken war.  Sie hatte ihrem Manne im
Diſkurs geſagt, daß Werther vor Weyhnachtſabend nicht wiederkommen
würde.  Er ließ bald darauf ſein Pferd ſatteln, nahm von ihr Abſchied
und ſagte, er wolle zu einem Beamten in der Nachbarſchaft reiten, mit
dem er Geſchäfte abzuthun habe, und ſo machte er ſich truz der übeln
Witterung fort.  Lotte, die wohl wußte, daß er dieſes Geſchäft ſchon
lange verſchoben hatte, daß es ihn eine Nacht von Hauſe halten würde,
verſtund die Pantomime nur allzu wohl und ward herzlich betrübt darüber.
Sie ſaß in ihrer Einſamkeit, ihr Herz ward weich, ſie ſah das
Vergangene, fühlte all ihren Werth und ihre Liebe zu ihrem Manne, der
nun ſtatt des verſprochenen Glüks anfieng das Elend ihres Lebens zu
machen.  Ihre Gedanken fielen auf Werthern.  Sie ſchalt ihn, und konnte
ihn nicht haſſen.  Ein geheimer Zug hatte ihr ihn vom Anfange ihrer
Bekanntſchaft theuer gemacht, und nun, nach ſo viel Zeit, nach ſo
manchen durchlebten Situationen, mußte ſein Eindruk unauſlöſchlich in
ihrem Herzen ſeyn.  Ihr gepreßtes Herz machte ſich endlich in Thränen
Luft und gieng in eine ſtille Melancholie über, in der ſie ſich je
länger je tiefer verlohr.  Aber wie ſchlug ihr Herz, als ſie Werthern
die Treppe heraufkommen und außen nach ihr fragen hörte.  Es war zu
ſpät, ſich verläugnen zu laſſen, und ſie konnte ſich nur halb von ihrer
Verwirrung ermannen, als er ins Zimmer trat.  Sie haben nicht Wort
gehalten!  rief ſie ihm entgegen.  Ich habe nichts verſprochen, war
ſeine Antwort.  So hätten Sie mir wenigſtens meine Bitte gewähren
ſollen, ſagte ſie, es war Bitte um unſerer beyder Ruhe willen.  Indem
ſie das ſprach, hatte ſie bey ſich überlegt, einige ihrer Freundinnen zu
ſich rufen zu laſſen.  Sie ſollten Zeugen ihrer Unterredung mit Werthern
ſeyn, und Abends, weil er ſie nach Hauſe führen mußte, ward ſie ihn zur
rechten Zeit los.  Er hatte ihr einige Bücher zurük gebracht, ſie fragte
nach einigen andern, und ſuchte das Geſpräch, in Erwartung ihrer
Freundinnen, allgemein zu erhalten, als das Mädgen zurük kam und ihr
hinterbrachte, wie ſie ſich beyde entſchuldigen ließen, die eine habe
unangenehmen Verwandtenbeſuch, und die andere möchte ſich nicht
anziehen, und in dem ſchmuzigen Wetter nicht gerne auſgehen.


Darüber ward ſie einige Minuten nachdenkend, bis das Gefühl ihrer
Unſchuld ſich mit einigem Stolze empörte.  Sie bot Albertens Grillen
Truz, und die Reinheit ihres Herzens gab ihr eine Feſtigkeit, daß ſie
nicht, wie ſie anfangs vorhatte, ihr Mädgen in die Stube rief, ſondern,
nachdem ſie einige Menuets auf dem Clavier geſpielt hatte, um ſich zu
erholen, und die Verwirrung ihres Herzens zu ſtillen, ſich gelaſſen zu
Werthern auf's Canapee ſezte.  Haben Sie nichts zu leſen, ſagte ſie.  Er
hatte nichts.  Da drinne in meiner Schublade, fieng ſie an, liegt ihre
Ueberſetzung einiger Geſänge Oſſians, ich habe ſie noch nicht geleſen,
denn ich hoffte immer, ſie von Ihnen zu hören, aber zeither ſind Sie zu
nichts mehr tauglich.  Er lächelte, holte die Lieder, ein Schauer
überfiel ihn, als er ſie in die Hand nahm, und die Augen ſtunden ihm
voll Thränen, als er hinein ſah, er ſezte ſich nieder und las:

Stern der dämmernden Nacht, ſchön funkelſt du in Weſten.  Hebſt dein
ſtrahlend Haupt aus deiner Wolke.  Wandelſt ſtattlich deinen Hügel hin.
Wornach blikſt du auf die Haide?  Die ſtürmende Winde haben ſich gelegt.
Von ferne kommt des Gießbachs Murmeln.  Rauſchende Wellen ſpielen am
Felſen ferne.  Das Geſumme der Abendfliegen ſchwärmet über's Feld.
Wornach ſiehſt du, ſchönes Licht?  Aber du lächelſt und gehſt, freudig
umgeben dich die Wellen und baden dein liebliches Haar.  Lebe wohl
ruhiger Strahl.  Erſcheine, du herrliches Licht von Oſſians Seele.


Und es erſcheint in ſeiner Kraft.  Ich ſehe meine geſchiedene Freunde,
ſie ſammeln ſich auf Lora, wie in den Tagen, die vorüber ſind. - Fingal
kommt wie eine feuchte Nebelſäule; um ihn ſind ſeine Helden.  Und ſieh
die Barden des Geſangs!  grauer Ullin!  ſtatlicher Ryno!  Alpin
lieblicher Sänger!  Und du ſanft klagende Minona! - Wie verändert ſeyd
ihr meine Freunde ſeit den feſtlichen Tagen auf Selma!  da wir buhlten
um die Ehre des Geſangs, wie Frühlingſlüfte den Hügel hin wechſelnd
beugen das ſchwach liſpelnde Gras.

Da trat Minona hervor in ihrer Schönheit, mit niedergeſchlagenem Blik
und thränenvollem Auge.  Ihr Haar floß ſchwer im unſteten Winde, der von
dem Hügel herſties. - Düſter wards in der Seele der Helden als ſie die
liebliche Stimme erhub; denn oft hatten ſie das Grab Salgars geſehen,
oft die finſtere Wohnung der weiſſen Colma.  Colma verlaſſen auf dem
Hügel, mit all der harmoniſchen Stimme.  Salgar verſprach zu kommen;
aber ringſum zog ſich die Nacht.  Höret Colmas Stimme, da ſie auf dem
Hügel allein ſaß.

C o l m a.

Es iſt Nacht; - ich bin allein, verlohren auf dem ſtürmiſchen Hügel.
Der Wind ſauſt im Gebürg, der Strohm heult den Felſen hinab.  Keine
Hütte ſchüzt mich vor dem Regen, verlaſſen auf dem ſtürmiſchen Hügel.

Tritt, o Mond, aus deinen Wolken; erſcheinet Sterne der Nacht!  Leite
mich irgend ein Strahl zu dem Orte wo meine Liebe ruht von den
Beſchwerden der Jagd, ſein Bogen neben ihm abgeſpannt, ſeine Hunde
ſchnobend um ihn!  Aber hier muß ich ſizzen allein auf dem Felſen des
verwachſenen Strohms.  Der Strohm und der Sturm ſauſt, ich höre nicht
die Stimme meines Geliebten.

Warum zaudert mein Salgar?  Hat er ſein Wort vergeſſen? - Da iſt der
Fels und der Baum und hier der rauſchende Strohm.  Mit der Nacht
verſprachſt du hier zu ſeyn.  Ach!  wohin hat ſich mein Salgar verirrt?
Mit dir wollt ich fliehen, verlaſſen Vater und Bruder!  die Stolzen!
Lange ſind unſere Geſchlechter Feinde, aber wir ſind keine Feinde, o
Salgar.

Schweig eine Weile o Wind, ſtill eine kleine Weile o Strohm, daß meine
Stimme klinge durch's Thal, daß mein Wandrer mich höre.  Salgar!  Ich
bin's, die ruft.  Hier iſt der Baum und der Fels.  Salgar, mein Lieber,
hier bin ich.  Warum zauderſt du zu kommen?

Sieh, der Mond erſcheint.  Die Fluth glänzt im Thale.  Die Felſen ſtehn
grau den Hügel hinauf.  Aber ich ſeh ihn nicht auf der Höhe.  Seine
Hunde vor ihm her verkündigen nicht ſeine Ankunft.  Hier muß ich ſizzen
allein.

Aber wer ſind, die dort unten liegen auf der Haide - Mein Geliebter?
Mein Bruder? - Redet o meine Freunde!  Sie antworten nicht.  Wie
geängſtet iſt meine Seele - Ach, ſie ſind todt! - Ihre Schwerdte roth
vom Gefecht.  O mein Bruder, mein Bruder, warum haſt du meinen Salgar
erſchlagen?  O mein Salgar, warum haſt du meinen Bruder erſchlagen? -
Ihr wart mir beyde ſo lieb!  O du warſt ſchön an dem Hügel unter
Tauſenden; er war ſchröklich in der Schlacht.  Antwortet mir!  Hört
meine Stimme, meine Geliebten.  Aber ach ſie ſind ſtumm.  Stumm vor
ewig.  Kalt wie die Erde iſt ihr Buſen.

O von dem Felſen des Hügels, von dem Gipfel des ſtürmenden Berges, redet
Geiſter der Todten!  Redet!  mir ſoll es nicht grauſen! - Wohin ſeyd
ihr zur Ruhe gegangen?  In welcher Gruft des Gebürges ſoll ich euch
finden! - Keine ſchwache Stimme vernehm ich im Wind, keine wehende
Antwort im Sturme des Hügels.

Ich ſizze in meinem Jammer, ich harre auf den Morgen in meinen Thränen.
Wühlet das Grab, ihr Freunde der Todten, aber ſchließt es nicht, bis ich
komme.  Mein Leben ſchwindet wie ein Traum, wie ſollt ich zurük bleiben.
Hier will ich wohnen mit meinen Freunden, an dem Strohme des klingenden
Felſen - Wenns Nacht wird auf dem Hügel, und der Wind kommt über die
Haide, ſoll mein Geiſt im Winde ſtehn und trauren den Tod meiner
Freunde.  Der Jäger hört mich aus ſeiner Laube, fürchtet meine Stimme
und liebt ſie, denn ſüß ſoll meine Stimme ſeyn um meine Freunde, ſie
waren mir beyde ſo lieb.

Das war dein Geſang, o Minona, Tormans ſanft erröthende Tochter.  Unſere
Thränen floſſen um Colma, und unſere Seele ward düſter - Ullin trat auf
mit der Harfe und gab uns Alpins Geſang - Alpins Stimme war freundlich,
Rynos Seele ein Feuerſtrahl.  Aber ſchon ruhten ſie im engen Hauſe, und
ihre Stimme war verhallet in Selma - Einſt kehrt Ullin von der Jagd
zurük, eh noch die Helden fielen, er hörte ihren Wettegeſang auf dem
Hügel, ihr Lied war ſanft, aber traurig, ſie klagten Morars Fall, des
erſten der Helden.  Seine Seele war wie Fingals Seele; ſein Schwerdt wie
das Schwerdt Oſkars - Aber er fiel und ſein Vater jammerte und ſeiner
Schweſter Augen waren voll Thränen - Minonas Augen waren voll Thränen,
der Schweſter des herrlichen Morars.  Sie trat zurük vor Ullins Geſang,
wie der Mond in Weſten, der den Sturmregen vorauſſieht und ſein ſchönes
Haupt in eine Wolke verbirgt. - Ich ſchlug die Harfe mit Ullin zum
Geſange des Jammers.

R y n o.

Vorbey ſind Wind und Regen, der Mittag iſt ſo heiter, die Wolken theilen
ſich.  Fliehend beſcheint den Hügel die unbeſtändge Sonne.  So röthlich
fließt der Strohm des Bergs im Thale hin.  Süß iſt dein Murmeln Strohm,
doch ſüſſer die Stimme, die ich höre.  Es iſt Alpin's Stimme, er
bejammert den Todten.  Sein Haupt iſt vor Alter gebeugt, und roth ſein
thränendes Auge.  Alpin treflicher Sänger, warum allein auf dem
ſchweigenden Hügel, warum jammerſt du wie ein Windſtos im Wald, wie eine
Welle am fernen Geſtade.

A l p i n.

Meine Thränen Ryno, ſind für den Todten, meine Stimme für die Bewohner
des Grabs.  Schlank biſt du auf dem Hügel, ſchön unter den Söhnen der
Haide.  Aber du wirſt fallen wie Morar, und wird der traurende ſizzen
auf deinem Grabe.  Die Hügel werden dich vergeſſen, dein Bogen in der
Halle liegen ungeſpannt.

Du warſt ſchnell o Morar, wie ein Reh auf dem Hügel, ſchreklich wie die
Nachtfeuer am Himmel, dein Grimm war ein Sturm.  Dein Schwerdt in der
Schlacht wie Wetterleuchten über der Haide.  Deine Stimme glich dem
Waldſtrohme nach dem Regen, dem Donner auf fernen Hügeln.  Manche fielen
von deinem Arm, die Flamme deines Grimms verzehrte ſie.  Aber wenn du
kehrteſt vom Kriege, wie friedlich war deine Stimme!  Dein Angeſicht war
gleich der Sonne nach dem Gewitter, gleich dem Monde in der ſchweigenden
Nacht.  Ruhig deine Bruſt wie der See, wenn ſich das Brauſen des Windes
gelegt hat.

Eng iſt nun deine Wohnung, finſter deine Stäte.  Mit drey Schritten meß
ich dein Grab, o du, der du ehe ſo gros warſt!  Vier Steine mit moſigen
Häuptern ſind dein einzig Gedächtniß.  Ein entblätterter Baum, lang
Gras, das wiſpelt im Winde, deutet dem Auge des Jägers das Grab des
mächtigen Morars.  Keine Mutter haſt du, dich zu beweinen, kein Mädgen
mit Thränen der Liebe.  Todt iſt, die dich gebahr.  Gefallen die Tochter
von Morglan.

Wer auf ſeinem Stabe iſt das?  Wer iſt's, deſſen Haupt weis iſt vor
Alter, deſſen Augen roth ſind von Thränen? - Es iſt dein Vater, o
Morar!  Der Vater keines Sohns auſſer dir!  Er hörte von deinem Rufe in
der Schlacht; er hörte von zerſtobenen Feinden.  Er hörte Morars Ruhm!
Ach nichts von ſeiner Wunde?  Weine, Vater Morars!  Weine!  aber dein
Sohn hört dich nicht.  Tief iſt der Schlaf der Todten, niedrig ihr
Küſſen von Staub.  Nimmer achtet er auf die Stimme, nie erwacht er auf
deinen Ruf.  O wann wird es Morgen im Grabe?  zu bieten dem Schlummerer:
Erwache!

Lebe wohl, edelſter der Menſchen, du Eroberer im Felde!  Aber nimmer
wird dich das Feld ſehn, nimmer der düſtere Wald leuchten vom Glanze
deines Stahls.  Du hinterlieſeſt keinen Sohn, aber der Geſang ſoll
deinen Nahmen erhalten.  Künftige Zeiten ſollen von dir hören, hören
ſollen ſie von dem gefallenen Morar.

Laut ward die Trauer der Helden, am lautſten Armins berſtender Seufzer.
Ihn erinnert's an den Todt ſeines Sohns, der fiel in den Tagen ſeiner
Jugend.  Carmor ſas nah bey dem Helden, der Fürſt des hallenden Galmal.
Warum ſchluchſet der Seufzer Armins?  ſprach er, was iſt hier zu weinen?
Klingt nicht Lied und Geſang, die Seele zu ſchmelzen und zu ergözzen.
Sind wie ſanfter Nebel der ſteigend vom See auf's Thal ſprüht, und die
blühenden Blumen füllet das Naß; aber die Sonne kommt wieder in ihrer
Kraft, und der Nebel iſt gangen.  Warum biſt du ſo jammervoll, Armin,
Herr des ſeeumfloſſenen Gorma?

Jammervoll!  Wohl, das bin ich, und nicht gering die Urſach meines Wehs.
- Carmor, du verlohrſt keinen Sohn; verlohrſt keine blühende Tochter!
Colgar der Tapfere lebt; und Amira, die ſchönſte der Mädgen.  Die Zweige
deines Hauſes blühen, o Carmor, aber Armin iſt der lezte ſeines Stamms.
Finſter iſt dein Bett, o Daura!  Dumpf iſt dein Schlaf in dem Grabe -
Wann erwachſt du mit deinen Geſängen, mit deiner melodiſchen Stimme?
Auf!  ihr Winde des Herbſt, auf!  Stürmt über die finſtre Haide!
Waldſtröhme brauſt!  Heult Stürme in dem Gipfel der Eichen!  Wandle
durch gebrochene Wolken, o Mond, zeige wechſelnd dein bleiches Geſicht!
Erinnere mich der ſchröklichen Nacht, da meine Kinder umkamen, Arindal
der mächtige fiel, Daura, die liebe, vergieng.

Daura, meine Tochter, du warſt ſchön!  ſchön wie der Mond auf den Hügeln
von Fura, weiß wie der gefallene Schnee, ſüß wie die athmende Luft.
Arindal, dein Bogen war ſtark, dein Speer ſchnell auf dem Felde, dein
Blik wie Nebel auf der Welle, dein Schild eine Feuerwolke im Sturme.
Armar berühmt im Krieg, kam und warb um Dauras Liebe, ſie widerſtund
nicht lange, ſchön waren die Hoffnungen ihrer Freunde.


Erath, der Sohn Odgals, grollte, denn ſein Bruder lag erſchlagen von
Armar.  Er kam in einen Schiffer verkleidet, ſchön war ſein Nachen auf
der Welle; weiß ſeine Lokken vor Alter, ruhig ſein ernſtes Geſicht.
Schönſte der Mädgen, ſagt er, liebliche Tochter von Armin!  Dort am
Fels, nicht fern in der See, wo die rothe Frucht vom Baume herblinkt,
dort wartet Armar auf Daura.  Ich komme, ſeine Liebe zu führen über die
rollende See

Sie folgt ihm, und rief nach Armar.  Nichts antwortete als die Stimme
des Felſens.  Armar mein Lieber, mein Lieber, warum ängſteſt du mich ſo?
Höre, Sohn Arnarts, höre.  Daura iſt's, die dich ruft!

Erath, der Verräter, floh lachend zum Lande.  Sie erhub ihre Stimme,
rief nach ihrem Vater und Bruder.  Arindal!  Armin!  Iſt keiner, ſeine
Daura zu retten?

Ihre Stimme kam über die See.  Arindal mein Sohn, ſtieg vom Hügel herab
rauh in der Beute der Jagd.  Seine Pfeile raſſelten an ſeiner Seite.
Seinen Bogen trug er in der Hand.  Fünf ſchwarzgraue Dokken waren um
ihn.  Er ſah den kühnen Erath am Ufer, faßt und band ihn an die Eiche.
Feſt umflocht er ſeine Hüften, er füllt mit Aechzen die Winde.

Arindal betritt die Welle in ſeinem Boote, Daura herüber zu bringen.
Armar kam in ſeinem Grimm, drükt ab den grau befiederten Pfeil, er
klang, er ſank in dein Herz, o Arindal, mein Sohn!  Statt Erath, des
Verräthers, kamſt du um, das Boot erreicht den Felſen, er ſank dran
nieder und ſtarb.  Welch war dein Jammer, o Daura, da zu deinen Füſſen
floß deines Bruders Blut.

Die Wellen zerſchmettern das Boot.  Armar ſtürzt ſich in die See, ſeine
Daura zu retten oder zu ſterben.  Schnell ſtürmt ein Stos vom Hügel in
die Wellen, er ſank und hub ſich nicht wieder.

Allein auf dem ſeebeſpülten Felſen hört ich die Klage meiner Tochter.
Viel und laut war ihr Schreyen; doch konnt ſie ihr Vater nicht retten.
Die ganze Nacht ſtund ich am Ufer, ich ſah ſie im ſchwachen Strahle des
Monds, die ganze Nacht hört ich ihr Schreyn.  Laut war der Wind, und der
Regen ſchlug ſcharf nach der Seite des Bergs.  Ihre Stimme ward ſchwach,
eh der Morgen erſchien, ſie ſtarb weg wie die Abendluft zwiſchen dem
Graſe der Felſen.  Beladen mit Jammer ſtarb ſie und ließ Armin allein!
dahin iſt meine Stärke im Krieg, gefallen mein Stolz unter den Mädgen.

Wenn die Stürme des Berges kommen, wenn der Nord die Wellen hochhebt,
ſiz ich am ſchallenden Ufer, ſchaue nach dem ſchröklichen Felſen.  Oft
im ſinkenden Mond ſeh ich die Geiſter meiner Kindheit, halb dämmernd
wandeln ſie zuſammen in trauriger Eintracht

Ein Strohm von Thränen, der aus Lottens Augen brach und ihrem gepreßten
Herzen Luft machte, hemmte Werthers Geſang, er warf das Papier hin, und
faßte ihre Hand und weinte die bitterſten Thränen.  Lotte ruhte auf der
andern und verbarg ihre Augen in's Schnupftuch, die Bewegung beyder war
fürchterlich.  Sie fühlten ihr eigenes Elend in dem Schikſal der Edlen,
fühlten es zuſammen, und ihre Thränen vereinigten ſie.  Die Lippen und
Augen Werthers glühten an Lottens Arme, ein Schauer überfiel ſie, ſie
wollte ſich entfernen, und es lag all der Schmerz, der Antheil betäubend
wie Bley auf ihr.  Sie athmete ſich zu erholen, und bat ihn ſchluchſend,
fortzufahren, bat mit der ganzen Stimme des Himmels, Werther zitterte,
ſein Herz wollte berſten, er hub das Blatt auf und las halb gebrochen:

Warum wekſt du mich, Frühlingſluft, du buhlſt und ſprichſt: ich bethaue
mit Tropfen des Himmels.  Aber die Zeit meines Welkens iſt nah, nah der
Sturm, der meine Blätter herabſtört!  Morgen wird der Wandrer kommen,
kommen der mich ſah in meiner Schönheit, rings wird ſein Aug im Felde
mich ſuchen, und wird mich nicht finden. -

Die ganze Gewalt dieſer Worte fiel über den Unglüklichen, er warf ſich
vor Lotten nieder in der vollen Verzweiflung, faßte ihre Hände, drukte
ſie in ſeine Augen, wider ſeine Stirn, und ihr ſchien eine Ahndung
ſeines ſchröklichen Vorhabens durch die Seele zu fliegen.  Ihre Sinnen
verwirrten ſich, ſie drukte ſeine Hände, drukte ſie wider ihre Bruſt,
neigte ſich mit einer wehmüthigen Bewegung zu ihm, und ihre glühenden
Wangen berührten ſich.  Die Welt vergieng ihnen, er ſchlang ſeine Arme
um ſie her, preßte ſie an ſeine Bruſt und dekte ihre zitternde,
ſtammelnde Lippen mit wüthenden Küſſen.  Werther!  rief ſie mit
erſtikter Stimme, ſich abwendend, Werther!  und drükte mit ſchwacher
Hand ſeine Bruſt von der ihrigen!  Werther!  rief ſie mit dem gefaßten
Tone des edelſten Gefühls; er widerſtund nicht, lies ſie aus ſeinen
Armen und warf ſich unſinnig vor ſie hin.  Sie riß ſich auf, und in
ängſtlicher Verwirrung, bebend zwiſchen Liebe und Zorn, ſagte ſie: Das
iſt das leztemal!  Werther!  Sie ſehn mich nicht wieder.  Und mit dem
vollſten Blik der Liebe auf den Elenden eilte ſie in's Nebenzimmer und
ſchloß hinter ſich zu.  Werther ſtrekte ihr die Arme nach, getraute ſich
nicht ſie zu halten.  Er lag an der Erde, den Kopf auf dem Canapee, und
in dieſer Stellung blieb er über eine halbe Stunde, biß ihn ein Geräuſch
zu ſich ſelbſt rief.  Es war das Mädgen, das den Tiſch dekken wollte.
Er gieng im Zimmer auf und ab, und da er ſich wieder allein ſah, gieng
er zur Thüre des Cabinets, und rief mit leiſer Stimme, Lotte!  Lotte!
nur noch ein Wort, ein Lebe wohl!  Sie ſchwieg, er harrte - und bat -
und harrte, dann riß er ſich weg und rief: Leb wohl, Lotte!  auf ewig
leb wohl!


Er kam ans Stadtthor.  Die Wächter, die ihn ſchon gewohnt waren, ließen
ihn ſtillſchweigend hinaus, es ſtübte zwiſchen Regen und Schnee, und
erſt gegen eilfe klopfte er wieder.  Sein Diener bemerkte, als Werther
nach Hauſe kam, daß ſeinem Herrn der Huth fehlte.  Er getraute ſich
nichts zu ſagen, entkleidete ihn, alles war naß.  Man hat nachher den
Huth auf einem Felſen, der an dem Abhange des Hügels in's Thal ſieht
gefunden, und es iſt unbegreiflich, wie er ihn in einer finſtern
feuchten Nacht ohne zu ſtürzen erſtiegen hat.


Er legte ſich zu Bette und ſchlief lange.  Der Bediente fand ihn
ſchreiben, als er ihm den andern Morgen auf ſein Rufen den Caffee
brachte.  Er ſchrieb folgendes am Briefe an Lotten:

*

Zum leztenmale denn, zum leztenmale ſchlag ich dieſe Augen auf, ſie
ſollen ach die Sonne nicht mehr ſehen, ein trüber, neblichter Tag hält
ſie bedekt.  So traure denn, Natur, dein Sohn, dein Freund, dein
Geliebter naht ſich ſeinem Ende.  Lotte, das iſt ein Gefühl ohne
gleichen, und doch kommt's dem dämmernden Traume am nächſten, zu ſich zu
ſagen: das iſt der lezte Morgen.  Der lezte!  Lotte, ich habe keinen
Sinn vor das Wort: der lezte!  Steh ich nicht da in meiner ganzen Kraft,
und Morgen lieg ich auſgeſtrekt und ſchlaff am Boden.  Sterben!  Was
heiſt das?  Sieh wir träumen, wenn wir vom Tode reden.  Ich hab manchen
ſterben ſehen, aber ſo eingeſchränkt iſt die Menſchheit, daß ſie für
ihres Daſeyns Anfang und Ende keinen Sinn hat.  Jezt noch mein, dein!
dein!  o Geliebte, und einen Augenblik - getrennt, geſchieden -
vielleicht auf ewig. - Nein, Lotte, nein - Wie kann ich vergehen, wie
kannſt du vergehen, wir ſind ja! - Vergehen! - Was heißt das?  das iſt
wieder ein Wort!  ein leerer Schall ohne Gefühl für mein Herz. - -
Todt, Lotte!  Eingeſcharrt der kalten Erde, ſo eng, ſo finſter! - Ich
hatte eine Freundin, die mein Alles war meiner hülfloſen Jugend, ſie
ſtarb und ich folgte ihrer Leiche, und ſtand an dem Grabe.  Wie ſie den
Sarg hinunter ließen und die Seile ſchnurrend unter ihm weg und wieder
herauf ſchnellten, dann die erſte Schaufel hinunter ſchollerte und die
ängſtliche Lade einen dumpfen Ton wiedergab, und dumpfer und immer
dumpfer und endlich bedekt war! - Ich ſtürzte neben das Grab hin -
Ergriffen erſchüttert geängſtet zerriſſen mein innerſtes, aber ich wuſte
nicht, wie mir geſchah - wie mir geſchehen wird - Sterben!  Grab!  Ich
verſtehe die Worte nicht!

O vergieb mir!  vergieb mir!  Geſtern!  Es hätte der lezte Augenblik
meines Lebens ſeyn ſollen.  O du Engel!  zum erſtenmale, zum erſtenmale
ganz ohne Zweifel durch mein innig innerſtes durchglühte mich das
Wonnegefühl: Sie liebt mich!  Sie liebt mich.  Es brennt noch auf meinen
Lippen das heilige Feuer, das von den deinigen ſtröhmte, neue warme
Wonne iſt in meinem Herzen.  Vergieb mir, vergieb mir.

Ach ich wuſte, daß du mich liebteſt, wuſte es an den erſten ſeelenvollen
Blikken, an dem erſten Händedruk, und doch, wenn ich wieder weg war,
wenn ich Alberten an Deiner Seite ſah, verzagt' ich wieder in
fieberhaften Zweifeln.

Erinnerſt du Dich der Blumen, die du mir ſchikteſt, als du in jener
fatalen Geſellſchaft mir kein Wort ſagen, keine Hand reichen konnteſt, o
ich habe die halbe Nacht davor gekniet, und ſie verſiegelten mir deine
Liebe.  Aber ach!  dieſe Eindrükke giengen vorüber, wie das Gefühl der
Gnade ſeines Gottes allmählich wieder aus der Seele des Gläubigen
weicht, die ihm mit ganzer Himmelſfülle im heiligen ſichtbaren Zeichen
gereicht ward.

Alles das iſt vergänglich, keine Ewigkeit ſoll das glühende Leben
auſlöſchen, das ich geſtern auf deinen Lippen genoß, das ich in mir
fühle.  Sie liebt mich!  Dieſer Arm hat ſie umfaſt, dieſe Lippen auf
ihren Lippen gezittert, dieſer Mund am ihrigen geſtammelt.  Sie iſt
mein!  du biſt mein!  ja Lotte auf ewig!

Und was iſt das?  daß Albert dein Mann iſt!  Mann? - das wäre denn für
dieſe Welt - und für dieſe Welt Sünde, daß ich dich liebe, das ich dich
aus ſeinen Armen in die meinigen reißen möchte?  Sünde?  Gut!  und ich
ſtrafe mich davor: ich hab ſie in ihrer ganzen Himmelſwonne geſchmekt
dieſe Sünde, habe Lebenſbalſam und Kraft in mein Herz geſaugt, du biſt
von dem Augenblikke mein!  Mein, o Lotte.  Ich gehe voran!  Geh zu
meinem Vater, zu deinem Vater, dem will ich's klagen, und er wird mich
tröſten biß du kommſt, und ich fliege dir entgegen und faſſe dich und
bleibe bey dir vor dem Angeſichte des Unendlichen in ewigen Umarmungen.

Ich träume nicht, ich wähne nicht!  nah am Grabe ward mir's heller.  Wir
werden ſeyn, wir werden uns wieder ſehn!  Deine Mutter ſehn!  ich werde
ſie ſehen, werde ſie finden, ach und vor ihr all mein Herz auſſchütten.
Deine Mutter.  Dein Ebenbild.

===
---

Gegen eilfe fragte Werther ſeinen Bedienten, ob wohl Albert zurük
gekommen ſey.  Der Bediente ſagte: ja, er habe deſſen Pferd dahin führen
ſehn.  Drauf giebt ihm der Herr ein offenes Zettelgen des Inhalts:

*

Wollten Sie mir wohl zu einer vorhabenden Reiſe Ihre Piſtolen leihen?
Leben Sie recht wohl.

===
---

Die liebe Frau hatte die lezte Nacht wenig geſchlafen, ihr Blut war in
einer fieberhaften Empörung, und tauſenderley Empfindungen zerrütteten
ihr Herz.  Wider ihren Willen fühlte ſie tief in ihrer Bruſt das Feuer
von Werthers Umarmungen, und zugleich ſtellten ſich ihr die Tage ihrer
unbefangenen Unſchuld, des ſorgloſen Zutrauens auf ſich ſelbſt in
doppelter Schöne dar, es ängſtigten ſie ſchon zum voraus die Blikke
ihres Manns, und ſeine halb verdrüßlich halb ſpöttiſche Fragen, wenn er
Werthers Beſuch erfahren würde; ſie hatte ſich nie verſtellt, ſie hatte
nie gelogen, und nun ſah ſie ſich zum erſtenmal in der unvermeidlichen
Nothwendigkeit; der Widerwillen, die Verlegenheit, die ſie dabey
empfand, machte die Schuld in ihren Augen gröſſer, und doch konnte ſie
den Urheber davon weder haſſen, noch ſich verſprechen, ihn nie
wiederzuſehn.  Sie weinte bis gegen Morgen, da ſie in einen matten
Schlaf verſank, aus dem ſie ſich kaum aufgerafft und angekleidet hatte,
als ihr Mann zurükkam, deſſen Gegenwart ihr zum erſtenmal ganz
unerträglich war; denn indem ſie zitterte, er würde das verweinte
überwachte ihrer Augen und ihrer Geſtalt entdekken, ward ſie noch
verwirrter, bewillkommte ihn mit einer heftigen Umarmung, die mehr
Beſtürzung und Reue, als eine auffahrende Freude auſdrükte, und eben
dadurch machte ſie die Aufmerkſamkeit Albertens rege, der, nachdem er
einige Briefe und Pakets erbrochen, ſie ganz trokken fragte, ob ſonſt
nichts vorgefallen, ob niemand da geweſen wäre?  Sie antwortete ihm
ſtokkend, Werther ſeye geſtern eine Stunde gekommen. - Er nimmt ſeine
Zeit gut, verſezt er, und gieng nach ſeinem Zimmer.  Lotte war eine
Viertelſtunde allein geblieben.  Die Gegenwart des Mannes, den ſie
liebte und ehrte, hatte einen neuen Eindruk in ihr Herz gemacht.  Sie
erinnerte ſich all ſeiner Güte, ſeines Edelmuths, ſeiner Liebe, und
ſchalt ſich, daß ſie es ihm ſo übel gelohnt habe.  Ein unbekannter Zug
reizte ſie, ihm zu folgen, ſie nahm ihre Arbeit, wie ſie mehr gethan
hatte, gieng nach ſeinem Zimmer und fragte, ob er was bedürfte?  er
antwortete: nein!  ſtellte ſich an Pult, zu ſchreiben, und ſie ſezte
ſich nieder zu ſtrikken.  Eine Stunde waren ſie auf dieſe Weiſe neben
einander, und als Albert etlichemal in der Stube auf und ab ging, und
Lotte ihn anredete, er aber wenig oder nichts drauf gab und ſich wieder
ans Pult ſtellte, ſo verfiel ſie in eine Wehmuth, die ihr um deſto
ängſtlicher ward, als ſie ſolche zu verbergen und ihre Thränen zu
verſchlukken ſuchte.

Die Erſcheinung von Werthers Knaben verſezte ſie in die gröſte
Verlegenheit, er überreichte Alberten das Zettelgen, der ſich ganz kalt
nach ſeiner Frau wendete, und ſagte: gieb ihm die Piſtolen. - Ich laß
ihm glükliche Reiſe wünſchen, ſagt er zum Jungen.  Das fiel auf ſie wie
ein Donnerſchlag.  Sie ſchwankte aufzuſtehn.  Sie wußte nicht wie ihr
geſchah.  Langſam ging ſie nach der Wand, zitternd nahm ſie ſie
herunter, puzte den Staub ab und zauderte, und hätte noch lang gezögert,
wenn nicht Albert durch einen fragenden Blik: was denn das geben ſollte?
ſie gedrängt hätte.  Sie gab das unglükliche Gewehr dem Knaben, ohne ein
Wort vorbringen zu können, und als der zum Hauſe draus war, machte ſie
ihre Arbeit zuſammen, ging in ihr Zimmer in dem Zuſtand des
unausſprechlichſten Leidens.  Ihr Herz weiſſagte ihr alle Schrökniſſe.
Bald war ſie im Begriff, ſich zu den Füſſen ihres Mannes zu werfen, ihm
alles zu entdekken, die Geſchichte des geſtrigen Abends, ihre Schuld und
ihre Ahndungen.  Dann ſah ſie wieder keinen Auſgang des Unternehmens, am
wenigſten konnte ſie hoffen, ihren Mann zu einem Gange nach Werthern zu
bereden.  Der Tiſch ward gedekt, und eine gute Freundinn, die nur etwas
zu fragen kam und die Lotte nicht wegließ, machte die Unterhaltung bey
Tiſche erträglich, man zwang ſich, man redete, man erzählte, man vergaß
ſich.

Der Knabe kam mit den Piſtolen zu Werthern, der ſie ihm mit Entzükken
abnahm, als er hörte, Lotte habe ſie ihm gegeben.  Er ließ ſich ein Brod
und Wein bringen, hies den Knaben zu Tiſch gehn und ſezte ſich nieder zu
ſchreiben.

*

Sie ſind durch deine Hände gegangen, du haſt den Staub davon geputzt,
ich küſſe ſie tauſendmal, du haſt ſie berührt.  Und du Geiſt des Himmels
begünſtigſt meinen Entſchluß!  Und du Lotte reichſt mir das Werkzeug,
du, von deren Händen ich den Tod zu empfangen wünſchte, und ach nun
empfange.  O ich habe meinen Jungen auſgefragt, du zitterteſt, als du
ſie ihm reichteſt, du ſagteſt kein Lebe wohl; - Weh!  Weh! - kein Lebe
wohl! - Sollteſt du dein Herz für mich verſchloſſen haben, um des
Augenbliks willen der mich auf ewig an dich befeſtigte?  Lotte, kein
Jahrtauſend vermag den Eindruk auſzulöſchen!  Und ich fühl's, du kannſt
den nicht haſſen, der ſo für dich glüht.

===
---

Nach Tiſche hieß er den Knaben alles vollends einpakken, zerriß viele
Papiere, ging aus, und brachte noch kleine Schulden in Ordnung.  Er kam
wieder nach Hauſe, ging wieder aus, vor's Thor ohngeachtet des Regens,
in den gräflichen Garten, ſchweifte weiter in der Gegend umher, und kam
mit einbrechender Nacht zurük und ſchrieb.

*

Wilhelm, ich habe zum leztenmale Feld und Wald und den Himmel geſehn.
Leb wohl auch du!  Liebe Mutter, verzeiht mir!  Tröſte ſie, Wilhelm.
Gott ſegne euch!  Meine Sachen ſind all in Ordnung.  Lebt wohl!  Wir
ſehen uns wieder und freudiger.

*

Ich habe dir übel gelohnt, Albert, und du vergiebſt mir.  Ich habe den
Frieden deines Hauſes geſtört, ich habe Mißtrauen zwiſchen euch
gebracht.  Leb wohl, ich will's enden.  O daß ihr glüklich wäret durch
meinen Tod!  Albert!  Albert!  mache den Engel glüklich.  Und ſo wohne
Gottes Seegen über Dir!

===
---

Er kramte den Abend noch viel in ſeinen Papieren, zerriß vieles und
warf's in Ofen, verſiegelte einige Päkke mit den Adreſſen an Wilhelmen.
Sie enthielten kleine Aufſäzze, abgeriſſene Gedanken, deren ich
verſchiedene geſehen habe; und nachdem er um zehn Uhr im Ofen nachlegen,
und ſich einen Schoppen Wein geben laſſen, ſchikte er den Bedienten,
deſſen Kammer wie auch die Schlafzimmer der Hauſleute weiter hinten
hinaus waren, zu Bette, der ſich denn in ſeinen Kleidern niederlegte, um
früh bey der Hand zu ſeyn, denn ſein Herr hatte geſagt, die Poſtpferde
würden vor ſechſe vor's Haus kommen.

*

nach eilfe.

Alles iſt ſo ſtill um mich her, und ſo ruhig meine Seele; ich danke dir
Gott, der du dieſen lezten Augenblikken dieſe Wärme, dieſe Kraft
ſchenkeſt.

Ich trete an's Fenſter, meine Beſte, und ſeh und ſehe noch durch die
ſtürmenden vorüberfliehenden Wolken einzelne Sterne des ewigen Himmels!
Nein, ihr werdet nicht fallen!  Der Ewige trägt euch an ſeinem Herzen,
und mich.  Ich ſah die Deichſelſterne des Wagens, des liebſten unter
allen Geſtirnen.  Wenn ich Nachts von dir ging, wie ich aus deinem Thore
trat, ſtand er gegen über!  Mit welcher Trunkenheit hab ich ihn oft
angeſehen!  Oft mit aufgehabenen Händen ihn zum Zeichen, zum heiligen
Merkſteine meiner gegenwärtigen Seligkeit gemacht, und noch - O Lotte,
was erinnert mich nicht an dich!  Umgiebſt du mich nicht, und hab ich
nicht gleich einem Kinde, ungenügſam allerley Kleinigkeiten zu mir
geriſſen, die du Heilige berührt hatteſt!

Liebes Schattenbild!  Ich vermache dir's zurük, Lotte, und bitte dich,
es zu ehren.  Tauſend, tauſend Küſſe hab ich drauf gedrükt, tauſend
Grüſſe ihm zugewinkt, wenn ich auſgieng, oder nach Hauſe kam.

Ich habe deinen Vater in einem Zettelgen gebeten, meine Leiche zu
ſchüzzen.  Auf dem Kirchhofe ſind zwey Lindenbäume, hinten im Ekke nach
dem Felde zu, dort wünſch ich zu ruhen.  Er kann, er wird das für ſeinen
Freund thun.  Bitt ihn auch.  Ich will frommen Chriſten nicht zumuthen,
ihren Körper neben einem armen Unglüklichen niederzulegen.  Ach ich
wollte, ihr begrübt mich am Wege, oder im einſamen Thale, daß Prieſter
und Levite vor dem bezeichnenden Steine ſich ſegnend vorüberging und der
Samariter eine Thräne weinte.

Hier Lotte!  Ich ſchaudere nicht den kalten ſchröklichen Kelch zu
faſſen, aus dem ich den Taumel des Todes trinken ſoll!  Du reichteſt mir
ihn, und ich zage nicht.  All!  All!  ſo ſind all die Wünſche und
Hoffnungen meines Lebens erfüllt!  So kalt, ſo ſtarr an der ehernen
Pforte des Todes anzuklopfen.

Daß ich des Glüks hätte theilhaftig werden können!  Für dich zu ſterben,
Lotte, für dich mich hinzugeben.  Ich wollte muthig, ich wollte freudig
ſterben, wenn ich dir die Ruhe, die Wonne deines Lebens wieder ſchaffen
könnte; aber ach das ward nur wenig Edlen gegeben, ihr Blut für die
Ihrigen zu vergieſſen, und durch ihren Tod ein neues hundertfältiges
Leben ihren Freunden anzufachen.

In dieſen Kleidern, Lotte, will ich begraben ſeyn.  Du haſt ſie berührt,
geheiligt.  Ich habe auch darum deinen Vater gebeten.  Meine Seele
ſchwebt über dem Sarge.  Man ſoll meine Taſchen nicht auſſuchen.  Dieſe
blaßrothe Schleife, die du am Buſen hatteſt, als ich dich zum erſtenmale
unter deinen Kindern fand.  O küſſe ſie tauſendmal und erzähl ihnen das
Schikſal ihres unglüklichen Freunds.  Die Lieben, ſie wimmeln um mich.
Ach wie ich mich an dich ſchloß!  Seit dem erſten Augenblikke dich nicht
laſſen konnte!  Dieſe Schleife ſoll mit mir begraben werden.  An meinem
Geburtſtage ſchenkteſt du mir ſie!  Wie ich das all verſchlang - Ach ich
dachte nicht, daß mich der Weg hierher führen ſollte! - - Sey ruhig!
ich bitte dich, ſey ruhig! -

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leb wohl!  Leb wohl!

===
---

Ein Nachbar ſah den Blik vom Pulver und hörte den Schuß fallen, da aber
alles ſtill blieb achtete er nicht weiter drauf.

Morgens um ſechſe tritt der Bediente herein mit dem Lichte, er findet
ſeinen Herrn an der Erde, die Piſtole und Blut.  Er ruft, er faßt ihn
an, keine Antwort, er röchelt nur noch.  Er lauft nach den Aerzten, nach
Alberten.  Lotte hörte die Schelle ziehen, ein Zittern ergreift all ihre
Glieder, ſie wekt ihren Mann, ſie ſtehen auf, der Bediente bringt
heulend und ſtotternd die Nachricht, Lotte ſinkt ohnmächtig vor Alberten
nieder.

Als der Medikus zu dem Unglüklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne
Rettung, der Puls ſchlug, die Glieder waren alle gelähmt, über dem
rechten Auge hatte er ſich durch den Kopf geſchoſſen, das Gehirn war
herauſgetrieben.  Man ließ ihm zum Ueberfluſſe eine Ader am Arme, das
Blut lief, er holte noch immer Athem.

Aus dem Blut auf der Lehne des Seſſels konnte man ſchließen, er habe
ſizzend vor dem Schreibtiſche die That vollbracht.  Dann iſt er herunter
geſunken, hat ſich konvulſiviſch um den Stuhl herum gewälzt, er lag
gegen das Fenſter entkräftet auf dem Rükken, war in völliger Kleidung,
geſtiefelt, im blauen Frak mit gelber Weſte.

Das Haus, die Nachbarſchaft, die Stadt kam in Aufruhr.  Albert trat
herein.  Werthern hatte man auf's Bett gelegt, die Stirne verbunden,
ſein Geſicht ſchon wie eines Todten, er rührte kein Glied, die Lunge
röchelte noch fürchterlich, bald ſchwach, bald ſtärker, man erwartete
ſein Ende.

Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken.  Emilia Galotti lag auf
dem Pulte aufgeſchlagen.

Von Alberts Beſtürzung, von Lottens Jammer laßt mich nichts ſagen.

Der alte Amtmann kam auf die Nachricht hereingeſprengt, er küßte den
Sterbenden unter den heißeſten Thränen.  Seine ältſten Söhne kamen bald
nach ihm zu Fuſſe, ſie fielen neben dem Bette nieder im Auſdruk des
unbändigſten Schmerzens, küßten ihm die Hände und den Mund, und der
ältſte, den er immer am meiſten geliebt, hieng an ſeinen Lippen bis er
verſchieden war und man den Knaben mit Gewalt wegriß.  Um zwölfe Mittags
ſtarb er.  Die Gegenwart des Amtmanns und ſeine Anſtalten tiſchten einen
Auflauf.  Nachts gegen eilfe ließ er ihn an die Stätte begraben, die er
ſich erwählt hatte, der Alte folgte der Leiche und die Söhne.  Albert
vermochts nicht.  Man fürchtete für Lottens Leben.  Handwerker trugen
ihn.  Kein Geiſtlicher hat ihn begleitet.

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am 10. May.

Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich
denen ſüßen Frühlingſmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieſſe.  Ich
bin ſo allein und freue mich ſo meines Lebens in dieſer Gegend, die für
ſolche Seelen geſchaffen iſt, wie die meine.  Ich bin ſo glücklich, mein
Beſter, ſo ganz in dem Gefühl von ruhigem Daſeyn verſunken, daß meine
Kunſt darunter leidet.  Ich könnte jetzo nicht zeichnen, nicht einen
Strich, und bin niemalen ein gröſſerer Mahler geweſen als in dieſen
Augenblicken.  Wenn das liebe Thal um mich dampft, und die hohe Sonne an
der Oberfläche der undurchdringlichen Finſterniß meines Waldes ruht, und
nur einzelne Strahlen ſich in das innere Heiligthum ſtehlen, und ich
dann im hohen Graſe am fallenden Bache liege, und näher an der Erde
tauſend mannigfaltige Gräſgen mir merkwürdig werden.  Wenn ich das
Wimmeln der kleinen Welt zwiſchen Halmen, die unzähligen,
unergründlichen Geſtalten, all der Würmgen, der Mückgen, näher an meinem
Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns all nach
ſeinem Bilde ſchuf, das Wehen des Allliebenden, der uns in ewiger Wonne
ſchwebend trägt und erhält.  Mein Freund, wenn's denn um meine Augen
dämmert, und die Welt um mich her und Himmel ganz in meiner Seele ruht,
wie die Geſtalt einer Geliebten; dann ſehn ich mich oft und denke: ach
könnteſt du das wieder auſdrücken, könnteſt du dem Papier das
einhauchen, was ſo voll, ſo warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel
deiner Seele, wie deine Seele iſt der Spiegel des unendlichen Gottes.
Mein Freund – Aber ich gehe darüber zu Grunde, ich erliege unter der
Gewalt der Herrlichkeit dieſer Erſcheinungen.

am 12. May.

Ich weis nicht, ob ſo täuſchende Geiſter um dieſe Gegend ſchweben, oder
ob die warme himmliſche Phantaſie in meinem Herzen iſt, die mir alles
rings umher ſo paradiſiſch macht.  Da iſt gleich vor dem Orte ein Brunn'
ein Brunn', an den ich gebannt bin wie Meluſine mit ihren Schweſtern.
Du gehſt einen kleinen Hügel hinunter, und findeſt dich vor einem
Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinab gehen, wo unten das klarſte Waſſer
aus Marmorfelſen quillt.  Das Mäuergen, das oben umher die Einfaſſung
macht, die hohen Bäume, die den Platz rings umher bedecken, die Kühle
des Orts, das hat alles ſo was anzügliches, was ſchauerliches.  Es
vergeht kein Tag, daß ich nicht eine Stunde da ſizze.  Da kommen denn
die Mädgen aus der Stadt und holen Waſſer, das harmloſeſte Geſchäft und
das nöthigſte, das ehmals die Töchter der Könige ſelbſt verrichteten.
Wenn ich da ſizze, ſo lebt die patriarchaliſche Idee ſo lebhaft um mich,
wie ſie alle die Altväter am Brunnen Bekanntſchaft machen und freyen,
und wie um die Brunnen und Quellen wohlthätige Geiſter ſchweben.  O der
muß nie nach einer ſchweren Sommertagſwanderung ſich an des Brunnens
Kühle gelabt haben, der das nicht mit empfinden kann.

am 13. May.

Du fragſt, ob Du mir meine Bücher ſchikken ſollſt?  Lieber, ich bitte
dich um Gottes willen, laß mir ſie vom Hals.  Ich will nicht mehr
geleitet, ermuntert, angefeuret ſeyn, brauſt dieſes Herz doch genug aus
ſich ſelbſt, ich brauche Wiegengeſang, und den hab ich in ſeiner Fülle
gefunden in meinem Homer.  Wie oft lull ich mein empörendes Blut zur
Ruhe, denn ſo ungleich, ſo unſtet haſt Du nichts geſehn als dieſes Herz.
Lieber!  Brauch ich Dir das zu ſagen, der Du ſo oft die Laſt getragen
haſt, mich vom Kummer zur Auſſchweifung, und von ſüſſer Melancholie zur
verderblichen Leidenſchaft übergehn zu ſehn.  Auch halt ich mein Herzgen
wie ein krankes Kind, all ſein Wille wird ihm geſtattet.  Sag das nicht
weiter, es giebt Leute, die mir's verübeln würden.

am 15. May.

Die geringen Leute des Orts kennen mich ſchon, und lieben mich,
beſonders die Kinder.  Eine traurige Bemerkung hab ich gemacht.  Wie ich
im Anfange mich zu ihnen geſellte, ſie freundſchaftlich fragte über dieß
und das, glaubten einige, ich wollte ihrer ſpotten, und fertigten mich
wol gar grob ab.  Ich ließ mich das nicht verdrießen, nur fühlt ich, was
ich ſchon oft bemerkt habe, auf das lebhafteſte.  Leute von einigem
Stande werden ſich immer in kalter Entfernung vom gemeinen Volke halten,
als glaubten ſie durch Annäherung zu verlieren, und dann giebts
Flüchtlinge und üble Spaſvögel, die ſich herabzulaſſen ſcheinen, um
ihren Uebermuth dem armen Volke deſto empfindlicher zu machen.

Ich weiß wohl, daß wir nicht gleich ſind, noch ſeyn können.  Aber ich
halte dafür, daß der, der glaubt nöthig zu haben, vom ſogenannten Pöbel
ſich zu entfernen, um den Reſpekt zu erhalten, eben ſo tadelhaft iſt als
ein Feiger, der ſich für ſeinem Feinde verbirgt, weil er zu unterliegen
fürchtet.

Lezthin kam ich zum Brunnen, und fand ein junges Dienſtmädgen, das ihr
Gefäß auf die unterſte Treppe geſetzt hatte, und ſich umſah, ob keine
Camerädin kommen wollte, ihr's auf den Kopf zu helfen.  Ich ſtieg
hinunter und ſah ſie an.  Soll ich ihr helfen, Jungfer?  ſagt ich.  Sie
ward roth über und über.  O nein, Herr!  ſagte ſie.  – Ohne Umſtände!  –
Sie legte ihren Kringen zurechte, und ich half ihr.  Sie dankte und
ſtieg hinauf.

den 17. May.

Ich hab allerley Bekanntſchaft gemacht, Geſellſchaft hab ich noch keine
gefunden.  Ich weiß nicht, was ich anzügliches für die Menſchen haben
muß, es mögen mich ihrer ſo viele, und hängen ſich an mich, und da thut
mirs immer weh, wenn unſer Weg nur ſo eine kleine Strecke mit einander
geht.  Wenn Du fragſt, wie die Leute hier ſind?  muß ich Dir ſagen: wie
überall!  Es iſt ein einförmig Ding um's Menſchengeſchlecht.  Die
meiſten verarbeiten den gröſten Theil der Zeit, um zu leben, und das
Biſgen, das ihnen von Freyheit übrig bleibt, ängſtigt ſie ſo, daß ſie
alle Mittel aufſuchen, um's los zu werden.  O Beſtimmung des Menſchen!


Aber eine rechte gute Art Volks!  Wann ich mich manchmal vergeſſe,
manchmal mit ihnen die Freuden genieße, die ſo den Menſchen noch gewährt
ſind, an einem artig beſetzten Tiſch, mit aller Offen- und
Treuherzigkeit ſich herum zu ſpaſſen, eine Spazierfahrt, einen Tanz zur
rechten Zeit anzuordnen und dergleichen, das thut eine ganz gute Würkung
auf mich, nur muß mir nicht einfallen, daß noch ſo viele andere Kräfte
in mir ruhen, die alle ungenutzt vermodern, und die ich ſorgfältig
verbergen muß.  Ach, das engt all das Herz ſo ein – Und doch!
Miſverſtanden zu werden iſt das Schickſal von unſer einem.

Ach daß die Freundin meiner Jugend dahin iſt, ach daß ich ſie je gekannt
habe!  Ich würde zu mir ſagen: du biſt ein Thor!  du ſuchſt, was
hienieden nicht zu finden iſt.  Aber ich hab ſie gehabt, ich habe das
Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir ſchien mehr zu
ſeyn als ich war, weil ich alles war was ich ſeyn konnte.  Guter Gott,
blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt, konnt ich nicht vor
ihr all das wunderbare Gefühl entwickeln, mit dem mein Herz die Natur
umfaßt, war unſer Umgang nicht ein ewiges Weben von feinſter Empfindung,
ſchärfſtem Witze, deſſen Modifikationen bis zur Unart alle mit dem
Stempel des Genies bezeichnet waren?  Und nun – Ach ihre Jahre, die ſie
voraus hatte, führten ſie früher an's Grab als mich.  Nie werd ich ihrer
vergeſſen, nie ihren feſten Sinn und ihre göttliche Duldung.

Vor wenig Tagen traf ich einen jungen V an, ein offner Junge mit einer
gar glücklichen Geſichtſbildung.  Er kommt erſt von Akademien, dünkt
ſich nicht eben weiſe, aber glaubt doch, er wüßte mehr als andere.  Auch
war er fleißig, wie ich an allerley ſpüre, kurz, er hatt' hüpſche
Kenntniſſe.  Da er hörte, daß ich viel zeichnete, und Griechiſch konnte,
zwey Meteore hier zu Land, wandt er ſich an mich und kramte viel Wiſſens
aus, von Batteux bis zu Wood, von de Piles zu Winkelmann, und
verſicherte mich, er habe Sulzers Theorie den erſten Theil ganz
durchgeleſen, und beſitze ein Manuſcript von Heynen über das Studium der
Antike.  Ich ließ das gut ſeyn.

Noch gar einen braven Kerl hab ich kennen lernen, den fürſtlichen
Amtmann.  Einen offenen, treuherzigen Menſchen.  Man ſagt, es ſoll eine
Seelenfreude ſeyn, ihn unter ſeinen Kindern zu ſehen, deren er neune
hat.  Beſonders macht man viel Weſens von ſeiner ältſten Tochter.  Er
hat mich zu ſich gebeten, und ich will ihn ehſter Tage beſuchen, er
wohnt auf einem fürſtlichen Jagdhofe, anderthalb Stunden von hier, wohin
er, nach dem Tode ſeiner Frau, zu ziehen die Erlaubniß erhielt, da ihm
der Aufenthalt hier in der Stadt und dem Amthauſe zu weh that.

Sonſt ſind einige verzerrte Originale mir in Weg gelaufen, an denen
alles unauſſtehlich iſt, am unerträglichſten ihre
Freundſchaftſ-bezeugungen.

Leb wohl!  der Brief wird dir recht ſeyn, er iſt ganz hiſtoriſch.

am 22. May.

Daß das Leben des Menſchen nur ein Traum ſey, iſt manchem ſchon ſo
vorgekommen, und auch mit mir zieht dieſes Gefühl immer herum.  Wenn ich
die Einſchränkung ſo anſehe, in welche die thätigen und forſchenden
Kräfte des Menſchen eingeſperrt ſind, wenn ich ſehe, wie alle
Würkſamkeit dahinaus läuft, ſich die Befriedigung von Bedürfniſſen zu
verſchaffen, die wieder keinen Zwek haben, als unſere arme Exiſtenz zu
verlängern, und dann, daß alle Beruhigung über gewiſſe Punkte des
Nachforſchens nur eine träumende Reſignation iſt, da man ſich die Wände,
zwiſchen denen man gefangen ſizt, mit bunten Geſtalten und lichten
Auſſichten bemahlt.  Das alles, Wilhelm, macht mich ſtumm.  Ich kehre in
mich ſelbſt zurük, und finde eine Welt!  Wieder mehr in Ahndung und
dunkler Begier, als in Darſtellung und lebendiger Kraft.  Und da
ſchwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich lächle dann ſo träumend weiter
in die Welt.

Daß die Kinder nicht wiſſen, warum ſie wollen, darinn ſind alle
hochgelahrte Schul- und Hofmeiſter einig.  Daß aber auch Erwachſene,
gleich Kindern, auf dieſem Erdboden herumtaumeln, gleichwie jene nicht
wiſſen, woher ſie kommen und wohin ſie gehen, eben ſo wenig nach wahren
Zwekken handeln, eben ſo durch Biſkuit und Kuchen und Birkenreiſer
regiert werden, das will niemand gern glauben, und mich dünkt, man
kann's mit Händen greifen.

Ich geſtehe dir gern, denn ich weis, was du mir hierauf ſagen möchteſt,
daß diejenige die glüklichſten ſind, die gleich den Kindern in Tag
hinein leben, ihre Puppe herum ſchleppen, aus und anziehen, und mit
großem Reſpekte um die Schublade herumſchleichen, wo Mama das Zuckerbrod
hinein verſchloſſen hat, und wenn ſie das gewünſchte endlich erhaſchen,
es mit vollen Bakken verzehren und rufen: Mehr!  Das ſind glükliche
Geſchöpfe!  Auch denen iſts wohl, die ihren Lumpenbeſchäftigungen, oder
wohl gar ihren Leidenſchaften prächtige Titel geben, und ſie dem
Menſchengeſchlechte als Rieſenoperationen zu deſſen Heil und Wohlfahrt
anſchreiben.  Wohl dem, der ſo ſeyn kann!  Wer aber in ſeiner Demuth
erkennt, wo das alles hinauſläuft, der ſo ſieht, wie artig jeder Bürger,
dem's wohl iſt, ſein Gärtchen zum Paradieſe zuzuſtuzzen weis, und wie
unverdroſſen dann doch auch der Unglükliche unter der Bürde ſeinen Weg
fortkeicht, und alle gleich intereſſirt ſind, das Licht dieſer Sonne
noch eine Minute länger zu ſehn, ja!  der iſt ſtill und bildet auch
ſeine Welt aus ſich ſelbſt, und iſt auch glüklich, weil er ein Menſch
iſt.  Und dann, ſo eingeſchränkt er iſt, hält er doch immer im Herzen
das ſüſſe Gefühl von Freyheit, und daß er dieſen Kerker verlaſſen kann,
wann er will.

am 26. May.

Du kennſt von Alters her meine Art, mich anzubauen, irgend mir an einem
vertraulichen Orte ein Hüttchen aufzuſchlagen und da mit aller
Einſchränkung zu herbergen.  Ich hab auch hier wieder ein Pläzchen
angetroffen, das mich angezogen hat.

Ohngefähr eine Stunde von der Stadt liegt ein Ort, den ſie Wahlheim *)


*)

Der Leſer wird ſich keine Mühe geben, die hier genannten Orte zu ſuchen,
man hat ſich genöthigt geſehen, die im Originale befindlichen wahren
Namen zu verändern.


nennen.  Die Lage an einem Hügel iſt ſehr intereſſant, und wenn man oben
auf dem Fußpfade zum Dorfe heraus geht, überſieht man mit Einem das
ganze Thal.  Eine gute Wirthin, die gefällig und munter in ihrem Alter
iſt, ſchenkt Wein, Bier, Caffee, und was über alles geht, ſind zwey
Linden, die mit ihren auſgebreiteten Aeſten den kleinen Plaz vor der
Kirche bedecken, der ringſum mit Bauerhäuſern Scheuern und Höfen
eingeſchloſſen iſt.  So vertraulich, ſo heimlich hab ich nicht leicht
ein Pläzchen gefunden, und dahin laß ich mein Tiſchchen aus dem
Wirthſhauſe bringen und meinen Stuhl, und trinke meinen Caffee da, und
leſe meinen Homer.  Das erſtemal als ich durch einen Zufall an einem
ſchönen Nachmittage unter die Linden kam, fand ich das Pläzchen ſo
einſam.  Es war alles im Felde.  Nur ein Knabe von ohngefähr vier Jahren
ſaß an der Erde, und hielt ein andres etwa halbjähriges vor ihm zwiſchen
ſeinen Füſſen ſitzendes Kind mit beyden Armen wider ſeine Bruſt, ſo daß
er ihm zu einer Art von Seſſel diente, und ohngeachtet der Munterkeit,
womit er aus ſeinen ſchwarzen Augen herumſchaute, ganz ruhig ſaß.  Mich
vergnügte der Anblik, und ich ſezte mich auf einen Pflug, der gegen über
ſtund, und zeichnete die brüderliche Stellung mit vielem Ergözzen, ich
fügte den nächſten Zaun, ein Tennenthor und einige gebrochne Wagenräder
bey, wie es all hintereinander ſtund, und fand nach Verlauf einer
Stunde, daß ich eine wohlgeordnete ſehr intereſſante Zeichnung
verfertigt hatte, ohne das mindeſte von dem meinen hinzuzuthun.  Das
beſtärkte mich in meinem Vorſazze, mich künftig allein an die Natur zu
halten.  Sie allein iſt unendlich reich, und ſie allein bildet den
großen Künſtler.  Man kann zum Vortheile der Regeln viel ſagen,
ohngefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Geſellſchaft ſagen kann.
Ein Menſch, der ſich nach ihnen bildet, wird nie etwas abgeſchmaktes und
ſchlechtes hervor bringen, wie einer, der ſich durch Geſezze und
Wohlſtand modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein
merkwürdiger Böſewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel,
man rede was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren
Auſdruk derſelben zerſtören!  ſagſt du, das iſt zu hart!  Sie ſchränkt
nur ein, beſchneidet die geilen Reben &c.  Guter Freund, ſoll ich Dir
ein Gleichniß geben: es iſt damit wie mit der Liebe, ein junges Herz
hängt ganz an einem Mädchen, bringt alle Stunden ſeines Tags bey ihr zu,
verſchwendet all ſeine Kräfte, all ſein Vermögen, um ihr jeden Augenblik
auſzudrükken, daß er ſich ganz ihr hingiebt.  Und da käme ein Philiſter
ein Mann, der in einem öffentlichen Amte ſteht, und ſagte zu ihm: feiner
junger Herr, lieben iſt menſchlich, nur müßt ihr menſchlich lieben!
Theilet eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungſſtunden
widmet eurem Mädchen, berechnet euer Vermögen, und was euch von eurer
Nothdurft übrig bleibt, davon verwehr ich euch nicht ihr ein Geſchenk,
nur nicht zu oft, zu machen.  Etwa zu ihrem Geburtſ- und Namenſtage &c.
– Folgt der Menſch, ſo giebts einen brauchbaren jungen Menſchen, und ich
will ſelbſt jedem Fürſten rathen, ihn in ein Collegium zu ſezzen, nur
mit ſeiner Liebe iſt's am Ende, und wenn er ein Künſtler iſt, mit ſeiner
Kunſt.  O meine Freunde!  warum der Strom des Genies ſo ſelten
auſbricht, ſo ſelten in hohen Fluthen hereinbrauſt und eure ſtaunende
Seele erſchüttert.  Liebe Freunde, da wohnen die gelaßnen Kerls auf
beyden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuſchen, Tulpenbeete, und
Krautfelder zu Grunde gehen würden, und die daher in Zeiten mit dämmen
und ableiten der künftig drohenden Gefahr abzuwehren wiſſen.

am 27. May.

Ich bin, wie ich ſehe, in Verzükkung, Gleichniſſe und Deklamation
verfallen, und habe drüber vergeſſen, dir auſzuerzählen, was mit den
Kindern weiter worden iſt.  Ich ſaß ganz in mahleriſche Empfindungen
vertieft, die dir mein geſtriges Blatt ſehr zerſtükt darlegt, auf meinem
Pfluge wohl zwey Stunden.  Da kommt gegen Abend eine junge Frau auf die
Kinder los, die ſich die Zeit nicht gerührt hatten, mit einem Körbchen
am Arme, und ruft von weitem: Philips, du biſt recht brav.  Sie grüßte
mich, ich dankte ihr, ſtand auf, trat näher hin, und fragte ſie: ob ſie
Mutter zu den Kindern wäre?  Sie bejahte es, und indem ſie dem Aelteſten
einen halben Wek gab, nahm ſie das Kleine auf und küßte es mit aller
mütterlichen Liebe.  Ich habe, ſagte ſie, meinem Philips das Kleine zu
halten gegeben, und bin in die Stadt gegangen mit meinem Aeltſten, um
weis Brod zu holen, und Zukker, und ein irden Breypfännchen; ich ſah das
alles in dem Korbe, deſſen Dekkel abgefallen war.  Ich will meinem Hans
(das war der Nahme des Jüngſten) ein Süppchen kochen zum Abende; der
loſe Vogel der Große hat mir geſtern das Pfännchen zerbrochen, als er
ſich mit Philipſen um die Scharre des Brey's zankte.  Ich fragte nach
dem Aeltſten, und ſie hatte mir kaum geſagt, daß er auf der Wieſe ſich
mit ein paar Gänſen herumjagte, als er hergeſprungen kam, und dem
zweyten eine Haſelgerte mitbrachte.  Ich unterhielt mich weiter mit dem
Weibe, und erfuhr, daß ſie des Schulmeiſters Tochter ſey, und daß ihr
Mann eine Reiſe in die Schweiz gemacht habe, um die Erbſchaft eines
Vettern zu holen.  Sie haben ihn drum betrügen wollen, ſagte ſie, und
ihm auf ſeine Briefe nicht geantwortet, da iſt er ſelbſt hineingegangen.
Wenn ihm nur kein Unglük paſſirt iſt, ich höre nichts von ihm.  Es ward
mir ſchwer, mich von dem Weibe loſzumachen, gab jedem der Kinder einen
Kreuzer, und auch für's jüngſte gab ich ihr einen, ihm einen Wek
mitzubringen zur Suppe, wenn ſie in die Stadt gieng, und ſo ſchieden wir
von einander.

Ich ſage dir, mein Schaz, wenn meine Sinnen gar nicht mehr halten
wollen, ſo linderts all den Tumult, der Anblik eines ſolchen Geſchöpfs,
das in der glüklichen Gelaſſenheit ſo den engen Kreis ſeines Daſeyns
auſgeht, von einem Tag zum andern ſich durchhilft, die Blätter abfallen
ſieht, und nichts dabey denkt, als daß der Winter kömmt.

Seit der Zeit bin ich oft draus, die Kinder ſind ganz an mich gewöhnt.
Sie kriegen Zukker, wenn ich Caffee trinke, und theilen das Butterbrod
und die ſaure Milch mit mir des Abends.  Sonntags fehlt ihnen der
Kreuzer nie, und wenn ich nicht nach der Betſtunde da bin, ſo hat die
Wirthin Ordre, ihn auſzubezahlen.

Sie ſind vertraut, erzählen mir allerhand, und beſonders ergötz' ich
mich an ihren Leidenſchaften und ſimplen Auſbrüchen des Begehrens, wenn
mehr Kinder aus dem Dorfe ſich verſammeln.

Viel Mühe hat mich's gekoſtet, der Mutter ihre Beſorgniß zu benehmen:
«Sie möchten den Herrn inkommodiren.»

am 16. Juny.

Warum ich dir nicht ſchreibe?  Fragſt du das und biſt doch auch der
Gelehrten einer.  Du ſollteſt rathen, daß ich mich wohl befinde, und
zwar – Kurz und gut, ich habe eine Bekanntſchaft gemacht, die mein Herz
näher angeht.  Ich habe – ich weis nicht.

Dir in der Ordnung zu erzählen, wie's zugegangen iſt, daß ich ein's der
liebenſwürdigſten Geſchöpfe habe kennen lernen, wird ſchwer halten; ich
bin vergnügt und glüklich, und ſo kein guter Hiſtorien-ſchreiber.

Einen Engel!  Pfuy!  das ſagt jeder von der ſeinigen!  Nicht wahr?  Und
doch bin ich nicht im Stande, dir zu ſagen, wie ſie vollkommen iſt,
warum ſie vollkommen iſt, genug, ſie hat all meinen Sinn gefangen
genommen.

So viel Einfalt bey ſo viel Verſtand, ſo viel Güte bey ſo viel
Feſtigkeit, und die Ruhe der Seele bey dem wahren Leben und der
Thätigkeit.  –

Das iſt alles garſtiges Gewäſche, was ich da von ihr ſage, leidige
Abſtraktionen, die nicht einen Zug ihres Selbſt auſdrükken.  Ein
andermal – Nein, nicht ein andermal, jezt gleich will ich dir's
erzählen.  Thu ich's jezt nicht, geſchäh's niemals.  Denn, unter uns,
ſeit ich angefangen habe zu ſchreiben, war ich ſchon dreymal im
Begriffe, die Feder niederzulegen, mein Pferd ſatteln zu laſſen und
hinaus zu reiten und doch ſchwur ich mir heut früh nicht hinaus zu
reiten – und gehe doch alle Augenblikke ans Fenſter zu ſehen, wie hoch
die Sonne noch ſteht.

Ich hab's nicht überwinden können, ich mußte zu ihr hinaus.  Da bin ich
wieder, Wilhelm, und will mein Butterbrod zu Nacht eſſen und dir
ſchreiben.  Welch eine Wonne das für meine Seele iſt, ſie in dem Kreiſe
der lieben muntern Kinder ihrer acht Geſchwiſter, zu ſehen!  –

Wenn ich ſo fortfahre, wirſt du am Ende ſo klug ſeyn wie am Anfange,
höre denn, ich will mich zwingen ins Detail zu gehen.

Ich ſchrieb Dir neulich, wie ich den Amtmann S.  habe kennen lernen, und
wie er mich gebeten habe, ihn bald in ſeiner Einſiedeley, oder vielmehr
ſeinem kleinen Königreiche zu beſuchen.  Ich vernach-läßigte das, und
wäre vielleicht nie hingekommen, hätte mir der Zufall nicht den Schaz
entdekt, der in der ſtillen Gegend verborgen liegt.

Unſere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angeſtellt, zu dem
ich mich denn auch willig finden ließ.  Ich bot einem hieſigen guten,
ſchönen, weiters unbedeutenden Mädchen die Hand, und es wurde
auſgemacht, daß ich eine Kutſche nehmen, mit meiner Tänzerinn und ihrer
Baaſe nach dem Orte der Luſtbarkeit hinauſfahren, und auf dem Wege
Charlotten S.  mitnehmen ſollte.  Sie werden ein ſchönes Frauenzimmer
kennen lernen, ſagte meine Geſellſchafterinn, da wir durch den weiten
ſchön auſgehauenen Wald nach dem Jagdhauſe fuhren.  Nehmen Sie ſich in
Acht, verſezte die Baaſe, daß Sie ſich nicht verlieben!  - Wie ſo?
ſagt' ich: Sie iſt ſchon vergeben, antwortete jene, an einen ſehr braven
Mann, der weggereiſt iſt, ſeine Sachen in Ordnung zu bringen nach ſeines
Vaters Tod, und ſich um eine anſehnliche Verſorgung zu bewerben.  Die
Nachricht war mir ziemlich gleichgültig.


Die Sonne war noch eine Viertelſtunde vom Gebürge, als wir vor dem
Hofthore anfuhren, es war ſehr ſchwühle, und die Frauenzimmer äuſſerten
ihre Beſorgniß wegen eines Gewitters, das ſich in weiſgrauen dumpfigen
Wölkchen rings am Horizonte zuſammen zu ziehen ſchien.  Ich täuſchte
ihre Furcht mit anmaßlicher Wetterkunde, ob mir gleich ſelbſt zu ahnden
anfieng, unſere Luſtbarkeit werde einen Stoß leiden.

Ich war auſgeſtiegen.  Und eine Magd, die an's Thor kam, bat uns, einen
Augenblik zu verziehen, Mamſell Lottchen würde gleich kommen.  Ich gieng
durch den Hof nach dem wohlgebauten Hauſe, und da ich die vorliegenden
Treppen hinaufgeſtiegen war und in die Thüre trat, fiel mir das
reizendſte Schauſpiel in die Augen, das ich jemals geſehen habe.  In dem
Vorſaale wimmelten ſechs Kinder, von eilf zu zwey Jahren, um ein Mädchen
von ſchöner mittlerer Taille, die ein ſimples weiſſes Kleid mit
blaßrothen Schleifen an Arm und Bruſt anhatte.  Sie hielt ein ſchwarzes
Brod und ſchnitt ihren Kleinen rings herum jedem ſein Stük nach
Proportion ihres Alters und Appetites ab, gabs jedem mit ſolcher
Freundlichkeit, und jedes rufte ſo ungekünſtelt ſein: Danke!  indem es
mit den kleinen Händchen lang in die Höh gereicht hatte, eh es noch
abgeſchnitten war, und nun mit ſeinem Abendbrode vergnügt entweder
wegſprang, oder nach ſeinem ſtillern Charakter gelaſſen davon nach dem
Hofthore zugieng, um die Fremden und die Kutſche zu ſehen, darinnen ihre
Lotte wegfahren ſollte.  Ich bitte um Vergebung, ſagte ſie, daß ich Sie
herein bemühe, und die Frauenzimmer warten laſſe.  Ueber dem Anziehen
und allerley Beſtellungen für's Haus in meiner Abweſenheit, habe ich
vergeſſen, meinen Kindern ihr Veſperſtük zu geben, und ſie wollen von
niemanden Brod geſchnitten haben als von mir.  Ich machte ihr ein
unbedeutendes Compliment, und meine ganze Seele ruhte auf der Geſtalt,
dem Tone, dem Betragen, und hatte eben Zeit, mich von der Ueberraſchung
zu erholen, als ſie in die Stube lief ihre Handſchuh und Fächer zu
nehmen.  Die Kleinen ſahen mich in einiger Entfernung ſo von der Seite
an, und ich gieng auf das jüngſte los, das ein Kind von der glüklichſten
Geſichtſbildung war.  Es zog ſich zurük als eben Lotte zur Thüre
herauſkam, und ſagte: Louis, gieb dem Herrn Vetter eine Hand.  Das that
der Knabe ſehr freymüthig, und ich konnte mich nicht enthalten, ihn
ohngeachtet ſeines kleinen Roznäſchens herzlich zu küſſen.  Vetter?
ſagt' ich, indem ich ihr die Hand reichte, glauben Sie, daß ich des
Glüks werth ſey, mit Ihnen verwandt zu ſeyn?  O!  ſagte ſie, mit einem
leichtfertigen Lächeln unſere Vetterſchaft iſt ſehr weitläuftig, und es
wäre mir leid, wenn Sie der Schlimmſte drunter ſeyn ſollten.  Im Gehen
gab ſie Sophien, der ältſten Schweſter nach ihr, einem Mädchen von
ohngefähr eilf Jahren, den Auftrag, wohl auf die Kleinen Acht zu haben
und den Papa zu grüſſen, wenn er vom Spazierritte zurükkäme.  Den
Kleinen ſagte ſie, ſie ſollten ihrer Schweſter Sophie folgen, als wenn
ſie's ſelbſt wäre, das denn auch einige auſdrüklich verſprachen.  Eine
kleine naſweiſe Blondine aber, von ohngefähr ſechs Jahren, ſagte: du
biſt's doch nicht, Lottchen!  wir haben dich doch lieber.  Die zwey
ältſten der Knaben waren hinten auf die Kutſche geklettert, und auf mein
Vorbitten erlaubte ſie ihnen, bis vor den Wald mit zu fahren, wenn ſie
verſprächen, ſich nicht zu necken, und ſich recht feſt zu halten.

Wir hatten uns kaum zurecht geſezt, die Frauenzimmer ſich bewillkommt,
wechſelſweis über den Anzug und vorzüglich die Hütchen ihre Anmerkungen
gemacht, und die Geſellſchaft, die man zu finden erwartete, gehörig
durchgezogen; als Lotte den Kutſcher halten, und ihre Brüder
herabſteigen lies, die noch einmal ihre Hand zu küſſen begehrten, das
denn der ältſte mit aller Zärtlichkeit, die dem Alter von funfzehn
Jahren eigen ſeyn kann, der andere mit viel Heftigkeit und Leichtſinn
that.  Sie ließ die Kleinen noch einmal grüßen, und wir fuhren weiter.

Die Baaſe fragte: ob ſie mit dem Buche fertig wäre, das ſie ihr neulich
geſchickt hätte.  Nein, ſagte Lotte, es gefällt mir nicht, ſie könnens
wieder haben.  Das vorige war auch nicht beſſer.  Ich erſtaunte, als ich
fragte: was es für Bücher wären, und ſie mir antwortete: *) –


*)

Man ſieht ſich genöthiget, dieſe Stelle des Briefs zu unterdrücken, um
niemand Gelegenheit zu einiger Beſchwerde zu geben.  Ob gleich im Grunde
jedem Autor wenig an dem Urtheile eines einzelnen Mädgens, und eines
jungen unſteten Menſchen gelegen ſeyn kann.


Ich fand ſo viel Charakter in allem was ſie ſagte, ich ſah mit jedem
Wort neue Reize, neue Strahlen des Geiſtes aus ihren Geſichtſzügen
hervorbrechen, die ſich nach und nach vergnügt zu entfalten ſchienen,
weil ſie an mir fühlte, daß ich ſie verſtund.


Wie ich jünger war, ſagte ſie, liebte ich nichts ſo ſehr als die
Romanen.  Weis Gott wie wohl mir's war, mich ſo Sonntags in ein Eckgen
zu ſezzen, und mit ganzem Herzen an dem Glükke und Unſtern einer Miß
Jenny Theil zu nehmen.  Ich läugne auch nicht, daß die Art noch einige
Reize für mich hat.  Doch da ich ſo ſelten an ein Buch komme, ſo müſſen
ſie auch recht nach meinem Geſchmakke ſeyn.  Und der Autor iſt mir der
liebſte, in dem ich meine Welt wieder finde, bey dem's zugeht wie um
mich, und deſſen Geſchichte mir doch ſo intereſſant, ſo herzlich wird,
als mein eigen häuſlich Leben, das freylich kein Paradies, aber doch im
Ganzen eine Quelle unſäglicher Glükſeligkeit iſt.


Ich bemühte mich, meine Bewegungen über dieſe Worte zu verbergen.  Das
gieng freylich nicht weit, denn da ich ſie mit ſolcher Wahrheit im
Vorbeygehn vom Landprieſter von Wakefield, vom *) –


*)

Man hat auch hier die Namen einiger vaterländiſchen Autoren auſgelaſſen.
Wer Theil an Lottens Beyfall hatte, wird es gewiß an ſeinem Herzen
fühlen, wenn er dieſe Stelle leſen ſollte.  Und ſonſt brauchts ja
niemand zu wiſſen.


reden hörte, kam ich eben auſſer mich und ſagte ihr alles was ich mußte,
und bemerkte erſt nach einiger Zeit, da Lotte das Geſpräch an die andern
wendete, daß dieſe die Zeit über mit offnen Augen, als ſäßen ſie nicht
da, da geſeſſen hatten.  Die Baaſe ſah mich mehr als einmal mit einem
ſpöttiſchen Näſgen an, daran mir aber nichts gelegen war.


Das Geſpräch fiel auf das Vergnügen am Tanze.  Wenn dieſe Leidenſchaft
ein Fehler iſt, ſagte Lotte, ſo geſteh ich ihnen gern, ich weis nichts
über's Tanzen.  Und wenn ich was im Kopfe habe, und mir auf meinem
verſtimmten Klaviere einen Contretanz vortrommle, ſo iſt alles wieder
gut.

Wie ich mich unter dem Geſpräche in den ſchwarzen Augen weidete, wie die
lebendigen Lippen und die friſchen muntern Wangen meine ganze Seele
anzogen, wie ich in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz verſunken, oft
gar die Worte nicht hörte, mit denen ſie ſich auſdrukte!  Davon haſt du
eine Vorſtellung, weil du mich kennſt.  Kurz, ich ſtieg aus dem Wagen
wie ein Träumender, als wir vor dem Luſthauſe ſtill hielten, und war ſo
in Träumen rings in der dämmernden Welt verlohren, daß ich auf die Muſik
kaum achtete, die uns von dem erleuchteten Saale herunter entgegen
ſchallte.

Die zwey Herren Audran und ein gewiſſer N.  N.  wer behält all die
Nahmen!  die der Baaſe und Lottens Tänzer waren, empfiengen uns am
Schlage, bemächtigten ſich ihrer Frauenzimmer, und ich führte die
meinige hinauf.

Wir ſchlangen uns in Menuets um einander herum, ich forderte ein
Frauenzimmer nach dem andern auf, und juſt die unleidlichſten konnten
nicht dazu kommen, einem die Hand zu reichen, und ein Ende zu machen.
Lotte und ihr Tänzer fiengen einen engliſchen an, und wie wohl mir's
war, als ſie auch in der Reihe die Figur mit uns anfieng, magſt du
fühlen.  Tanzen muß man ſie ſehen.  Siehſt du, ſie iſt ſo mit ganzem
Herzen und mit ganzer Seele dabey, ihr ganzer Körper, eine Harmonie, ſo
ſorglos, ſo unbefangen, als wenn das eigentlich alles wäre, als wenn ſie
ſonſt nichts dächte, nichts empfände, und in dem Augenblikke gewiß
ſchwindet alles andere vor ihr.

Ich bat ſie um den zweyten Contretanz, ſie ſagte mir den dritten zu, und
mit der liebenſwürdigſten Freymüthigkeit von der Welt verſicherte ſie
mich, daß ſie herzlich gern deutſch tanzte.  Es iſt hier ſo Mode, fuhr
ſie fort, daß jedes paar, das zuſammen gehört, beym Deutſchen zuſammen
bleibt, und mein Chapeau walzt ſchlecht, und dankt mir's, wenn ich ihm
die Arbeit erlaſſe; ihr Frauenzimmer kann's auch nicht und mag nicht,
und ich habe im Engliſchen geſehn, daß ſie gut walzen; wenn ſie nun mein
ſeyn wollen fürs Deutſche, ſo gehn ſie und bitten ſich's aus von meinem
Herrn, ich will zu ihrer Dame gehn.  Ich gab ihr die Hand drauf und es
wurde ſchon arrangirt, daß ihrem Tänzer inzwiſchen die Unterhaltung
meiner Tänzerinn aufgetragen ward.

Nun giengs, und wir ergözten uns eine Weile an mannchfaltigen
Schlingungen der Arme.  Mit welchem Reize, mit welcher Flüchtigkeit
bewegte ſie ſich!  Und da wir nun gar an's Walzen kamen, und wie die
Sphären um einander herumrollten, giengs freylich anfangs, weil's die
wenigſten können, ein biſgen bunt durch einander.  Wir waren klug und
lieſſen ſie auſtoben, und wie die ungeſchikteſten den Plan geräumt
hatten, fielen wir ein, und hielten mit noch einem Paare, mit Audran und
ſeiner Tänzerinn, wakker aus.  Nie iſt mir's ſo leicht vom Flekke
gegangen.  Ich war kein Menſch mehr.  Das liebenſwürdigſte Geſchöpf in
den Armen zu haben, und mit ihr herum zu fliegen wie Wetter, daß alles
rings umher vergieng und – Wilhelm, um ehrlich zu ſeyn, that ich aber
doch den Schwur, daß ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich Anſprüche
hätte, mir nie mit einem andern walzen ſollte, als mit mir, und wenn ich
drüber zu Grunde gehen müßte, du verſtehſt mich.

Wir machten einige Touren gehend im Saale, um zu verſchnauffen.  Dann
ſezte ſie ſich, und die Zitronen, die ich weggeſtohlen hatte beym Punſch
machen, die nun die einzigen noch übrigen waren, und die ich ihr in
Schnittchen, mit Zukker zur Erfriſchung brachte, thaten fürtrefliche
Würkung, nur daß mir mit jedem Schnittgen, das ihre Nachbarinn aus der
Taſſe nahm, ein Stich durch's Herz gieng, der ich's nun freylich
Schanden halber mit präſentiren mußte.

Beym dritten Engliſchen waren wir das zweyte Paar.  Wie wir die Reihe ſo
durchtanzten und ich, weis Gott mit wie viel Wonne, an ihrem Arme und
Auge hieng, das voll vom wahrſten Auſdrukke des offenſten reinſten
Vergnügens war, kommen wir an eine Frau, die mir wegen ihrer
liebenſwürdigen Mine auf einem nicht mehr ganz jungen Geſichte,
merkwürdig geweſen war.  Sie ſieht Lotten lächelnd an, hebt einen
drohenden Finger auf, und nennt den Nahmen Albert zweymal im
Vorbeyfliegen mit viel Bedeutung.

Wer iſt Albert, ſagte ich zu Lotten, wenns nicht Vermeſſenheit iſt zu
fragen.  Sie war im Begriffe zu antworten, als wir uns ſcheiden mußten,
die groſſe Achte zu machen, und mich dünkte einiges Nachdenken auf ihrer
Stirne zu ſehen, als wir ſo vor einander vorbeykreuzten.  Was ſoll ich's
ihnen läugnen, ſagte ſie, indem ſie mir die Hand zur Promenade bot.
Albert iſt ein braver Menſch, dem ich ſo gut als verlobt bin!  Nun war
mir das nichts neues, denn die Mädchen hatten mir's auf dem Wege geſagt,
und war mir doch ſo ganz neu, weil ich das noch nicht im Verhältniſſe
auf ſie, die mir in ſo wenig Augenblikken ſo werth geworden war, gedacht
hatte.  Genug, ich verwirrte mich, vergaß mich, und kam zwiſchen das
unrechte Paar hinein, daß alles drunter und drüber gieng, und Lottens
ganze Gegenwart und Zerren und Ziehen nöthig war, um's ſchnell wieder in
Ordnung zu bringen.

Der Tanz war noch nicht zu Ende, als die Blizze, die wir ſchon lange am
Horizonte leuchten geſehn, und die ich immer für Wetterkühlen auſgegeben
hatte, viel ſtärker zu werden anfiengen, und der Donner die Muſik
überſtimmte.  Drey Frauenzimmer liefen aus der Reihe, denen ihre Herren
folgten, die Unordnung ward allgemein, und die Muſik hörte auf.  Es iſt
natürlich, wenn uns ein Unglük oder etwas ſchrökliches im Vergnügen
überraſcht, daß es ſtärkere Eindrükke auf uns macht, als ſonſt, theils
wegen dem Gegenſazze, der ſich ſo lebhaft empfinden läßt, theils und
noch mehr, weil unſere Sinnen einmal der Fühlbarkeit geöffnet ſind und
alſo deſto ſchneller einen Eindruk annehmen.  Dieſen Urſachen muß ich
die wunderbaren Grimaſſen zuſchreiben, in die ich mehrere Frauenzimmer
auſbrechen ſah.  Die Klügſte ſezte ſich in eine Ekke, mit dem Rüken
gegen das Fenſter, und hielt die Ohren zu, eine andere kniete ſich vor
ihr nieder und verbarg den Kopf in der erſten Schoos, eine dritte ſchob
ſich zwiſchen beyde hinein, und umfaßte ihre Schweſterchen mit tauſend
Thränen.  Einige wollten nach Hauſe, andere, die noch weniger wußten was
ſie thaten, hatten nicht ſo viel Beſinnungſkraft, den Kekheiten unſerer
jungen Schlukkers zu ſteuern, die ſehr beſchäftigt zu ſeyn ſchienen,
alle die ängſtlichen Gebete, die dem Himmel beſtimmt waren, von den
Lippen der ſchönen Bedrängten wegzufangen.  Einige unſerer Herren hatten
ſich hinab begeben, um ein Pfeifchen in Ruhe zu rauchen, und die übrige
Geſellſchaft ſchlug es nicht aus, als die Wirthinn auf den klugen
Einfall kam, uns ein Zimmer anzuweiſen, das Läden und Vorhänge hätte.
Kaum waren wir da angelangt, als Lotte beſchäftigt war, einen Kreis von
Stühlen zu ſtellen, die Geſellſchaft zu ſezzen und den Vortrag zu einem
Spiele zu thun.

Ich ſahe manchen, der in Hoffnung auf ein ſaftiges Pfand ſein Mäulchen
ſpizte und ſeine Glieder rekte.  Wir ſpielen Zählens, ſagte ſie, nun
gebt Acht!  Ich gehe im Kreiſe herum von der Rechten zur Linken, und ſo
zählt ihr auch rings herum jeder die Zahl die an ihn kommt, und das muß
gehn wie ein Lauffeuer, und wer ſtokt, oder ſich irrt, kriegt eine
Ohrfeige, und ſo bis tauſend.  Nun war das luſtig anzuſehen.  Sie gieng
mit auſgeſtrekktem Arme im Kreiſe herum: Eins!  fieng der erſte an, der
Nachbar zwey!, drey!  der folgende und ſo fort; dann fieng ſie an,
geſchwinder zu gehn, immer geſchwinder.  Da verſahs einer, Patſch eine
Ohrfeige, und über das Gelächter der folgende auch Patſch!  Und immer
geſchwinder.  Ich ſelbſt kriegte zwey Maulſchellen und glaubte mit
innigem Vergnügen zu bemerken, daß ſie ſtärker ſeyen, als ſie ſie den
übrigen zuzumeſſen pflegte.  Ein allgemeines Gelächter und Geſchwärme
machte dem Spiele ein Ende, ehe noch das Tauſend auſgezählt war.  Die
Vertrauteſten zogen einander beyſeite, das Gewitter war vorüber, und ich
folgte Lotten in den Saal.  Unterwegs ſagte ſie: über die Ohrfeigen
haben ſie Wetter und alles vergeſſen!  Ich konnte ihr nichts antworten.
Ich war, fuhr ſie fort, eine der Furchtſamſten, und indem ich mich
herzhaft ſtellte, um den andern Muth zu geben, bin ich muthig geworden.
Wir traten an's Fenſter, es donnerte abſeitwärts, und der herrliche
Regen ſäuſelte auf das Land, und der erquikkendſte Wohlgeruch ſtieg in
aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf.  Sie ſtand auf ihrem
Ellenbogen geſtüzt, und ihr Blik durchdrang die Gegend, ſie ſah gen
Himmel und auf mich, ich ſah ihr Auge thränenvoll, ſie legte ihre Hand
auf die meinige und ſagte: – Klopſtock!  Ich verſank in dem Strome von
Empfindungen, den ſie in dieſer Looſung über mich auſgoß.  Ich ertrugs
nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte ſie unter den wonnevolleſten
Thränen.  Und ſah nach ihrem Auge wieder – Edler!  hätteſt du deine
Vergötterung in dieſem Blikke geſehn, und möcht ich nun deinen ſo oft
entweihten Nahmen nie wieder nennen hören!

am 19. Juny.

Wo ich neulich mit meiner Erzählung geblieben bin, weis ich nicht mehr,
das weis ich, daß es zwey Uhr des Nachts war, als ich zu Bette kam, und
daß, wenn ich dir hätte vorſchwäzzen können, ſtatt zu ſchreiben, ich
dich vielleicht bis an Tag aufgehalten hätte.

Was auf unſerer Hereinfahrt vom Balle paſſirt iſt, hab ich noch nicht
erzählt, hab auch heute keinen Tag dazu.

Es war der liebwürdigſte Sonnenaufgang.  Der tröpfelnde Wald und das
erfriſchte Feld umher!  Unſere Geſellſchafterinnen nikten ein.  Sie
fragte mich, ob ich nicht auch von der Parthie ſeyn wollte, ihrentwegen
ſollt ich unbekümmert ſeyn.  So lang ich dieſe Augen offen ſehe, ſagt'
ich und ſah ſie feſt an, ſo lang hats keine Gefahr.  Und wir haben beyde
auſgehalten, bis an ihr Thor, da ihr die Magd leiſe aufmachte, und auf
ihr Fragen vom Vater und den Kleinen verſicherte, daß alles wohl ſey und
noch ſchlief.  Und da verließ ich ſie mit dem Verſichern: ſie ſelbigen
Tags noch zu ſehn, und hab mein Verſprechen gehalten, und ſeit der Zeit
können Sonne, Mond und Sterne geruhig ihre Wirthſchaft treiben, ich weis
weder daß Tag noch daß Nacht iſt, und die ganze Welt verliert ſich um
mich her.

am 21. Juny.

Ich lebe ſo glükliche Tage, wie ſie Gott ſeinen Heiligen auſſpart, und
mit mir mag werden was will; ſo darf ich nicht ſagen, daß ich die
Freuden, die reinſten Freuden des Lebens nicht genoſſen habe.  Du kennſt
mein Wahlheim.  Dort bin ich völlig etablirt.  Von dort hab ich nur eine
halbe Stunde zu Lotten, dort fühl ich mich ſelbſt und alles Glük, das
dem Menſchen gegeben iſt.

Hätte ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwekke meiner Spaziergänge
wählte, daß es ſo nahe am Himmel läge!  Wie oft habe ich das Jagdhaus,
das nun alle meine Wünſche einſchließt, auf meinen weiten Wandrungen
bald vom Berge, bald in der Ebne über den Fluß geſehn.

Lieber Wilhelm, ich habe allerley nachgedacht, über die Begier im
Menſchen ſich auſzubreiten, neue Entdekkungen zu machen,
herumzuſchweifen; und dann wieder über den innern Trieb, ſich der
Einſchränkung willig zu ergeben, und in dem Gleiſe der Gewohnheit ſo
hinzufahren, und ſich weder um rechts noch links zu bekümmern.

Es iſt wunderbar, wie ich hierher kam und vom Hügel in das ſchöne Thal
ſchaute, wie es mich rings umher anzog.  Dort das Wäldchen!  Ach
könnteſt du dich in ſeine Schatten miſchen!  Dort die Spizze des Bergs!
Ach könnteſt du von da die weite Gegend überſchauen!  Die in einander
gekettete Hügel und vertrauliche Thäler.  O könnte ich mich in ihnen
verliehren!  – Ich eilte hin!  und kehrte zurük, und hatte nicht
gefunden was ich hoffte.  O es iſt mit der Ferne wie mit der Zukunft!
Ein groſſes dämmerndes Ganzes ruht vor unſerer Seele, unſere Empfindung
verſchwimmt ſich darinne, wie unſer Auge, und wir ſehnen uns, ach!
unſer ganzes Weſen hinzugeben, uns mit all der Wonne eines einzigen
groſſen herrlichen Gefühls auſfüllen zu laſſen.  – Und ach, wenn wir
hinzueilen, wenn das Dort nun Hier wird, iſt alles vor wie nach, und wir
ſtehen in unſerer Armuth, in unſerer Eingeſchränktheit, und unſere Seele
lechzt nach entſchlüpftem Labſale.

Und ſo ſehnt ſich der unruhigſte Vagabund zulezt wieder nach ſeinem
Vaterlande, und findet in ſeiner Hütte, an der Bruſt ſeiner Gattin, in
dem Kreiſe ſeiner Kinder und der Geſchäfte zu ihrer Erhaltung, all die
Wonne, die er in der weiten öden Welt vergebens ſuchte.

Wenn ich ſo des Morgens mit Sonnenaufgange hinauſgehe nach meinem
Wahlheim, und dort im Wirthſgarten mir meine Zukkererbſen ſelbſt
pflükke, mich hinſezze, und ſie abfädme und dazwiſchen leſe in meinem
Homer.  Wenn ich denn in der kleinen Küche mir einen Topf wähle, mir
Butter auſſteche, meine Schoten ans Feuer ſtelle, zudekke und mich dazu
ſezze , ſie manchmal umzuſchütteln.  Da fühl ich ſo lebhaft, wie die
herrlichen übermüthigen Freyer der Penelope Ochſen und Schweine
ſchlachten, zerlegen und braten.  Es iſt nichts, das mich ſo mit einer
ſtillen, wahren Empfindung auſfüllte, als die Züge patriarchaliſchen
Lebens, die ich, Gott ſey Dank, ohne Affektation in meine Lebenſart
verweben kann.

Wie wohl iſt mir's, daß mein Herz die ſimple harmloſe Wonne des Menſchen
fühlen kann, der ein Krauthaupt auf ſeinen Tiſch bringt, das er ſelbſt
gezogen, und nun nicht den Kohl allein, ſondern all die guten Tage, den
ſchönen Morgen, da er ihn pflanzte, die lieblichen Abende, da er ihn
begoß, und da er an dem fortſchreitenden Wachſthume ſeine Freude hatte,
alle in einem Augenblikke wieder mitgenieſt.

am 29. Juny.

Vorgeſtern kam der Medikus hier aus der Stadt hinaus zum Amtmanne und
fand mich auf der Erde unter Lottens Kindern, wie einige auf mir
herumkrabelten, andere mich nekten und wie ich ſie küzzelte, und ein
groſſes Geſchrey mit ihnen verführte.  Der Doktor, der eine ſehr
dogmatiſche Dratpuppe iſt, und im Diſkurs ſeine Manſchetten in Falten
legt, und den Kräuſel bis zum Nabel herauſzupft, fand dieſes unter der
Würde eines geſcheuten Menſchen, das merkte ich an ſeiner Naſe.  Ich
lies mich aber in nichts ſtören, lies ihn ſehr vernünftige Sachen
abhandeln, und baute den Kindern ihre Kartenhäuſer wieder, die ſie
zerſchlagen hatten.  Auch gieng er darauf in der Stadt herum und
beklagte: des Amtmanns Kinder wären ſchon ungezogen genug, der Werther
verdürbe ſie nun völlig.

Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen ſind die Kinder am nächſten auf der
Erde.  Wenn ich ſo zuſehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller
Tugenden, aller Kräfte ſehe, die ſie einmal ſo nöthig brauchen werden,
wenn ich in dem Eigenſinne, alle die künftige Standhaftigkeit und
Feſtigkeit des Charakters, in dem Muthwillen, allen künftigen guten
Humor und die Leichtigkeit, über alle die Gefahren der Welt
hinzuſchlüpfen, erblikke, alles ſo unverdorben, ſo ganz!  Immer, immer
wiederhol ich die goldnen Worte des Lehrers der Menſchen: wenn ihr nicht
werdet wie eines von dieſen!  Und nun, mein Beſter, ſie, die unſers
gleichen ſind, die wir als unſere Muſter anſehen ſollten; behandeln wir
als Unterthanen.  Sie ſollen keinen Willen haben!  – Haben wir denn
keinen?  und wo liegt das Vorrecht?  – Weil wir älter ſind und
geſcheuter?  – Guter Gott von deinem Himmel, alte Kinder ſiehſt du, und
junge Kinder und nichts weiter, und an welchen du mehr Freude haſt, das
hat dein Sohn ſchon lange verkündigt.  Aber ſie glauben an ihn und hören
ihn nicht, das iſt auch was alt's, und bilden ihre Kinder nach ſich und
– Adieu, Wilhelm, ich mag darüber nicht weiter radotiren.

am 1. Juli.

Was Lotte einem Kranken ſeyn muß, fühl ich an meinem eignen armen
Herzen, das übler dran iſt als manches, das auf dem Siechbette
verſchmachtet.  Sie wird einige Tage in der Stadt bey einer
rechtſchaffenen Frau zubringen, die ſich nach der Auſſage der Aerzte
ihrem Ende naht, und in dieſen lezten Augenblikken will ſie Lotten um
ſich haben.  Ich war vorige Woche mit ihr den Pfarrer von St.  .  .  zu
beſuchen, ein Oertgen, das eine Stunde ſeitwärts im Gebürge liegt.  Wir
kamen gegen viere dahin.  Lotte hatte ihre zweyte Schweſter mitgenommen.
Als wir in den, von zwey hohen Nußbäumen überſchatteten, Pfarrhof
traten, ſaß der gute alte Mann auf einer Bank vor der Hauſthüre, und da
er Lotten ſah, ward er wie neubelebt, vergaß ſeinen Knotenſtok und wagte
ſich auf ihr entgegen.  Sie lief hin zu ihm, nöthigte ihn, ſich
niederzuſezzen, indem ſie ſich zu ihm ſezte, brachte viel Grüſſe von
ihrem Vater, herzte ſeinen garſtigen ſchmuzigen jüngſten Buben, das
Quakelgen ſeines Alters.  Du hätteſt ſie ſehen ſollen, wie ſie den Alten
beſchäftigte, wie ſie ihre Stimme erhub um ſeinen halb tauben Ohren
vernehmlich zu werden, wie ſie ihm erzählte von jungen robuſten Leuten,
die unvermuthet geſtorben wären, von der Vortreflichkeit des Carlſbades,
und wie ſie ſeinen Entſchluß lobte, künftigen Sommer hinzugehen, und wie
ſie fand, daß er viel beſſer auſſähe, viel munterer ſey als das
leztemal, da ſie ihn geſehn.  Ich hatte indeß der Frau Pfarrern meine
Höflichkeiten gemacht, der Alte wurde ganz munter, und da ich nicht
umhin konnte, die ſchönen Nußbäume zu loben, die uns ſo lieblich
beſchatteten, fieng er an, uns, wiewohl mit einiger Beſchwerlichkeit,
die Geſchichte davon zu geben.  Den alten ſagte er, wiſſen wir nicht,
wer den gepflanzt hat, einige ſagen dieſer, andere jener Pfarrer.  Der
jüngere aber dorthinten iſt ſo alt als meine Frau, im Oktober funfzig
Jahre.  Ihr Vater pflanzte ihn des Morgens, als ſie gegen Abend gebohren
wurde.  Er war mein Vorfahr im Amte, und wie lieb ihm der Baum war, iſt
nicht zu ſagen, mir iſt er's gewiß nicht weniger, meine Frau ſas drunter
auf einem Balken und ſtrikte, als ich vor ſieben und zwanzig Jahren als
ein armer Student zum erſtenmal hier in Hof kam.  Lotte fragte nach
ſeiner Tochter, es hieß, ſie ſey mit Herrn Schmidt auf der Wieſe hinaus
zu den Arbeitern, und der Alte fuhr in ſeiner Erzählung fort, wie ſein
Vorfahr ihn lieb gewonnen und die Tochter dazu, und wie er erſt ſein
Vikar und dann ſein Nachfolger geworden.  Die Geſchichte war nicht lange
zu Ende, als die Jungfer Pfarrern mit dem ſogenannten Herrn Schmidt
durch den Garten herkam, ſie bewillkommte Lotten mit herzlicher Wärme,
und ich muß ſagen, ſie gefiel mir nicht übel, eine raſche, wohlgewachſne
Brünette, die einen die Kurzeit über auf dem Lande wohl unterhalten
hätte.  Ihr Liebhaber, denn als ſolchen ſtellte ſich Herr Schmidt gleich
dar, ein feiner, doch ſtiller Menſch, der ſich nicht in unſere Geſpräche
miſchen wollte, ob ihn gleich Lotte immer herein zog; und was mich am
meiſten betrübte, war, daß ich an ſeinen Geſichtſzügen zu bemerken
ſchien, es ſey mehr Eigenſinn und übler Humor als Eingeſchränktheit des
Verſtandes, der ihn ſich mitzutheilen hinderte.  In der Folge ward dieß
nur leider zu deutlich, denn als Friedrike beym Spazierengehn mit Lotten
und verſchiedentlich auch mit mir gieng, wurde des Herrn Angeſicht, das
ohne das einer bräunlichen Farbe war, ſo ſichtlich verdunkelt, daß es
Zeit war, daß Lotte mich beym Ermel zupfte, und mir das Artigthun mit
Friederiken abrieth.  Nun verdrießt mich nichts mehr als wenn die
Menſchen einander plagen, am meiſten, wenn junge Leute in der Blüthe des
Lebens, da ſie am offenſten für alle Freuden ſeyn könnten, einander die
paar guten Tage mit Frazzen verderben, und nur erſt zu ſpät das
unerſezliche ihrer Verſchwendung einſehen.  Mir wurmte das, und ich
konnte nicht umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof zurükkehrten und
an einem Tiſche gebroktes Brod in Milch aſſen, und der Diſkurs auf
Freude und Leid in der Welt roulirte, den Faden zu ergreifen, und recht
herzlich gegen die üble Laune zu reden.  Wir Menſchen beklagen uns oft,
fing ich an, daß der guten Tage ſo wenig ſind und der ſchlimmen ſo viel,
und wie mich dünkt, meiſt mit Unrecht.  Wenn wir immer ein offenes Herz
hätten das Gute zu genieſſen, das uns Gott für jeden Tag bereitet, wir
würden alſdenn auch Kraft genug haben, das Uebel zu tragen, wenn es
kommt.  – Wir haben aber unſer Gemüth nicht in unſerer Gewalt, verſezte
die Pfarrern, wie viel hängt vom Körper ab!  wenn man nicht wohl iſt,
iſt's einem überall nicht recht.  – Ich geſtund ihr das ein.  Wir
wollens alſo, fuhr ich fort, als eine Krankheit anſehen, und fragen ob
dafür kein Mittel iſt!  – Das läßt ſich hören, ſagte Lotte, ich glaube
wenigſtens, daß viel von uns abhängt; ich weis es an mir, wenn mich
etwas nekt und mich verdrüßlich machen will, ſpring ich auf und ſing ein
paar Contretänze den Garten auf und ab, gleich iſt's weg.  – Das war's
was ich ſagen wollte, verſezte ich, es iſt mit der üblen Laune völlig
wie mit der Trägheit, denn es iſt eine Art von Trägheit; unſere Natur
hängt ſehr dahin, und doch, wenn wir nur einmal die Kraft haben, uns zu
ermannen, geht uns die Arbeit friſch von der Hand, und wir finden in der
Thätigkeit ein wahres Vergnügen.  Friederike war ſehr aufmerkſam, und
der junge Menſch wandte mir ein, daß man nicht Herr über ſich ſelbſt
ſey, und am wenigſten über ſeine Empfindungen gebieten könne.  Es iſt
hier die Frage von einer unangenehmen Empfindung, verſezt ich, die doch
jedermann gern los iſt, und niemand weis wie weit ſeine Kräfte gehn, bis
er ſie verſucht hat.  Gewiß, einer, der krank iſt, wird bey allen
Aerzten herum fragen, und die größten Reſignationen, die bitterſten
Arzneyen, wird er nicht abweiſen um ſeine gewünſchte Geſundheit zu
erhalten.  Ich bemerkte, daß der ehrliche Alte ſein Gehör anſtrengte um
an unſerm Diſkurs Theil zu nehmen, ich erhub die Stimme, indem ich die
Rede gegen ihn wandte.  Man predigt gegen ſo viele Laſter, ſagt ich, ich
habe noch nie gehört daß man gegen die üble Laune vom Predigtſtuhle
gearbeitet hätte *) –


*)

Wir haben nun von Lavatern eine trefliche Predigt hierüber unter denen
über das Buch Jonas.


Das müßten die Stadtpfarrer thun, ſagt er, die Bauern haben keinen böſen
Humor, doch könnts auch nichts ſchaden zuweilen, es wäre eine Lektion
für ſeine Frau wenigſtens, und den Herrn Amtmann.  Die Geſellſchaft
lachte und er herzlich mit, bis er in einen Huſten verfiel, der unſern
Diſkurs eine Zeitlang unterbrach, darauf denn der junge Menſch wieder
das Wort nahm: Sie nannten den böſen Humor ein Laſter, mich deucht, das
iſt übertrieben.  – Mit nichten gab ich zur Antwort, wenn das, womit man
ſich ſelbſt und ſeinen Nächſten ſchadet, den Namen verdient.  Iſt es
nicht genug, daß wir einander nicht glüklich machen können, müſſen wir
auch noch einander das Vergnügen rauben, das jedes Herz ſich noch
manchmal ſelbſt gewähren kann.  Und nennen ſie mir den Menſchen, der
übler Laune iſt und ſo brav dabey ſie zu verbergen, ſie allein zu
tragen, ohne die Freuden um ſich her zu zerſtören; oder iſt ſie nicht
vielmehr ein innerer Unmuth über unſre eigne Unwürdigkeit, ein Miſfallen
an uns ſelbſt, das immer mit einem Neide verknüpft iſt, der durch eine
thörige Eitelkeit aufgehezt wird: wir ſehen glükliche Menſchen, die wir
nicht glüklich machen, und das iſt unerträglich!  Lotte lächelte mich
an, da ſie die Bewegung ſah mit der ich redte, und eine Thräne in
Friederikens Auge ſpornte mich, fortzufahren.  Weh denen ſagt ich, die
ſich der Gewalt bedienen, die ſie über ein Herz haben, um ihm die
einfachen Freuden zu rauben, die aus ihm ſelbſt hervorkeimen.  Alle
Geſchenke, alle Gefälligkeiten der Welt erſezzen nicht einen Augenblik
Vergnügen an ſich ſelbſt, den uns eine neidiſche Unbehaglichkeit unſers
Tyrannen vergällt hat.

Mein ganzes Herz war voll in dieſem Augenblikke, die Erinnerung ſo
manches Vergangenen drängte ſich an meine Seele, und die Thränen kamen
mir in die Augen.

Wer ſich das nur täglich ſagte, rief ich aus: du vermagſt nichts auf
deine Freunde, als ihnen ihre Freude zu laſſen und ihr Glük zu
vermehren, indem du es mit ihnen genieſſeſt.  Vermagſt du, wenn ihre
innre Seele von einer ängſtigenden Leidenſchaft gequält, vom Kummer
zerrüttet iſt, ihnen einen Tropfen Linderung zu geben?

Und wenn die lezte bangſte Krankheit dann über das Geſchöpf herfällt,
das du in blühenden Tagen untergraben haſt, und ſie nun da liegt in dem
erbärmlichen Ermatten, und das Aug gefühllos gen Himmel ſieht, und der
Todeſſchweis auf ihrer Stirne abwechſelt, und du vor dem Bette ſtehſt
wie ein Verdammter, in dem innigſten Gefühl, daß du nichts vermagſt mit
all deinem Vermögen, und die Angſt dich inwendig krampft, daß du alles
hingeben möchteſt, um dem untergehenden Geſchöpf einen Tropfen Stärkung,
einen Funken Muth einflößen zu können.

Die Erinnerung einer ſolchen Scene, da ich gegenwärtig war, fiel mit
ganzer Gewalt bey dieſen Worten über mich.  Ich nahm das Schnupftuch vor
die Augen, und verlies die Geſellſchaft, und nur Lottens Stimme, die mir
rief: wir wollten fort, brachte mich zu mir ſelbſt.  Und wie ſie mich
auf dem Wege ſchalt, über den zu warmen Antheil an allem!  und daß ich
drüber zu Grunde gehen würde!  Daß ich mich ſchonen ſollte!  O der
Engel!  Um deinetwillen muß ich leben!

am 6. Juli.

Sie iſt immer um ihre ſterbende Freundinn, und iſt immer dieſelbe, immer
das gegenwärtige holde Geſchöpf, das, wo ſie hinſieht, Schmerzen lindert
und Glückliche macht.  Sie gieng geſtern Abend mit Mariannen und dem
kleinen Malgen ſpazieren, ich wußt es und traf ſie an, und wir giengen
zuſammen.  Nach einem Wege von anderthalb Stunden kamen wir gegen die
Stadt zurück, an den Brunnen, der mir ſo werth iſt, und nun tauſendmal
werther ward, als Lotte ſich auf's Mäuergen ſezte.  Ich ſah umher, ach!
und die Zeit, da mein Herz ſo allein war, lebte wieder vor mir auf.
Lieber Brunn, ſagt ich, ſeither hab ich nicht mehr an deiner Kühle
geruht, habe in eilendem Vorübergehn dich manchmal nicht angeſehn.  Ich
blikte hinab und ſah, daß Malgen mit einem Glaſe Waſſer ſehr beſchäftigt
heraufſtieg.  Ich ſahe Lotten an und fühlte alles, was ich an ihr habe.
Indem ſo kommt Malgen mit einem Glaſe, Marianne wollt es ihr abnehmen,
nein!  rufte das Kind mit dem ſüßten Auſdrukke: nein, Lottgen, du ſollſt
zuerſt trinken!  Ich ward über die Wahrheit, die Güte, womit ſie das
auſrief, ſo entzükt, daß ich meine Empfindung mit nichts auſdrukken
konnte, als ich nahm das Kind von der Erde und küßte es lebhaft, das
ſogleich zu ſchreien und zu weinen anfieng.  Sie haben übel gethan,
ſagte Lotte!  Ich war betroffen.  Komm Malgen, fuhr ſie fort, indem ſie
es an der Hand nahm und die Stufen hinabführte; da waſche dich aus der
friſchen Quelle geſchwind, geſchwind, da thut's nichts.  Wie ich ſo da
ſtund und zuſah, mit welcher Emſigkeit das Kleine mit ſeinen naſſen
Händgen die Bakken rieb, mit welchem Glauben, daß durch die Wunderquelle
alle Verunreinigung abgeſpült, und die Schmach abgethan würde, einen
häſlichen Bart zu kriegen.  Wie Lotte ſagte, es iſt genug, und das Kind
doch immer eifrig fort wuſch, als wenn Viel mehr thäte als Wenig.  Ich
ſage dir, Wilhelm, ich habe mit mehr Reſpekt nie einer Taufhandlung
beygewohnt, und als Lotte herauf kam, hätte ich mich gern vor ihr
niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden einer Nation
weggeweiht hat.

Des Abends konnt ich nicht umhin, in der Freude meines Herzens den
Vorfall einem Manne zu erzählen, dem ich Menſchenſinn zutraute, weil er
Verſtand hat.  Aber wie kam ich an.  Er ſagte, das wäre ſehr übel von
Lotten geweſen, man ſolle die Kinder nichts weis machen, dergleichen
gäbe zu unzählichen Irrthümern und Aberglauben Anlaß, man müßte die
Kinder frühzeitig davor bewahren.  Nun fiel mir ein, daß der Mann vor
acht Tagen hatte taufen laſſen, drum ließ ich's vorbey gehn und blieb in
meinem Herzen der Wahrheit getreu: wir ſollen es mit den Kindern machen,
wie Gott mit uns, der uns am glüklichſten macht, wenn er uns im
freundlichen Wahne ſo hintaumeln läßt.

am 8. Juli.

Was man ein Kind iſt!  Was man nach ſo einem Blikke geizt!  Was man ein
Kind iſt!  Wir waren nach Wahlheim gegangen, die Frauenzimmer fuhren
hinaus, und während unſrer Spaziergänge glaubt ich in Lottens ſchwarzen
Augen – Ich bin ein Thor, verzeih mir's, du ſollteſt ſie ſehn, dieſe
Augen.  Daß ich kurz bin, denn die Augen fallen mir zu vom Schlaf.
Siehe die Frauenzimmer ſtiegen ein, da ſtunden um die Kutſche der junge
W.  .  ., Selſtadt und Audran und ich.  Da ward aus dem Schlage
geplaudert mit den Kerlgens, die freylich leicht und lüftig genug waren.
Ich ſuchte Lottens Augen!  Ach ſie giengen von einem zum andern!  Aber
auf mich!  Mich!  Mich!  der ganz allein auf ſie reſignirt daſtund,
fielen ſie nicht!  Mein Herz ſagte ihr tauſend Adieu!  Und ſie ſah mich
nicht!  Die Kutſche fuhr vorbey und eine Thräne ſtund mir im Auge.  Ich
ſah ihr nach!  Und ſah Lottens Kopfputz ſich zum Schlag herauſlehnen,
und ſie wandte ſich um zu ſehn.  Ach!  Nach mir?  - Lieber!  In dieſer
Ungewißheit ſchweb ich!  Das iſt mein Troſt.  Vielleicht hat ſie ſich
nach mir umgeſehen.  Vielleicht – Gute Nacht!  O was ich ein Kind bin!

am 10. Juli.

Die alberne Figur, die ich mache, wenn in Geſellſchaft von ihr
geſprochen wird, ſollteſt du ſehen.  Wenn man mich nun gar fragt, wie
ſie mir gefällt – Gefällt!  das Wort haß ich in Tod.  Was muß das für
ein Kerl ſeyn, dem Lotte gefällt, dem ſie nicht alle Sinnen, alle
Empfindungen auſfüllt.  Gefällt!  Neulich fragte mich einer, wie mir
Oſſian gefiele.

am 11. Juli.

Frau M.  .  iſt ſehr ſchlecht, ich bete für ihr Leben, weil ich mit
Lotten dulde.  Ich ſeh ſie ſelten bey einer Freundinn, und heut hat ſie
mir einen wunderbaren Vorfall erzählt.  Der alte M.  .  iſt ein geiziger
rangiger Hund, der ſeine Frau im Leben was rechts geplagt und
eingeſchränkt hat.  Doch hat ſich die Frau immer durchzuhelfen gewußt.
Vor wenig Tagen, als der Doktor ihr das Leben abgeſprochen hatte, ließ
ſie ihren Mann kommen, Lotte war im Zimmer, und redte ihn alſo an: Ich
muß dir eine Sache geſtehn, die nach meinem Tode Verwirrung und Verdruß
machen könnte.  Ich habe biſher die Hauſhaltung geführt, ſo ordentlich
und ſparſam als möglich, allein du wirſt mir verzeihen, daß ich dich
dieſe dreyßig Jahre her hintergangen habe.  Du beſtimmteſt im Anfange
unſerer Heyrath ein geringes für die Beſtreitung der Küche und anderer
häuſlichen Auſgaben.  Als unſere Hauſhaltung ſtärker wurde, unſer Gewerb
gröſſer, warſt du nicht zu bewegen, mein Wochengeld nach dem
Verhältniſſe zu vermehren, kurz du weißt, daß du in den Zeiten, da ſie
am gröſten war, verlangteſt, ich ſolle mit ſieben Gulden die Woche
auſkommen.  Die hab ich denn ohne Widerrede genommen und mir den
Ueberſchuß wöchentlich aus der Looſung geholt, da niemand vermuthete,
daß die Frau die Caſſe beſtehlen würde.  Ich habe nichts verſchwendet
und wäre auch, ohne es zu bekennen, getroſt der Ewigkeit entgegen
gegangen, wenn nicht diejenige, die nach mir das Weſen zu führen hat,
ſich nicht zu helfen wiſſen würde, und du doch immer drauf beſtehen
könnteſt, deine erſte Frau ſey damit auſgekommen.

Ich redete mit Lotten über die unglaubliche Verblendung des
Menſchenſinns, daß einer nicht argwohnen ſoll, dahinter müſſe was anders
ſtekken, wenn eins mit ſieben Gulden hinreicht, wo man den Aufwand
vielleicht um zweymal ſo viel ſieht.  Aber ich hab ſelbſt Leute gekannt,
die des Propheten ewiges Oelkrüglein ohne Verwunderung in ihrem Hauſe
ſtatuirt hätten.

am 13. Juli.

Nein, ich betrüge mich nicht!  Ich leſe in ihren ſchwarzen Augen wahre
Theilnehmung an mir, und meinem Schickſaale.  Ja ich fühle, und darin
darf ich meinem Herzen trauen, daß ſie – O darf ich, kann ich den Himmel
in dieſen Worten auſſprechen?  – daß ſie mich liebt.

Und ob das Vermeſſenheit iſt oder Gefühl des wahren Verhältniſſes: ich
kenne den Menſchen nicht, von dem ich etwas in Lottens Herzen fürchtete.
Und doch – wenn ſie von ihrem Bräutigam ſpricht mit all der Wärme, all
der Liebe, da iſt mir's wie einem, der all ſeiner Ehren und Würden
entſezt, und dem der Degen abgenommen wird.

am 16. Juli.

Ach, wie mir das durch alle Adern läuft, wenn mein Finger unverſehns den
ihrigen berührt, wenn unſere Füſſe ſich unter dem Tiſche begegnen.  Ich
ziehe zurück wie vom Feuer, und eine geheime Kraft zieht mich wieder
vorwärts, mir wirds ſo ſchwindlig vor allen Sinnen.  O und ihre
Unſchuld, ihre unbefangene Seele fühlt nicht, wie ſehr mich die kleinen
Vertraulichkeiten peinigen.  Wenn ſie gar im Geſpräch ihre Hand auf die
meinige legt, und im Intereſſe der Unterredung näher zu mir rückt, daß
der himmliſche Athem ihres Mundes meine Lippen reichen kann.  – Ich
glaube zu verſinken, wie vom Wetter gerührt.  Und Wilhelm, wenn ich mich
jemals unterſtehe, dieſen Himmel, dieſes Vertrauen – Du verſtehſt mich.
Nein, mein Herz iſt ſo verderbt nicht!  Schwach!  ſchwach genug!  Und
iſt das nicht Verderben?

Sie iſt mir heilig.  Alle Begier ſchweigt in ihrer Gegenwart.  Ich weis
nimmer, wie mir iſt, wenn ich bey ihr bin, es iſt als wenn die Seele
ſich mir in allen Nerven umkehrte.  Sie hat eine Melodie, die ſie auf
dem Clavier ſpielt mit der Kraft eines Engels, ſo ſimpel und ſo
geiſtvoll, es iſt ihr Leiblied, und mich ſtellt es von aller Pein,
Verwirrung und Grillen her, wenn ſie nur die erſte Note davon greift.

Kein Wort von der Zauberkraft der alten Muſik iſt mir unwahrſcheinlich,
wie mich der einfache Geſang angreift.  Und wie ſie ihn anzubringen
weis, oft zur Zeit, wo ich mir eine Kugel vor'n Kopf ſchieſſen möchte.
Und all die Irrung und Finſterniß meiner Seele zerſtreut ſich, und ich
athme wieder freyer.

am 18ten Juli.

Wilhelm, was iſt unſerm Herzen die Welt ohne Liebe!  Was eine
Zauberlaterne iſt, ohne Licht!  Kaum bringſt Du das Lämpgen hinein, ſo
ſcheinen Dir die bunteſten Bilder an deine weiße Wand!  Und wenn's
nichts wäre als das, als vorübergehende Phantomen, ſo machts doch immer
unſer Glük, wenn wir wie friſche Bubens davor ſtehen und uns über die
Wundererſcheinungen entzükken.  Heut konnt ich nicht zu Lotten, eine
unvermeidliche Geſellſchaft hielt mich ab.  Was war zu thun.  Ich
ſchikte meinen Buben hinaus, nur um einen Menſchen um mich zu haben, der
ihr heute nahe gekommen wäre.  Mit welcher Ungedult ich den Buben
erwartete, mit welcher Freude ich ihn wieder ſah.  Ich hätt' ihn gern
bey'm Kopf genommen und geküßt, wenn ich mich nicht geſchämt hätte.

Man erzählt von dem Bononiſchen Stein, daß er, wenn man ihn in die Sonne
legt, ihre Strahlen anzieht und eine Weile bey Nacht leuchtet.  So war
mir's mit dem Jungen.  Das Gefühl, daß ihre Augen auf ſeinem Geſicht',
ſeinen Bakken, ſeinen Rokknöpfen und dem Kragen am Sürtout geruht
hatten, machte mir das all ſo heilig, ſo werth, ich hätte in dem
Augenblikke den Jungen nicht vor tauſend Thaler gegeben.  Es war mir ſo
wohl in ſeiner Gegenwart – Bewahre dich Gott, daß du darüber nicht
lachſt.  Wilhelm, ſind das Phantomen, wenn es uns wohl wird?

den 19.  Juli.

Ich werde ſie ſehen: ruf ich Morgens aus, wenn ich mich ermuntere, und
mit aller Heiterkeit der ſchönen Sonne entgegen blikke.  Ich werde ſie
ſehen!  Und da habe ich für den ganzen Tag keinen Wunſch weiter.  Alles,
alles verſchlingt ſich in dieſer Auſſicht.

den 20.  Juli.

Eure Idee will noch nicht die meinige werden, daß ich mit dem Geſandten
nach *** gehen ſoll.  Ich liebe die Subordination nicht ſehr, und wir
wiſſen alle, daß der Mann noch dazu ein widriger Menſch iſt.  Meine
Mutter möchte mich gern in Aktivität haben, ſagſt du, das hat mich zu
lachen gemacht, bin ich jezt nicht auch aktiv?  und iſt's im Grund nicht
einerley: ob ich Erbſen zähle oder Linſen?  Alles in der Welt läuft doch
auf eine Lumperey hinaus, und ein Kerl, der um anderer willen, ohne daß
es ſeine eigene Leidenſchaft iſt, ſich um Geld, oder Ehre, oder ſonſt
was, abarbeitet, iſt immer ein Thor.

am 24. Juli.

Da Dir ſo viel daran gelegen iſt, daß ich mein Zeichnen nicht
vernachläſſige, möcht ich lieber die ganze Sache übergehn, als Dir
ſagen: daß zeither wenig gethan wird.

Noch nie war ich glüklicher, noch nie meine Empfindung an der Natur, bis
auf's Steingen, auf's Gräſgen herunter, voller und inniger, und doch –
ich weis nicht, wie ich mich auſdrükken ſoll, meine vorſtellende Kraft
iſt ſo ſchwach, alles ſchwimmt, ſchwankt vor meiner Seele, daß ich
keinen Umriß pakken kann; aber ich bilde mir ein, wenn ich Thon hätte
oder Wachs, ſo wollt ich's wohl herauſbilden, ich werde auch Thon nehmen
wenn's länger währt, und kneten, und ſollten's Kuchen werden.


Lottens Porträt habe ich dreymal angefangen, und habe mich dreymal
proſtituirt, das mich um ſo mehr verdrieſt, weil ich vor einiger Zeit
ſehr glüklich im Treffen war, darauf hab ich denn ihren Schattenriß
gemacht, und damit ſoll mir genügen.

am 26. Juli.

Ich habe mir ſchon ſo manchmal vorgenommen, ſie nicht ſo oft zu ſehn.
Ja wer das halten könnte!  Alle Tage unterlieg ich der Verſuchung, und
verſpreche mir heilig: Morgen willſt du einmal wegbleiben, und wenn der
Morgen kommt, find ich doch wieder eine unwiderſtehliche Urſache, und eh
ich mich's verſehe, bin ich bey ihr.  Entweder ſie hat des Abends
geſagt: Sie kommen doch Morgen?  – Wer könnte da wegbleiben?  Oder der
Tag iſt gar zu ſchön, ich gehe nach Wahlheim, und wenn ich ſo da bin –
iſt's nur noch eine halbe Stunde zu ihr!  Ich bin zu nah in der
Atmoſphäre, Zuk!  ſo bin ich dort.  Meine Großmutter hatte ein Märgen
vom Magnetenberg.  Die Schiffe, die zu nahe kamen, wurden auf einmal
alles Eiſenwerks beraubt, die Nägel flogen dem Berge zu, und die armen
Elenden ſcheiterten zwiſchen den übereinanderſtürzenden Brettern.

am 30. Juli.

Albert iſt angekommen, und ich werde gehen, und wenn er der beſte, der
edelſte Menſch wäre, unter den ich mich in allem Betracht zu ſtellen
bereit wäre, ſo wär's unerträglich, ihn vor meinem Angeſichte im Beſizze
ſo vieler Vollkommenheiten zu ſehen.  Beſiz!  – Genug, Wilhelm, der
Bräutigam iſt da.  Ein braver lieber Kerl, dem man gut ſeyn muß.
Glüklicher weiſe war ich nicht bey'm Empfange!  Das hätte mir das Herz
zerriſſen.  Auch iſt er ſo ehrlich und hat Lotten in meiner Gegenwart
noch nicht einmal geküßt.  Das lohn ihm Gott!  Um des Reſpekts willen,
den er vor dem Mädgen hat, muß ich ihn lieben.  Er will mir wohl, und
ich vermuthe, das iſt Lottens Werk, mehr als ſeiner eigenen Empfindung,
denn darinn ſind die Weiber fein und haben recht.  Wenn ſie zwey Kerls
in gutem Vernehmen mit einander halten können, iſt der Vortheil immer
ihre, ſo ſelten es auch angeht.

Indeß kann ich Alberten meine Achtung nicht verſagen, ſeine gelaſſne
Auſſenſeite ſticht gegen die Unruhe meines Charakters ſehr lebhaft ab,
die ſich nicht verbergen läßt, er hat viel Gefühl und weis, was er an
Lotten hat.  Er ſcheint wenig üble Laune zu haben, und du weiſt, das iſt
die Sünde, die ich ärger haſſe am Menſchen als alle andre.

Er hält mich für einen Menſchen von Sinn, und meine Anhänglichkeit an
Lotten, meine warme Freude, die ich an all ihren Handlungen habe
vermehrt ſeinen Triumph, und er liebt ſie nur deſto mehr.  Ob er ſie
nicht manchmal heimlich mit kleiner Eiferſüchteley peinigt, das laß ich
dahin geſtellt ſeyn, wenigſtens an ſeinem Plazze würde ich nicht ganz
ſicher vor dem Teufel bleiben.

Dem ſey nun, wie ihm wolle, meine Freude, bey Lotten zu ſeyn, iſt hin!
Soll ich das Thorheit nennen oder Verblendung?  – Was braucht's Nahmen!
Erzählt die Sache an ſich!  – Ich wuſte alles, was ich jezt weis, eh
Albert kam, ich wuſte, daß ich keine Prätenſionen auf ſie zu machen
hatte, machte auch keine – Heiſt das, inſofern es möglich iſt, bey ſo
viel Liebenſwürdigkeiten nicht zu begehren – Und jezt macht der Frazze
groſſe Augen, da der andere nun wirklich kommt, und ihm das Mädgen
wegnimmt.

Ich beiſſe die Zähne auf einander und ſpotte über mein Elend, und
ſpottete derer doppelt und dreyfach, die ſagen könnten, ich ſollte mich
reſigniren, und weil's nun einmal nicht anders ſeyn könnte.  – Schafft
mir die Kerls vom Hals!  – Ich laufe in den Wäldern herum, und wenn ich
zu Lotten komme, und Albert ſo bey ihr ſizt im Gärtgen unter der Laube,
und ich nicht weiter kann, ſo bin ich auſgelaſſen närriſch, und fange
viel Poſſen, viel verwirrtes Zeug an.  Um Gottes willen, ſagte mir Lotte
heute, ich bitte Sie!  keine Scene wie die von geſtern Abend!  ſie ſind
fürchterlich, wenn ſie ſo luſtig ſind.  Unter uns, ich paſſe die Zeit
ab, wenn er zu thun hat, wutſch!  bin ich draus, und da iſt mir's immer
wohl, wenn ich ſie allein finde.

am 8. Aug.

Ich bitte dich, lieber Wilhelm!  Es war gewiß nicht auf dich geredt,
wenn ich ſchrieb: ſchafft mir die Kerls vom Hals, die ſagen, ich ſollte
mich reſigniren.  Ich dachte warlich nicht dran, daß du von ähnlicher
Meinung ſeyn könnteſt.  Und im Grunde haſt du recht!  Nur eins, mein
Beſter, in der Welt iſt's ſehr ſelten mit dem Entweder Oder gethan, es
giebt ſo viel Schattirungen der Empfindungen und Handlungſweiſen, als
Abfälle zwiſchen einer Habichtſ- und Stumpfnaſe.

Du wirſt mir alſo nicht übel nehmen, wenn ich dir dein ganzes Argument
einräume, und mich doch zwiſchen dem Entweder Oder durchzuſtehlen ſuche.

Entweder ſagſt du, haſt du Hofnung auf Lotten, oder du haſt keine.  Gut!
Im erſten Falle ſuch ſie durchzutreiben, ſuche die Erfüllung deiner
Wünſche zu umfaſſen, im andern Falle ermanne dich und ſuche einer
elenden Empfindung los zu werden, die all deine Kräfte verzehren muß.
Beſter, das iſt wohl geſagt und – bald geſagt.

Und kannſt du von dem Unglüklichen, deſſen Leben unter einer
ſchleichenden Krankheit unaufhaltſam allmählich abſtirbt, kannſt du von
ihm verlangen, er ſolle durch einen Dolchſtos der Quaal auf einmal ein
Ende machen?  Und raubt das Uebel, das ihm die Kräfte wegzehrt, ihm
nicht auch zugleich den Muth, ſich davon zu befreyen?

Zwar könnteſt du mir mit einem verwandten Gleichniſſe antworten: Wer
lieſſe ſich nicht lieber den Arm abnehmen, als daß er durch Zaudern und
Zagen ſein Leben auf's Spiel ſezte – Ich weis nicht – und wir wollen uns
nicht in Gleichniſſen herumbeiſſen.  Genug – Ja, Wilhelm, ich habe
manchmal ſo einen Augenblik aufſpringenden, abſchüttelnden Muths, und
da, wenn ich nur wüſte wohin, ich gienge wohl.

am 10. Aug.

Ich könnte das beſte glüklichſte Leben führen, wenn ich nicht ein Thor
wäre.  So ſchöne Umſtände vereinigen ſich nicht leicht zuſammen, eines
Menſchen Herz zu ergözzen, als die ſind, in denen ich mich jezt befinde.
Ach ſo gewiß iſt's, daß unſer Herz allein ſein Glük macht!  Ein Glied
der liebenſwürdigen Familie auſzumachen, von dem Alten geliebt zu werden
wie ein Sohn, von den Kleinen wie ein Vater und von Lotten – und nun der
ehrliche Albert, der durch keine launiſche Unart mein Glük ſtört, der
mich mit herzlicher Freundſchaft umfaßt, dem ich nach Lotten das liebſte
auf der Welt bin – Wilhelm, es iſt eine Freude, uns zu hören, wenn wir
ſpazieren gehn und uns einander von Lotten unterhalten, es iſt in der
Welt nichts lächerlichers erfunden worden als dieſes Verhältniß, und
doch kommen mir drüber die Thränen oft in die Augen.

Wenn er mir ſo von ihrer rechtſchaffenen Mutter erzählt, wie die auf
ihrem Todbette Lotten ihr Hauß und ihre Kinder übergeben und ihm Lotten
anbefohlen habe, wie ſeit der Zeit ein ganz anderer Geiſt Lotten belebt,
wie ſie in Sorge für ihre Wirthſchaft und im Ernſte eine wahre Mutter
geworden, wie kein Augenblik ihrer Zeit ohne thätige Liebe, ohne Arbeit
verſtrichen, und wie dennoch all ihre Munterkeit, all ihr Leichtſinn ſie
nicht verlaſſen habe.  Ich gehe ſo neben ihm hin und pflükke Blumen am
Wege, füge ſie ſehr ſorgfältig in einen Straus und – werfe ſie in den
vorüberflieſſenden Strohm, und ſehe ihnen nach, wie ſie leiſe
hinunterwallen.  Ich weis nicht, ob ich dir geſchrieben habe, daß Albert
hier bleiben, und ein Amt mit einem artigen Auſkommen vom Hofe erhalten
wird, wo er ſehr beliebt iſt.  In Ordnung und Emſigkeit in Geſchäften
hab ich wenig ſeines gleichen geſehen.

am 12. Aug.

Gewiß, Albert iſt der beſte Menſch unter dem Himmel, ich habe geſtern
eine wunderbare Scene mit ihm gehabt.  Ich kam zu ihm, um Abſchied zu
nehmen, denn mich wandelte die Luſt an, in's Gebürg zu reiten, von daher
ich dir auch jezt ſchreibe, und wie ich in der Stube auf und ab gehe,
fallen mir ſeine Piſtolen in die Augen.  Borg mir die Piſtolen, ſagt
ich, zu meiner Reiſe.  Meinetwegen, ſagt er, wenn du dir die Mühe geben
willſt, ſie zu laden, bey mir hängen ſie nur pro forma.  Ich nahm eine
herunter, und er fuhr fort: Seit mir meine Vorſicht einen ſo unartigen
Streich geſpielt hat, mag ich mit dem Zeuge nichts mehr zu thun haben.
Ich war neugierig, die Geſchichte zu wiſſen.  Ich hielte mich, erzählte
er, wohl ein Vierteljahr auf dem Lande bey einem Freunde auf, hatte ein
Paar Terzerolen ohngeladen und ſchlief ruhig.  Einmal an einem regnigten
Nachmittage, da ich ſo müßig ſizze, weis ich nicht wie mir einfällt: wir
könnten überfallen werden, wir könnten die Terzerols nöthig haben, und
könnten – du weiſt ja, wie das iſt.  Ich gab ſie dem Bedienten, ſie zu
puzzen, und zu laden, und der dahlt, mit den Mädgen, will ſie
erſchrökken, und Gott weis wie, das Gewehr geht los, da der Ladſtok noch
drinn ſteckt, und ſchießt den Ladſtok einem Mädgen zur Maus herein, an
der rechten Hand, und zerſchlägt ihr den Daumen.  Da hatt' ich das
Lamentiren und den Barbierer zu bezahlen oben drein, und ſeit der Zeit
laß ich all das Gewehr ungeladen.  Lieber Schaz, was iſt Vorſicht!  die
Gefahr läßt ſich nicht auſlernen!  Zwar – Nun weiſt du, daß ich den
Menſchen ſehr liebhabe bis auf ſeine Zwar.  Denn verſteht ſich's nicht
von ſelbſt, daß jeder allgemeine Saz Auſnahmen leidet.  Aber ſo
rechtfertig iſt der Menſch, wenn er glaubt, etwas übereiltes,
allgemeines, halbwahres geſagt zu haben; ſo hört er dir nicht auf zu
limitiren, modificiren, und ab und zu zu thun, bis zulezt gar nichts
mehr an der Sache iſt.  Und bey dieſem Anlaſſe kam er ſehr tief in Text,
und ich hörte endlich gar nicht weiter auf ihn, verfiel in Grillen, und
mit einer auffahrenden Gebärde drukt ich mir die Mündung der Piſtolen
übers rechte Aug an die Stirn.  Pfuy ſagte Albert, indem er mir die
Piſtole herabzog, was ſoll das!  – Sie iſt nicht geladen, ſagt ich.  Und
auch ſo!  Was ſoll's?  verſezt er ungedultig.  Ich kann mir nicht
vorſtellen, wie ein Menſch ſo thörigt ſeyn kann, ſich zu erſchieſſen;
der bloße Gedanke erregt mir Widerwillen.

Daß ihr Menſchen, rief ich aus, um von einer Sache zu reden, gleich
ſprechen müßt: Das iſt thörig, das iſt klug, das iſt gut, das iſt bös!
Und was will das all heiſſen?  Habt ihr deßwegen die innern Verhältniſſe
einer Handlung erforſcht?  Wißt ihr mit Beſtimmtheit die Urſachen zu
entwikkeln, warum ſie geſchah, warum ſie geſchehen mußte?  Hättet ihr
das, ihr würdet nicht ſo eilfertig mit euren Urtheilen ſeyn.

Du wirſt mir zugeben, ſagte Albert, daß gewiſſe Handlungen laſterhaft
bleiben, ſie mögen aus einem Beweggrunde geſchehen, aus welchem ſie
wollen.

Ich zukte die Achſeln und gabs ihm zu.  Doch, mein Lieber, fuhr ich
fort, finden ſich auch hier einige Auſnahmen.  Es iſt wahr, der
Diebſtahl iſt ein Laſter; aber der Menſch, der, um ſich und die Seinigen
vom ſchmäligen Hungertode zu erretten, auf Raub auſgeht, verdient der
Mitleiden oder Strafe?  Wer hebt den erſten Stein auf gegen den Ehemann,
der im gerechten Zorne ſein untreues Weib und ihren nichtſwürdigen
Verführer aufopfert?  Gegen das Mädgen, das in einer wonnevollen Stunde,
ſich in den unaufhaltſamen Freuden der Liebe verliert?  Unſere Geſetze
ſelbſt, dieſe kaltblütigen Pedanten, laſſen ſich rühren, und halten ihre
Strafe zurük.

Das iſt ganz was anders, verſezte Albert, weil ein Menſch, den ſeine
Leidenſchaften hinreiſſen, alle Beſinnungſkraft verliert und als ein
Trunkener, als ein Wahnſinniger angeſehen wird.  – Ach ihr vernünftigen
Leute!  rief ich lächelnd aus.  Leidenſchaft!  Trunkenheit!  Wahnſinn!
Ihr ſteht ſo gelaſſen, ſo ohne Theilnehmung da, ihr ſittlichen Menſchen,
ſcheltet den Trinker, verabſcheuet den Unſinnigen, geht vorbey wie der
Prieſter, und dankt Gott wie der Phariſäer, daß er euch nicht gemacht
hat, wie einen von dieſen.  Ich bin mehr als einmal trunken geweſen, und
meine Leidenſchaften waren nie weit vom Wahnſinne, und beydes reut mich
nicht, denn ich habe in meinem Maaſſe begreifen lernen: Wie man alle
auſſerordentliche Menſchen, die etwas groſſes, etwas unmöglich
ſcheinendes würkten, von jeher für Trunkene und Wahnſinnige auſſchreien
müßte.


Aber auch im gemeinen Leben iſts unerträglich, einem Kerl bey halbweg
einer freyen, edlen, unerwarteten That nachrufen zu hören: Der Menſch
iſt trunken, der iſt närriſch.  Schämt euch, ihr Nüchternen!  Schämt
euch, ihr Weiſen.  Das ſind nun wieder von deinen Grillen, ſagte Albert.
Du überſpannſt alles, und haſt wenigſtens hier gewiß unrecht, daß du den
Selbſtmord, wovon wir jetzo reden, mit groſſen Handlungen vergleichſt,
da man es doch für nichts anders als eine Schwäche halten kann, denn
freylich iſt es leichter zu ſterben, als ein qualvolles Leben ſtandhaft
zu ertragen.

Ich war im Begriffe abzubrechen, denn kein Argument in der Welt bringt
mich ſo aus der Faſſung, als wenn einer mit einem unbedeutenden
Gemeinſpruche angezogen kommt, da ich aus ganzem Herzen rede.  Doch faßt
ich mich, weil ich's ſchon öfter gehört und mich öfter darüber geärgert
hatte, und verſezte ihm mit einiger Lebhaftigkeit: Du nennſt das
Schwäche!  ich bitte dich, laß dich vom Anſcheine nicht verführen.  Ein
Volk, das unter dem unerträglichen Joche eines Tyrannen ſeufzt, darfſt
du das ſchwach heiſſen, wenn es endlich aufgährt und ſeine Ketten
zerreißt?  Ein Menſch, der über dem Schrekken, daß Feuer ſein Haus
ergriffen hat, alle Kräfte zuſammen geſpannt fühlt, und mit Leichtigkeit
Laſten wegträgt, die er bey ruhigem Sinne kaum bewegen kann; einer, der
in der Wuth der Beleidigung es mit Sechſen aufnimmt, und ſie
überwältigt, ſind dir ſchwach zu nennen?  Und, mein Guter, wenn
Anſtrengung Stärke iſt, warum ſoll die Ueberſpannung das Gegentheil
ſeyn?  Albert ſah mich an und ſagte: nimm mirs nicht übel, die Beyſpiele
die du da giebſt, ſcheinen hierher gar nicht zu gehören.  Es mag ſeyn,
ſagt ich, man hat mir ſchon öfter vorgeworfen, daß meine Combinationſart
manchmal an's Radotage gränze!  Laßt uns denn ſehen, ob wir auf eine
andere Weiſe uns vorſtellen können, wie es dem Menſchen zu Muthe ſeyn
mag, der ſich entſchließt, die ſonſt ſo angenehme Bürde des Lebens
abzuwerfen, denn nur in ſo fern wir mit empfinden, haben wir Ehre von
einer Sache zu reden.

Die menſchliche Natur, fuhr ich fort, hat ihre Gränzen, ſie kann Freude,
Leid, Schmerzen, bis auf einen gewiſſen Grad ertragen, und geht zu
Grunde, ſobald der überſtiegen iſt.


Hier iſt alſo nicht die Frage, ob einer ſchwach oder ſtark iſt, ſondern
ob er das Maas ſeines Leidens auſdauren kann; es mag nun moraliſch oder
phyſikaliſch ſeyn, und ich finde es eben ſo wunderbar zu ſagen, der
Menſch iſt feig, der ſich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den
einen Feigen zu nennen, der an einem böſartigen Fieber ſtirbt.

Paradox!  ſehr paradox!  rief Albert aus.  – Nicht ſo ſehr, als du
denkſt, verſezt ich.  Du giebſt mir zu wir nennen das eine Krankheit zum
Todte, wodurch die Natur ſo angegriffen wird, daß theils ihre Kräfte
verzehrt, theils ſo außer Würkung geſezt werden, daß ſie ſich nicht
wieder aufzuhelfen, durch keine glükliche Revolution, den gewöhnlichen
Umlauf des Lebens wieder herzuſtellen fähig iſt.

Nun, mein Lieber, laß uns das auf den Geiſt anwenden.  Sieh den Menſchen
an in ſeiner Eingeſchränktheit, wie Eindrükke auf ihn würken, Ideen ſich
bey ihm feſt ſezzen, bis endlich eine wachſende Leidenſchaft ihn aller
ruhigen Sinneſkraft beraubt, und ihn zu Grunde richtet.

Vergebens, daß der gelaßne vernünftige Menſch den Zuſtand des
Unglüklichen überſieht, vergebens, daß er ihm zuredet, eben als wie ein
Geſunder, der am Bette des Kranken ſteht, ihm von ſeinen Kräften nicht
das geringſte einflößen kann.

Alberten war das zu allgemein geſprochen, ich erinnerte ihn an ein
Mädgen, das man vor weniger Zeit im Waſſer todt gefunden, und wiederholt
ihm ihre Geſchichte.  Ein gutes junges Geſchöpf, das in dem engen Kreiſe
häuſlicher Beſchäftigungen, wöchentlicher beſtimmter Arbeit ſo
herangewachſen war, das weiter keine Auſſicht von Vergnügen kannte, als
etwa Sonntags in einem nach und nach zuſammengeſchafften Puzze mit ihres
gleichen um die Stadt ſpazieren zu gehen, vielleicht alle hohe Feſte
einmal zu tanzen, und übrigens mit aller Lebhaftigkeit des herzlichſten
Antheils manche Stunde über den Anlas eines Gezänkes, einer übeln
Nachrede, mit einer Nachbarin zu verplaudern; deren feurige Natur fühlt
nun endlich innigere Bedürfniſſe, die durch die Schmeicheleyen der
Männer vermehrt werden, all ihre vorige Freuden werden ihr nach und nach
unſchmakhaft, bis ſie endlich einen Menſchen antrifft, zu dem ein
unbekanntes Gefühl ſie unwiderſtehlich hinreißt, auf den ſie nun all
ihre Hofnungen wirft, die Welt rings um ſich vergißt, nichts hört,
nichts ſieht, nichts fühlt als ihn, den Einzigen, ſich nur ſehnt nach
ihm, dem Einzigen.  Durch die leere Vergnügen einer unbeſtändigen
Eitelkeit nicht verdorben, zieht ihr Verlangen grad nach dem Zwecke: ſie
will die Seinige werden, ſie will in ewiger Verbindung all das Glück
antreffen, das ihr mangelt, die Vereinigung aller Freuden genieſſen,
nach denen ſie ſich ſehnte.  Wiederholtes Verſprechen, das ihr die
Gewißheit aller Hofnungen verſiegelt, kühne Liebkoſungen, die ihre
Begierden vermehren, umfangen ganz ihre Seele, ſie ſchwebt in einem
dumpfen Bewußtſeyn, in einem Vorgefühl aller Freuden, ſie iſt bis auf
den höchſten Grad geſpannt, wo ſie endlich ihre Arme auſſtrekt, all ihre
Wünſche zu umfaſſen – und ihr Geliebter verläßt Sie.  – Erſtarrt; ohne
Sinne ſteht ſie vor einem Abgrunde, und alles iſt Finſterniß um ſie her,
keine Auſſicht, kein Troſt, keine Ahndung, denn der hat ſie verlaſſen,
in dem ſie allein ihr Daſeyn fühlte.  Sie ſieht nicht die weite Welt,
die vor ihr liegt, nicht die Vielen, die ihr den Verluſt erſezzen
könnten, ſie fühlt ſich allein, verlaſſen von aller Welt, – und blind,
in die Enge gepreßt von der entſezlichen Noth ihres Herzens ſtürzt ſie
ſich hinunter, um in einem rings umfangenden Tode all ihre Quaalen zu
erſtikken.  – Sieh, Albert, das iſt die Geſchichte ſo manches Menſchen,
und ſag, iſt das nicht der Fall der Krankheit?  Die Natur findet keinen
Auſweg aus dem Labyrinthe der verworrenen und widerſprechenden Kräfte,
und der Menſch muß ſterben.

Wehe dem, der zuſehen und ſagen könnte: Die Thörinn!  hätte ſie
gewartet, hätte ſie die Zeit würken laſſen, es würde ſich die
Verzweiflung ſchon gelegt, es würde ſich ein anderer ſie zu tröſten
ſchon vorgefunden haben

Das iſt eben, als wenn einer ſagte: Der Thor!  ſtirbt am Fieber!  hätte
er gewartet, bis ſich ſeine Kräfte erhohlt, ſeine Säfte verbeſſert, der
Tumult ſeines Blutes gelegt hätten, alles wäre gut gegangen, und er
lebte bis auf den heutigen Tag!

Albert, dem die Vergleichung noch nicht anſchaulich war, wandte noch
einiges ein, und unter andern: ich habe nur von einem einfältigen Mädgen
geſprochen, wie denn aber ein Menſch von Verſtande, der nicht ſo
eingeſchränkt ſey, der mehr Verhältniſſe überſähe, zu entſchuldigen ſeyn
möchte, könne er nicht begreifen.  Mein Freund, rief ich aus, der Menſch
iſt Menſch, und das Bißgen Verſtand, das einer haben mag, kommt wenig
oder nicht in Anſchlag, wenn Leidenſchaft wüthet, und die Gränzen der
Menſchheit einen drängen.  Vielmehr – ein andermal, davon ſagt ich, und
grif nach meinem Hute.  O mir war das Herz ſo voll – Und wir giengen
auſeinander, ohne einander verſtanden zu haben.  Wie denn auf dieſer
Welt keiner leicht den andern verſteht.

am 15. Aug.

Es iſt doch gewiß, daß in der Welt den Menſchen nichts nothwendig macht
als die Liebe.  Ich fühl's an Lotten, daß ſie mich ungern verlöhre, und
die Kinder haben keine andre Idee, als daß ich immer morgen wiederkommen
würde.  Heut war ich hinauſgegangen, Lottens Clavier zu ſtimmen, ich
konnte aber nicht dazu kommen, denn die Kleinen verfolgten mich um ein
Mährgen, und Lotte ſagte denn ſelbſt, ich ſollte ihnen den Willen thun.
Ich ſchnitt ihnen das Abendbrod, das ſie nun faſt ſo gerne von mir als
von Lotten annehmen, und erzählte ihnen das Hauptſtückgen von der
Prinzeßinn, die von Händen bedient wird.  Ich lerne viel dabey, das
verſichr' ich dich, und ich bin erſtaunt, was es auf ſie für Eindrükke
macht.  Weil ich manchmal einen Inzidenzpunkt erfinden muß, den ich
bey'm zweyten Mal vergeſſe, ſagen ſie gleich, das vorigemal wär's anders
geweſt, ſo daß ich mich jezt übe, ſie unveränderlich in einem ſingenden
Sylbenfall an einem Schnürgen weg zu rezitiren.  Ich habe daraus gelernt
wie ein Autor, durch eine zweyte veränderte Auflage ſeiner Geſchichte,
und wenn ſie noch ſo poetiſch beſſer geworden wäre, nothwendig ſeinem
Buche ſchaden muß.  Der erſte Eindruk findet uns willig, und der Menſch
iſt ſo gemacht, daß man ihm das abenteuerlichſte überreden kann, das
haftet aber auch gleich ſo feſt, und wehe dem, der es wieder auſkrazzen
und auſtilgen will.

am 18. Aug.

Mußte denn das ſo ſeyn?  daß das, was des Menſchen Glükſeligkeit macht,
wieder die Quelle ſeines Elends würde.

Das volle warme Gefühl meines Herzens an der lebendigen Natur, das mich
mit ſo viel Wonne überſtrömte, das rings umher die Welt mir zu einem
Paradieſe ſchuf, wird mir jezt zu einem unerträglichen Peiniger, zu
einem quälenden Geiſte, der mich auf allen Wegen verfolgt.  Wenn ich
ſonſt vom Fels über den Fluß bis zu jenen Hügeln das fruchtbare Thal
überſchaute, und alles um mich her keimen und quellen ſah, wenn ich jene
Berge, vom Fuße bis auf zum Gipfel, mit hohen dichten Bäumen bekleidet,
all jene Thäler in ihren mannichfaltigen Krümmungen von den lieblichſten
Wäldern beſchattet ſah, und der ſanfte Fluß zwiſchen den liſpelnden
Rohren dahin gleitete, und die lieben Wolken abſpiegelte, die der ſanfte
Abendwind am Himmel herüber wiegte, wenn ich denn die Vögel um mich den
Wald beleben hörte, und die Millionen Mükkenſchwärme im lezten rothen
Strahle der Sonne muthig tanzten, und ihr lezter zukkender Blik den
ſummenden Käfer aus ſeinem Graſe befreyte und das Gewebere um mich her,
mich auf den Boden aufmerkſam machte und das Moos, das meinem harten
Felſen ſeine Nahrung abzwingt, und das Geniſte, das den dürren Sandhügel
hinunter wächſt, mir alles das innere glühende, heilige Leben der Natur
eröfnete, wie umfaßt ich das all mit warmen Herzen, verlohr mich in der
unendlichen Fülle, und die herrlichen Geſtalten der unendlichen Welt
bewegten ſich alllebend in meiner Seele.  Ungeheure Berge umgaben mich,
Abgründe lagen vor mir, und Wetterbäche ſtürzten herunter, die Flüſſe
ſtrömten unter mir, und Wald und Gebürg erklang.  Und ich ſah ſie würken
und ſchaffen in einander in den Tiefen der Erde, all die Kräfte
unergründlich.  Und nun über der Erde und unter dem Himmel wimmeln die
Geſchlechter der Geſchöpfe all, und alles, alles bevölkert mit
tauſendfachen Geſtalten, und die Menſchen dann ſich in Häuſlein zuſammen
ſichern, und ſich anniſten, und herrſchen in ihrem Sinne über die weite
Welt!  Armer Thor, der du alles ſo gering achteſt, weil du ſo klein
biſt.  Vom unzugänglichen Gebürge über die Einöde, die kein Fuß betrat,
bis ans Ende des unbekannten Ozeans weht der Geiſt des Ewigſchaffenden
und freut ſich jedes Staubs, der ihn vernimmt und lebt.  Ach damals, wie
oft hab ich mich mit Fittigen eines Kranichs, der über mich hinflog, zu
dem Ufer des ungemeſſenen Meeres geſehnt, aus dem ſchäumenden Becher des
Unendlichen, jene ſchwellende Lebenſwonne zu trinken, und nur einen
Augenblick in der eingeſchränkten Kraft meines Buſens einen Tropfen der
Seligkeit des Weſens zu fühlen, das alles in ſich und durch ſich
hervorbringt.


Bruder, nur die Erinnerung jener Stunden macht mir wohl, ſelbſt dieſe
Anſtrengung, jene unſäglichen Gefühle zurük zu rufen, wieder
auſzuſprechen, hebt meine Seele über ſich ſelbſt und läßt mir dann das
Bange des Zuſtands doppelt empfinden, der mich jezt umgiebt.


Es hat ſich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der
Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt ſich vor mir in den Abgrund
des ewig offnen Grabs.  Kannſt du ſagen: Das iſt!  da alles vorübergeht,
da alles mit der Wetterſchnelle vorüber rollt, ſo ſelten die ganze Kraft
ſeines Daſeyns auſdauert, ach, in den Strom fortgeriſſen, untergetaucht
und an Felſen zerſchmettert wird.  Da iſt kein Augenblik, der nicht dich
verzehrte und die Deinigen um dich her, kein Augenblik, da du nicht ein
Zerſtöhrer biſt, ſeyn mußt.  Der harmloſeſte Spaziergang koſtet tauſend
tauſend armen Würmgen das Leben, es zerrüttet ein Fuſtritt die
mühſeligen Gebäude der Ameiſen, und ſtampft eine kleine Welt in ein
ſchmähliches Grab.  Ha!  nicht die groſſe ſeltene Noth der Welt, dieſe
Fluthen, die eure Dörfer wegſpülen, dieſe Erdbeben, die eure Städte
verſchlingen, rühren mich.  Mir untergräbt das Herz die verzehrende
Kraft, die im All der Natur verborgen liegt, die nichts gebildet hat,
das nicht ſeinen Nachbar, nicht ſich ſelbſt zerſtörte.  Und ſo taumele
ich beängſtet!  Himmel und Erde und all die webenden Kräfte um mich her!
Ich ſehe nichts als ein ewig verſchlingendes, ewig wiederkäuendes
Ungeheur.

am 21. Aug.

Umſonſt ſtrekke ich meine Arme nach ihr aus, Morgens, wenn ich von
ſchweren Träumen aufdämmere, vergebens ſuch ich ſie Nachts in meinem
Bette, wenn mich ein glüklicher unſchuldiger Traum getäuſcht hat, als
ſäß ich neben ihr auf der Wieſe, und hielte ihre Hand und dekte ſie mit
tauſend Küſſen.  Ach wenn ich denn noch halb im Taumel des Schlafs nach
ihr tappe, und drüber mich ermuntere – Ein Strom von Thränen bricht aus
meinem gepreßten Herzen, und ich weine troſtlos einer finſtern Zukunft
entgegen.

am 22. Aug.

Es iſt ein Unglük, Wilhelm!  all meine thätigen Kräfte ſind zu einer
unruhigen Läſſigkeit verſtimmt, ich kann nicht müſſig ſeyn und wieder
kann ich nichts thun.  Ich habe keine Vorſtellungſkraft, kein Gefühl an
der Natur und die Bücher ſpeien mich alle an.  Wenn wir uns ſelbſt
fehlen, fehlt uns doch alles.  Ich ſchwöre Dir, manchmal wünſchte ich
ein Taglöhner zu ſeyn, um nur des Morgens bey'm Erwachen eine Auſſicht
auf den künftigen Tag, einen Drang, eine Hofnung zu haben.  Oft beneid
ich Alberten, den ich über die Ohren in Akten begraben ſehe, und bilde
mir ein: mir wär's wohl, wenn ich an ſeiner Stelle wäre!  Schon
etlichemal iſt mir's ſo aufgefahren, ich wollte Dir ſchreiben und dem
Miniſter und um die Stelle bey der Geſandtſchaft anhalten, die, wie Du
verſicherſt, mir nicht verſagt werden würde.  Ich glaube es ſelbſt, der
Miniſter liebt mich ſeit lange, hatte lange mir angelegen, ich ſolle
mich employiren, und eine Stunde iſt mir's auch wohl drum zu thun;
hernach, wenn ich ſo wieder dran denke, und mir die Fabel vom Pferde
einfällt, das ſeiner Freyheit ungedultig, ſich Sattel und Zeug auflegen
läßt, und zu Schanden geritten wird.  Ich weis nicht, was ich ſoll – Und
mein Lieber!  Iſt nicht vielleicht das Sehnen in mir nach Veränderung
des Zuſtands, eine innre unbehagliche Ungedult, die mich überallhin
verfolgen wird?

am 28. Aug.

Es iſt wahr, wenn meine Krankheit zu heilen wäre, ſo würden dieſe
Menſchen es thun.  Heut iſt mein Geburtſtag, und in aller Frühe empfang
ich ein Päkgen von Alberten.  Mir fällt bey'm Eröfnen ſogleich eine der
blaßrothen Schleifen in die Augen, die Lotte vorhatte, als ich ſie
kennen lernte, und um die ich ſie ſeither etlichemal gebeten hatte.  Es
waren zwey Büchelgen in duodez dabey, der kleine Wetſteiniſche Homer,
ein Büchelgen, nach dem ich ſo oft verlangt, um mich auf dem
Spaziergange mit dem Erneſtiſchen nicht zu ſchleppen.  Sieh!  ſo kommen
ſie meinen Wünſchen zuvor, ſo ſuchen ſie all die kleinen Gefälligkeiten
der Freundſchaft auf, die tauſendmal werther ſind als jene blendende
Geſchenke, wodurch uns die Eitelkeit des Gebers erniedrigt.  Ich küſſe
dieſe Schleife tauſendmal, und mit jedem Athemzuge ſchlürfe ich die
Erinnerung jener Seligkeiten ein, mit denen mich jene wenige,
glückliche, unwiederbringliche Tage überfüllten.  Wilhelm es iſt ſo, und
ich murre nicht, die Blüthen des Lebens ſind nur Erſcheinungen!  wie
viele gehn vorüber, ohne eine Spur hinter ſich zu laſſen, wie wenige
ſezzen Frucht an, und wie wenige dieſer Früchte werden reif.  Und doch
ſind deren noch genug da, und doch – O mein Bruder!  können wir gereifte
Früchte vernachläſſigen, verachten, ungenoſſen verwelken und verfaulen
laſſen?

Lebe wohl!  Es iſt ein herrlicher Sommer, ich ſizze oft auf den
Obſtbäumen in Lottens Baumſtük mit dem Obſtbrecher der langen Stange,
und hole die Birn aus dem Gipfel.  Sie ſteht unten und nimmt ſie ab,
wenn ich ſie ihr hinunter laſſe.

am 30. Aug.

Unglücklicher!  Biſt du nicht ein Thor?  Betrügſt du dich nicht ſelbſt?
Was ſoll all dieſe tobende, endloſe Leidenſchaft?  Ich habe kein Gebet
mehr, als an ſie, meiner Einbildungſkraft erſcheint keine andere Geſtalt
als die ihrige, und alles in der Welt um mich her, ſehe ich nur im
Verhältniſſe mit ihr.  Und das macht mir denn ſo manche glükliche Stunde
– Bis ich mich wieder von ihr loſreißen muß, ach Wilhelm, wozu mich mein
Herz oft drängt!  – Wenn ich ſo bey ihr geſeſſen bin, zwey, drey
Stunden, und mich an der Geſtalt, an dem Betragen, an dem himmliſchen
Auſdruk ihrer Worte geweidet habe, und nun ſo nach und nach alle meine
Sinnen aufgeſpannt werden, mir's düſter vor den Augen wird, ich kaum was
noch höre, und mich's an die Gurgel faßt wie ein Meuchelmörder, dann
mein Herz in wilden Schlägen den bedrängten Sinnen Luft zu machen ſucht
und ihre Verwirrung vermehrt.  Wilhelm, ich weis oft nicht, ob ich auf
der Welt bin!  Und wenn nicht manchmal die Wehmuth das Uebergewicht
nimmt, und Lotte mir den elenden Troſt erlaubt, auf ihrer Hand meine
Beklemmung auſzuweinen, ſo muß ich fort!  Muß hinaus!  Und ſchweife dann
weit im Felde umher.  Einen gähen Berg zu klettern, iſt dann meine
Freude, durch einen unwegſamen Wald einen Pfad durchzuarbeiten, durch
die Hekken die mich verlezzen, durch die Dornen die mich zerreiſſen!  Da
wird mir's etwas beſſer!  Etwas!  Und wenn ich für Müdigkeit und Durſt
manchſmal unterwegs liegen bleibe, manchmal in der tiefen Nacht, wenn
der hohe Vollmond über mir ſteht, im einſamen Walde auf einem
krumgewachſnen Baum mich ſezze, um meinen verwundeten Solen nur einige
Linderung zu verſchaffen, und dann in einer ermattenden Ruhe in dem
Dämmerſcheine hinſchlummre!  O Wilhelm!  Die einſame Wohnung einer
Zelle, das härne Gewand und der Stachelgürtel wären Labſale, nach denen
meine Seele ſchmachtet.  Adieu.  Ich ſeh all dieſes Elends kein Ende als
das Grab.

am 3. Sept.

Ich muß fort!  ich danke Dir, Wilhelm, daß Du meinen wankenden Entſchluß
beſtimmt haſt.  Schon vierzehn Tage geh ich mit dem Gedanken um, ſie zu
verlaſſen.  Ich muß.  Sie iſt wieder in der Stadt bey einer Freundinn.
Und Albert – und – ich muß fort.

am 10. Sept.

Das war eine Nacht!  Wilhelm, nun überſteh ich alles.  Ich werde ſie
nicht wiederſehn.  O daß ich nicht an Deinen Hals fliegen, Dir mit
tauſend Thränen und Entzükkungen auſdrükken kann, mein Beſter, all die
Empfindungen, die mein Herz beſtürmen.  Hier ſizz ich und ſchnappe nach
Luft, ſuche mich zu beruhigen, und erwarte den Morgen, und mit Sonnen
Aufgang ſind die Pferde beſtellt.


Ach, ſie ſchläft ruhig und denkt nicht, daß ſie mich nie wieder ſehen
wird.  Ich habe mich loſgeriſſen, bin ſtark genug geweſen, in einem
Geſpräche von zwey Stunden mein Vorhaben nicht zu verrathen.  Und Gott,
welch ein Geſpräch!


Albert hatte mir verſprochen, gleich nach dem Nachteſſen mit Lotten im
Garten zu ſeyn.  Ich ſtand auf der Terraſſe unter den hohen
Caſtanienbäumen, und ſah der Sonne nach, die mir nun zum letztenmal über
dem lieblichen Thale, über dem ſanften Fluſſe untergieng.  So oft hatte
ich hier geſtanden mit ihr, und eben dem herrlichen Schauſpiele
zugeſehen und nun – Ich gieng in der Allee auf und ab, die mir ſo lieb
war, ein geheimer ſympathetiſcher Zug hatte mich hier ſo oft gehalten,
eh ich noch Lotten kannte, und wie freuten wir uns, als im Anfange
unſerer Bekanntſchaft wir die wechſelſeitige Neigung zu dem Pläzgen
entdekten, das wahrhaftig eins der romantiſchten iſt, die ich von der
Kunſt habe hervorgebracht geſehen.


Erſt haſt du zwiſchen den Caſtanienbäumen die weite Auſſicht – Ach, ich
erinnere mich, ich habe dir, denk ich, ſchon viel geſchrieben davon, wie
hohe Buchenwände einen endlich einſchlieſſen und durch ein daran
ſtoßendes Boſquet die Allee immer düſtrer wird, bis zuletzt alles ſich
in ein geſchloſſenes Pläzgen endigt, das alle Schauer der Einſamkeit
umſchweben.  Ich fühl es noch wie heimlich mir's ward, als ich zum
erſtenmal an einem hohen Mittage hinein trat, ich ahndete ganz leiſe,
was das noch für ein Schauplaz werden ſollte von Seligkeit und Schmerz.


Ich hatte mich etwa eine halbe Stunde in denen ſchmachtend ſüſſen
Gedanken des Abſcheidens, des Wiederſehns geweidet; als ich ſie die
Terraſſe herauf ſteigen hörte, ich lief ihnen entgegen, mit einem
Schauer faßt ich ihre Hand und küßte ſie.  Wir waren eben herauf
getreten, als der Mond hinter dem büſchigen Hügel aufgieng, wir redeten
mancherley und kamen unvermerkt dem düſtern Cabinette näher.  Lotte trat
hinein und ſezte ſich, Albert neben ſie, ich auch, doch, meine Unruhe
lies mich nicht lange ſizzen, ich ſtand auf, trat vor ſie, gieng auf und
ab, ſezte mich wieder, es war ein ängſtlicher Zuſtand.  Sie machte uns
aufmerkſam auf die ſchöne Würkung des Mondenlichts, das am Ende der
Buchenwände die ganze Terraſſe vor uns erleuchtete, ein herrlicher
Anblik, der um ſo viel frappanter war, weil uns rings eine tiefe
Dämmerung einſchloß.  Wir waren ſtill, und ſie fieng nach einer Weile
an: Niemals geh ich im Mondenlichte ſpazieren, niemals daß mir nicht der
Gedanke an meine Verſtorbenen begegnete, daß nicht das Gefühl von Tod,
von Zukunft über mich käme.  Wir werden ſeyn, fuhr ſie mit der Stimme
des herrlichſten Gefühls fort, aber Werther, ſollen wir uns wieder
finden?  und wieder erkennen?  Was ahnden ſie, was ſagen ſie?


Lotte, ſagt ich, indem ich ihr die Hand reichte und mir die Augen voll
Thränen wurden, wir werden uns wieder ſehn!  Hier und dort wieder ſehn!
– Ich konnte nicht weiter reden – Wilhelm, mußte ſie mich das fragen?
da ich dieſen ängſtlichen Abſchied im Herzen hatte.


Und ob die lieben Abgeſchiednen von uns wiſſen, fuhr ſie fort, ob ſie
fühlen, wann's uns wohl geht, daß wir mit warmer Liebe uns ihrer
erinnern?  O die Geſtalt meiner Mutter ſchwebt immer um mich, wenn ich
ſo am ſtillen Abend, unter ihren Kindern, unter meinen Kindern ſizze,
und ſie um mich verſammlet ſind, wie ſie um ſie verſammlet waren.  Wenn
ich ſo mit einer ſehnenden Thräne gen Himmel ſehe, und wünſche: daß ſie
herein ſchauen könnte einen Augenblik, wie ich mein Wort halte, das ich
ihr in der Stunde des Todes gab: die Mutter ihrer Kinder zu ſeyn.
Hundertmal ruf ich aus: Verzeih mir's, Theuerſte, wenn ich ihnen nicht
bin, was du ihnen warſt.  Ach!  thu ich doch alles was ich kann, ſind
ſie doch gekleidet, genährt, ach und was mehr iſt als das alles,
gepflegt und geliebet.  Könnteſt du unſere Eintracht ſehn, liebe
Heilige!  du würdeſt mit dem heiſſeſten Danke den Gott verherrlichen,
den du mit den lezten bitterſten Thränen um die Wohlfahrt deiner Kinder
batſt.  Sie ſagte das!  O Wilhelm!  wer kann wiederholen, was ſie ſagte,
wie kann der kalte todte Buchſtabe dieſe himmliſche Blüthe des Geiſtes
darſtellen.  Albert fiel ihr ſanft in die Rede: es greift ſie zu ſtark
an, liebe Lotte, ich weis, ihre Seele hängt ſehr nach dieſen Ideen, aber
ich bitte Sie – O Albert, ſagte ſie, ich weis, du vergißt nicht die
Abende, da wir zuſammen ſaßen an dem kleinen runden Tiſchgen, wenn der
Papa verreiſt war, und wir die Kleinen ſchlafen geſchikt hatten.  Du
hatteſt oft ein gutes Buch, und kamſt ſo ſelten dazu etwas zu leſen.
War der Umgang dieſer herrlichen Seele nicht mehr als alles!  die
ſchöne, ſanfte, muntere und immer thätige Frau!  Gott kennt meine
Thränen, mit denen ich mich oft in meinem Bette vor ihn hinwarf: er
möchte mich ihr gleich machen.


Lotte!  rief ich aus, indem ich mich vor ſie hinwarf, ihre Hände nahm
und mit tauſend Thränen nezte.  Lotte, der Segen Gottes ruht über dir,
und der Geiſt deiner Mutter!  – Wenn ſie ſie gekannt hätten!  ſagte ſie,
indem ſie mir die Hand drükte, ſie war werth, von ihnen gekannt zu ſeyn.
– Ich glaubte zu vergehen; nie war ein gröſſeres, ſtolzeres Wort über
mich auſgeſprochen worden, und ſie fuhr fort: und dieſe Frau mußte in
der Blüthe ihrer Jahre dahin, da ihr jüngſter Sohn nicht ſechs Monathe
alt war.  Ihre Krankheit dauerte nicht lange; ſie war ruhig, reſignirt,
nur ihre Kinder thaten ihr weh, beſonders das kleine.  Wie es gegen das
Ende gieng, und ſie zu mir ſagte: Bring mir ſie herauf, und wie ich ſie
herein führte, die kleinen die nicht wußten, und die älteſten die ohne
Sinne waren, wie ſie um's Bett ſtanden und wie ſie die Hände aufhub und
über ſie betete, und ſie küßte nach einander und ſie wegſchikte, und zu
mir ſagte: Sey ihre Mutter!  Ich gab ihr die Hand drauf!  Du verſprichſt
viel, meine Tochter, ſagte ſie, das Herz einer Mutter und das Aug einer
Mutter!  Ich hab oft an deinen dankbaren Thränen geſehen, daß du fühlſt
was das ſey.  Hab es für deine Geſchwiſter, und für deinen Vater, die
Treue, den Gehorſam einer Frau.  Du wirſt ihn tröſten.  Sie fragte nach
ihm, er war auſgegangen, um uns den unerträglichen Kummer zu verbergen,
den er fühlte, der Mann war ganz zerriſſen.


Albert, du warſt im Zimmer!  Sie hörte jemand gehn, und fragte, und
forderte dich zu ihr.  Und wie ſie dich anſah und mich, mit dem
getröſteten ruhigen Blikke, daß wir glüklich ſeyn, zuſammen glüklich
ſeyn würden.  Albert fiel ihr um den Hals und küßte ſie, und rief: wir
ſinds!  wir werdens ſeyn.  Der ruhige Albert war ganz aus ſeiner
Faſſung, und ich wußte nichts von mir ſelber.


Werther, fieng ſie an, und dieſe Frau ſollte dahin ſeyn!  Gott, wenn ich
manchmal ſo denke, wie man das Liebſte ſeines Lebens ſo wegtragen läßt,
und niemand als die Kinder das ſo ſcharf fühlt, die ſich noch lange
beklagten: die ſchwarzen Männer hätten die Mamma weggetragen.


Sie ſtund auf, und ich ward erwekt und erſchüttert, blieb ſizzen und
hielt ihre Hand.  Wir wollen fort, ſagte ſie, es wird Zeit.  Sie wollte
ihre Hände zurük ziehen und ich hielt ſie feſter!  Wir werden uns
wiederſehn, rief ich, wir werden uns finden, unter allen Geſtalten
werden wir uns erkennen.  Ich gehe, fuhr ich fort, ich gehe willig, und
doch, wenn ich ſagen ſollte auf ewig, ich würde es nicht auſhalten.  Leb
wohl, Lotte!  Leb wohl, Albert!  Wir ſehen uns wieder.  – Morgen, denk
ich, verſezte ſie ſcherzend, ich fühlte das Morgen!  Ach ſie wußte nicht
als ſie ihre Hand aus der meinigen zog – ſie giengen die Allee hinaus,
ich ſtand, ſah ihnen nach im Mondſcheine und warf mich an die Erde und
weinte mich aus, und ſprang auf, lief auf die Terraſſe hervor und ſah
noch dort drunten im Schatten der hohen Lindenbäume ihr weiſſes Kleid
nach der Gartenthüre ſchimmern, ich ſtrekte meine Arme hinaus, und es
verſchwand.


D i e  L e i d e n  des  j u n g e n  W e r t h e r s.

Zweyter Theil.

L e i p z i g, in der Weygandſchen Buchhandlung.
1 7 7 4.


am 20. Okt. 1771.

Geſtern ſind wir hier angelangt.  Der Geſandte iſt unpaß, und wird ſich
alſo einige Tage einhalten, wenn er nur nicht ſo unhold wäre, wär alles
gut.  Ich merke, ich merke, das Schikſal hat mir harte Prüfungen
zugedacht.  Doch gutes Muths!  ein leichter Sinn trägt alles!  Ein
leichter Sinn!  das macht mich zu lachen, wie das Wort in meine Feder
kommt.  O ein Bißgen leichteres Blut würde mich zum glüklichſten
Menſchen unter der Sonne machen.  Was!  Da wo andre, mit ihrem Bißgen
Kraft und Talent, vor mir in behaglicher Selbſtgefälligkeit herum
ſchwadroniren, verzweifl' ich an meiner Kraft, an meinen Gaben.  Guter
Gott!  der du mir das alles ſchenkteſt, warum hielteſt du nicht die
Hälfte zurük und gabſt mir Selbſtvertrauen und Genügſamkeit!

Gedult!  Gedult!  Es wird beſſer werden.  Denn ich ſage dir, Lieber, du
haſt Recht.  Seit ich unter dem Volke ſo alle Tage herumgetrieben werde,
und ſehe was ſie thun und wie ſie's treiben, ſteh ich viel beſſer mit
mir ſelbſt.  Gewiß, weil wir doch einmal ſo gemacht ſind, daß wir alles
mit uns, und uns mit allem vergleichen, ſo liegt Glük oder Elend in den
Gegenſtänden, womit wir uns zuſammenhalten, und da iſt nichts
gefährlicher als die Einſamkeit.  Unſere Einbildungſkraft, durch ihre
Natur gedrungen ſich zu erheben, durch die phantaſtiſchen Bilder der
Dichtkunſt genährt, bildet ſich eine Reihe Weſen hinauf, wo wir das
unterſte ſind, und alles auſſer uns herrlicher erſcheint, jeder andre
vollkommner iſt.  Und das geht ganz natürlich zu: Wir fühlen ſo oft, daß
uns manches mangelt, und eben was uns fehlt ſcheint uns oft ein anderer
zu beſizzen, dem wir denn auch alles dazu geben, was wir haben, und noch
eine gewiſſe idealiſche Behaglichkeit dazu.  Und ſo iſt der Glükliche
vollkommen fertig, das Geſchöpf unſerer ſelbſt.

Dagegen wenn wir mit all unſerer Schwachheit und Mühſeligkeit nur gerade
fortarbeiten, ſo finden wir gar oft, daß wir mit all unſerm Schlendern
und Laviren es weiter bringen als andre mit ihren Segeln und Rudern –
und – das iſt doch ein wahres Gefühl ſeiner ſelbſt, wenn man andern
gleich oder gar vorlauft.

am 10. Nov.

Ich fange an, mich in ſofern ganz leidlich hier zu befinden.  Das beſte
iſt, daß es zu thun genug giebt, und dann die vielerley Menſchen, die
allerley neue Geſtalten, machen mir ein buntes Schauſpiel vor meiner
Seele.  Ich habe den Grafen C.  kennen lernen, einen Mann, den ich jeden
Tag mehr verehren muß.  Einen weiten groſſen Kopf, und der deſwegen
nicht kalt iſt, weil er viel überſieht; aus deſſen Umgange ſo viel
Empfindung für Freundſchaft und Liebe hervorleuchtet.  Er nahm Theil an
mir, als ich einen Geſchäftſauftrag an ihn auſrichtete, und er bey den
erſten Worten merkte, daß wir uns verſtunden, daß er mit mir reden
konnte wie nicht mit jedem.  Auch kann ich ſein offnes Betragen gegen
mich nicht genug rühmen.  So eine wahre warme Freude iſt nicht in der
Welt, als eine groſſe Seele zu ſehen, die ſich gegen einen öffnet.

am 24. Dec.

Der Geſandte macht mir viel Verdruß, ich hab es voraus geſehn.  Es iſt
der pünktlichſte Narre, den's nur geben kann.  Schritt vor Schritt und
umſtändlich wie eine Baaſe.  Ein Menſch, der nie ſelbſt mit ſich
zufrieden iſt und dem's daher niemand zu Danke machen kann.  Ich arbeite
gern leicht weg, und wie's ſteht ſo ſteht's, da iſt er im Stande, mir
einen Aufſaz zurükzugeben und zu ſagen: er iſt gut, aber ſehen ſie ihn
durch, man findt immer ein beſſer Wort, eine reinere Partikel.  Da möcht
ich des Teufels werden.  Kein Und, kein Bindwörtchen ſonſt darf
auſſenbleiben, und von allen Inverſionen die mir manchmal entfahren, iſt
er ein Todtfeind.  Wenn man ſeinen Period nicht nach der hergebrachten
Melodie heraborgelt; ſo verſteht er gar nichts drinne.  Das iſt ein
Leiden, mit ſo einem Menſchen zu thun zu haben.

Das Vertrauen des Grafen von C.  iſt noch das einzige, was mich ſchadlos
hält.  Er ſagte mir lezthin ganz aufrichtig: wie unzufrieden er über die
Langſamkeit und Bedenklichkeit meines Geſandten ſey.  Die Leute
erſchweren ſich's und andern.  Doch, ſagt er, man muß ſich darein
reſigniren, wie ein Reiſender, der über einen Berg muß.  Freylich!  wär
der Berg nicht da, wäre der Weg viel bequemer und kürzer, er iſt nun
aber da!  und es ſoll drüber!  –

Mein Alter ſpürt auch wohl den Vorzug, den mir der Graf vor ihm giebt,
und das ärgert ihn, und er ergreift jede Gelegenheit, übels gegen mich
vom Grafen zu reden, ich halte, wie natürlich, Widerpart, und dadurch
wird die Sache nur ſchlimmer.  Geſtern gar bracht er mich auf, denn ich
war mit gemeint.  Zu ſo Weltgeſchäften wäre der Graf ganz gut, er hätte
viel Leichtigkeit zu arbeiten und führte eine gute Feder, doch an
gründlicher Gelehrſamkeit mangelt es ihm, wie all den Bellettriſten.
Darüber hätt ich ihn gern auſgeprügelt, denn weiter iſt mit den Kerls
nicht zu räſonniren; da das aber nun nicht angieng, ſo focht ich mit
ziemlicher Heftigkeit, und ſagt ihm, der Graf ſey ein Mann, vor dem man
Achtung haben müßte, wegen ſeines Charakters ſowohl, als ſeiner
Kenntniſſe; ich habe, ſagt ich, niemand gekannt, dem es ſo geglükt wäre,
ſeinen Geiſt zu erweitern, ihn über unzählige Gegenſtände zu verbreiten,
und doch die Thätigkeit für's gemeine Leben zu behalten.  Das waren dem
Gehirn ſpaniſche Dörfer, und ich empfahl mich, um nicht über ein
weiteres Deraiſonnement noch mehr Galle zu ſchlukken.

Und daran ſeyd ihr all Schuld, die ihr mich in das Joch geſchwazt und
mir ſo viel von Aktivität vorgeſungen habt.  Aktivität!  Wenn nicht der
mehr thut, der Kartoffeln ſtekt, und in die Stadt reitet, ſein Korn zu
verkaufen, als ich, ſo will ich zehn Jahre noch mich auf der Galeere
abarbeiten, auf der ich nun angeſchmiedet bin.

Und das glänzende Elend die Langeweile unter dem garſtigen Volke das
ſich hier neben einander ſieht.  Die Rangſucht unter ihnen, wie ſie nur
wachen und aufpaſſen, einander ein Schrittgen abzugewinnen, die
elendeſten, erbärmlichſten Leidenſchaften, ganz ohne Rökgen!  Da iſt ein
Weib, zum Exempel, die jederman von ihrem Adel und ihrem Lande
unterhält, daß nun jeder Fremde denken muß: das iſt eine Närrin, die
ſich auf das Bißgen Adel und auf den Ruf ihres Landes Wunderſtreiche
einbildet – Aber es iſt noch viel ärger, eben das Weib iſt hier aus der
Nachbarſchaft eine Amtſchreibers Tochter.  – Sieh, ich kann das
Menſchengeſchlecht nicht begreifen, das ſo wenig Sinn hat, um ſich ſo
platt zu proſtituiren.

Zwar ich merke täglich mehr, mein Lieber, wie thöricht man iſt andre
nach ſich zu berechnen.  Und weil ich ſo viel mit mir ſelbſt zu thun
habe, und dieſes Herz und Sinn ſo ſtürmiſch iſt, ach ich laſſe gern die
andern ihres Pfads gehen, wenn ſie mich nur auch könnten gehn laſſen.

Was mich am meiſten nekt, ſind die fatalen bürgerlichen Verhältniſſe.
Zwar weis ich ſo gut als einer, wie nöthig der Unterſchied der Stände
iſt, wie viel Vortheile er mir ſelbſt verſchafft, nur ſoll er mir nicht
eben grad im Wege ſtehn, wo ich noch ein wenig Freude, einen Schimmer
von Glük auf dieſer Erden genieſſen könnte.  Ich lernte neulich auf dem
Spaziergange ein Fräulein von B..  kennen, ein liebenſwürdiges Geſchöpf,
das ſehr viele Natur mitten in dem ſteifen Leben erhalten hat.  Wir
gefielen uns in unſerm Geſpräche, und da wir ſchieden, bat ich ſie um
Erlaubniß, ſie bey ſich ſehen zu dürfen.  Sie geſtattete mir das mit ſo
viel Freymüthigkeit, daß ich den ſchiklichen Augenblik kaum erwarten
konnte, zu ihr zu gehen.  Sie iſt nicht von hier, und wohnt bey einer
Tante im Hauſe.  Die Phyſiognomie der alten Schachtel gefiel mir nicht.
Ich bezeigte ihr viel Aufmerkſamkeit, mein Geſpräch war meiſt an ſie
gewandt, und in minder als einer halben Stunde hatte ich ſo ziemlich
weg, was mir das Fräulein nachher ſelbſt geſtund: daß die liebe Tante in
ihrem Alter, und dem Mangel von allem, vom anſtändigen Vermögen an bis
auf den Geiſt keine Stüzze hat, als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen
Schirm, als den Stand, in dem ſie ſich verpalliſadirt, und kein
Ergözzen, als von ihrem Stokwerk herab über die bürgerlichen Häupter weg
zu ſehen.  In ihrer Jugend ſoll ſie ſchön geweſen ſeyn, und ihr Leben ſo
weggegaukelt, erſt mit ihrem Eigenſinne manchen armen Jungen gequält,
und in reifern Jahren ſich unter den Gehorſam eines alten Offiziers
gedukt haben, der gegen dieſen Preis und einen leidlichen Unterhalt das
ehrne Jahrhundert mit ihr zubrachte, und ſtarb, und nun ſieht ſie im
eiſernen ſich allein und würde nicht angeſehn, wär ihre Nichte nicht ſo
liebenſwürdig.

den 8. Jan. 1772.

Was das für Menſchen ſind, deren ganze Seele auf dem Ceremoniel ruht,
deren Dichten und Trachten Jahre lang dahin geht, wie ſie um einen Stuhl
weiter hinauf bey Tiſche ſich einſchieben wollen.  Und nicht, daß die
Kerls ſonſt keine Angelegenheit hätten, nein, vielmehr häufen ſich die
Arbeiten, eben weil man über die kleinen Verdrüßlichkeiten, von
Beförderung der wichtigen Sachen abgehalten wird.  Vorige Woche gabs bey
der Schlittenfahrt Händel, und der ganze Spas wurde verdorben.

Die Thoren, die nicht ſehen, daß es eigentlich auf den Plaz gar nicht
ankommt, und daß der, der den erſten hat, ſo ſelten die erſte Rolle
ſpielt!  Wie mancher König wird durch ſeinen Miniſter, wie mancher
Miniſter durch ſeinen Sekretär regiert.  Und wer iſt dann der Erſte?
der, dünkt mich, der die andern überſieht, und ſo viel Gewalt oder Liſt
hat, ihre Kräfte und Leidenſchaften zu Auſführung ſeiner Plane
anzuſpannen.

am 20. Jan.

Ich muß Ihnen ſchreiben, liebe Lotte, hier in der Stube einer geringen
Bauernherberge, in die ich mich vor einem ſchweren Wetter geflüchtet
habe.  Solange ich in dem traurigen Neſte D..  unter dem fremden, meinem
Herzen ganz fremden Volke herumziehe, hab' ich keinen Augenblik gehabt,
keinen, an dem mein Herz mich geheiſſen hätte Ihnen zu ſchreiben.  Und
jezt in dieſer Hütte, in dieſer Einſamkeit, in dieſer Einſchränkung, da
Schnee und Schloſſen wider mein Fenſtergen wüthen, hier waren Sie mein
erſter Gedanke.  Wie ich herein trat, überfiel mich Ihre Geſtalt, Ihr
Andenken.  O Lotte!  ſo heilig, ſo warm!  Guter Gott!  der erſte
glükliche Augenblik wieder.

Wenn Sie mich ſähen meine Beſte, in dem Schwall von Zerſtreuung!  Wie
auſgetroknet meine Sinnen werden, nicht Einen Augenblik der Fülle des
Herzens, nicht Eine ſelige, thränenreiche Stunde!  Nichts!  Nichts!  Ich
ſtehe wie vor einem Raritätenkaſten, und ſehe die Männgen und Gäulgen
vor mir herumrükken, und frage mich oft, ob's nicht optiſcher Betrug
iſt.  Ich ſpiele mit, vielmehr, ich werde geſpielt wie eine Marionette,
und faſſe manchmal meinen Nachbar an der hölzernen Hand und ſchaudere
zurück.

Ein einzig weiblich Geſchöpf hab ich hier gefunden.  Eine Fräulein von
B..  Sie gleicht Ihnen liebe Lotte, wenn man Ihnen gleichen kann.  Ey!
werden Sie ſagen: der Menſch legt ſich auf niedliche Komplimente!  Ganz
unwahr iſt's nicht.  Seit einiger Zeit bin ich ſehr artig, weil ich doch
nicht anders ſeyn kann, habe viel Wiz, und die Frauenzimmer ſagen: es
wüſte niemand ſo fein zu loben als ich (und zu lügen, ſezzen Sie hinzu,
denn ohne das geht's nicht ab, verſtehen Sie:) Ich wollte von Fräulein
B..  reden!  Sie hat viel Seele, die voll aus ihren blauen Augen
hervorblikt, ihr Stand iſt ihr zur Laſt, der keinen der Wünſche ihres
Herzens befriedigt.  Sie ſehnt ſich aus dem Getümmel, und wir
verphantaſiren manche Stunde in ländlichen Scenen von ungemiſchter
Glükſeligkeit, ach!  und von Ihnen!  Wie oft muß ſie Ihnen huldigen.
Muß nicht, thut's freywillig, hört ſo gern von Ihnen, liebt Sie –

O ſäs ich zu Ihren Füſſen in dem lieben vertraulichen Zimmergen, und
unſere kleinen Lieben wälzten ſich miteinander um mich herum, und wenn
ſie Ihnen zu laut würden, wollt ich ſie mit einem ſchauerlichen Märgen
um mich zur Ruhe verſammlen.  Die Sonne geht herrlich unter über der
ſchneeglänzenden Gegend, der Sturm iſt hinüber gezogen.  Und ich – muß
mich wieder in meinen Käfig ſperren.  Adieu!  Iſt Albert bey Ihnen?  Und
wie –?  Gott verzeihe mir dieſe Frage!

am 17. Febr.

Ich fürchte, mein Geſandter und ich, halten's nicht lange mehr zuſammen
aus.  Der Menſch iſt ganz und gar unerträglich.  Seine Art zu arbeiten
und Geſchäfte zu treiben iſt ſo lächerlich, daß ich mich nicht enthalten
kann ihm zu widerſprechen, und oft eine Sache nach meinem Kopfe und Art
zu machen, das ihm denn, wie natürlich, niemals recht iſt.  Darüber hat
er mich neulich bey Hofe verklagt, und der Miniſter gab mir einen zwar
ſanften Verweis, aber es war doch ein Verweis, und ich ſtand im
Begriffe, meinen Abſchied zu begehren, als ich einen Privatbrief*)

*)

Man hat aus Ehrfurcht für dieſen treflichen Mann, gedachten Brief, und
einen andern, deſſen weiter hinten erwehnt wird, dieſer Sammlung
entzogen, weil man nicht glaubte, ſolche Kühnheit durch den wärmſten
Dank des Publikums entſchuldigen zu können.

von ihm erhielt, einen Brief, vor dem ich mich niedergekniet, und den
hohen, edlen, weiſen Sinn angebetet habe, wie er meine allzu groſſe
Empfindlichkeit zurechte weißt, wie er meine überſpannte Ideen von
Würkſamkeit, von Einfluß auf andre, von Durchdringen in Geſchäften als
jugendlichen guten Muth zwar ehrt, ſie nicht auſzurotten, nur zu mildern
und dahin zu leiten ſucht, wo ſie ihr wahres Spiel haben, ihre kräftige
Würkung thun können.  Auch bin ich auf acht Tage geſtärkt, und in mir
ſelbſt einig geworden.  Die Ruhe der Seele iſt ein herrlich Ding, und
die Freude an ſich ſelbſt, lieber Freund, wenn nur das Ding nicht eben
ſo zerbrechlich wäre, als es ſchön und koſtbar iſt.


am 20. Febr.

Gott ſegne euch, meine Lieben, geb euch all die guten Tage, die er mir
abzieht.


Ich danke dir Albert, daß du mich betrogen haſt, ich wartete auf
Nachricht, wann euer Hochzeittag ſeyn würde, und hatte mir vorgenommen,
feyerlichſt an demſelben Lottens Schattenriß von der Wand zu nehmen, und
ſie unter andere Papiere zu begraben.  Nun ſeyd ihr ein Paar, und ihr
Bild iſt noch hier!  Nun ſo ſoll's bleiben!  Und warum nicht?  Ich weis,
ich bin ja auch bey euch, bin dir unbeſchadet in Lottens Herzen.  Habe,
ja ich habe den zweyten Plaz drinne, und will und muß ihn behalten.  O
ich würde raſend werden, wenn ſie vergeſſen könnte – Albert in dem
Gedanken liegt eine Hölle.  Albert!  Leb wohl.  Leb wohl, Engel des
Himmels, leb wohl, Lotte!

am 15. Merz.

Ich hab einen Verdruß gehabt, der mich von hier wegtreiben wird, ich
knirſche mit den Zähnen!  Teufel!  Er iſt nicht zu erſezzen, und ihr
ſeyd doch allein ſchuld daran, die ihr mich ſporntet und triebt und
quältet, mich in einen Poſten zu begeben, der nicht nach meinem Sinne
war.  Nun hab ich's nun habt ihr's.  Und daß du nicht wieder ſagſt:
meine überſpannten Ideen verdürben alles; ſo haſt du hier lieber Herr,
eine Erzählung, plan und nett, wie ein Chronikenſchreiber das
aufzeichnen würde.

Der Graf v.  C.  liebt mich, diſtingwirt mich, das iſt bekannt, das hab
ich dir ſchon hundertmal geſagt.  Nun war ich bey ihm zu Tiſche geſtern,
eben an dem Tage, da Abends die noble Geſellſchaft von Herren und Frauen
bey ihm zuſammenkommt, an die ich nie gedacht hab, auch mir nie
aufgefallen iſt, daß wir Subalternen nicht hinein gehören.  Gut.  Ich
ſpeiſe beym Grafen und nach Tiſche gehn wir im groſſen Saale auf und ab,
ich rede mit ihm, mit dem Obriſt B.  der dazu kommt, und ſo rükt die
Stunde der Geſellſchaft heran.  Ich denke, Gott weis, an nichts.  Da
tritt herein die übergnädige Dame von S..  mit Dero Herrn Gemahl und
wohl auſgebrüteten Gänſlein Tochter mit der flachen Bruſt und niedlichem
Schnürleib, machen en paſſant ihre hergebrachten hochadligen Augen und
Naſlöcher, und wie mir die Nation von Herzen zuwider iſt, wollt ich eben
mich empfehlen, und wartete nur, bis der Graf vom garſtigen Gewäſche
frey wäre, als eben meine Fräulein B.  herein trat, da mir denn das Herz
immer ein bißgen aufgeht, wenn ich ſie ſehe, blieb ich eben, ſtellte
mich hinter ihren Stuhl, und bemerkte erſt nach einiger Zeit, daß ſie
mit weniger Offenheit als ſonſt, mit einiger Verlegenheit mit mir redte.
Das fiel mir auf.  Iſt ſie auch wie all das Volk, dacht ich, hohl ſie
der Teufel!  und war angeſtochen und wollte gehn, und doch blieb ich,
weil ich intriguirt war, das Ding näher zu beleuchten.  Ueber dem füllt
ſich die Geſellſchaft.  Der Baron F..  mit der ganzen Garderobe von den
Krönungſzeiten Franz des erſten her, der Hofrath R..  hier aber in
qualitate Herr von R..  genannt mit ſeiner tauben Frau &c.  den übel
fournirten J.  nicht zu vergeſſen, bey deſſen Kleidung, Reſte des
altfränkiſchen mit dem neu'ſt aufgebrachten kontraſtiren &c.  das kommt
all und ich rede mit einigen meiner Bekanntſchaft, die alle ſehr
lakoniſch ſind, ich dachte – und gab nur auf meine B..  acht.  Ich
merkte nicht, daß die Weiber am Ende des Saals ſich in die Ohren
piſperten, daß es auf die Männer zirkulirte, daß Frau von S..  mit dem
Grafen redte (das alles hat mir Fräulein B..  nachher erzählt:) biß
endlich der Graf auf mich loſgieng und mich in ein Fenſter nahm.  Sie
wiſſen ſagt er, unſere wunderbaren Verhältniſſe, die Geſellſchaft iſt
unzufrieden, merk ich, ſie hier zu ſehn, ich wollte nicht um alles –
Ihro Excellenz, fiel ich ein, ich bitte tauſendmal um Verzeihung, ich
hätte eher dran denken ſollen, und ich weis, Sie verzeihen mir dieſe
Inkonſequenz, ich wollte ſchon vorhin mich empfehlen, ein böſer Genius
hat mich zurük gehalten, ſezte ich lächelnd hinzu, indem ich mich
neigte.  Der Graf drükte meine Hände mit einer Empfindung, die alles
ſagte.  Ich machte der vornehmen Geſellſchaft mein Compliment, gieng und
ſezte mich in ein Cabriolet und fuhr nach M..  dort vom Hügel die Sonne
untergehen zu ſehen, und dabey in meinem Homer den herrlichen Geſang zu
leſen, wie Ulyß von dem treflichen Schweinhirten bewirthet wird.  Das
war all gut.

Des Abends komm ich zurük zu Tiſche.  Es waren noch wenige in der
Gaſtſtube, die würfelten auf einer Ekke, hatten das Tiſchtuch zurük
geſchlagen.  Da kommt der ehrliche A..  hinein, legt ſeinen Hut nieder,
indem er mich anſieht, tritt zu mir und ſagt leiſe: Du haſt Verdruß
gehabt?  – Ich?  ſagt ich – der Graf hat dich aus der Geſellſchaft
gewieſen – Hol ſie der Teufel, ſagt ich, mir war's lieb, daß ich in die
freye Luft kam – Gut, ſagt er, daß du's auf die leichte Achſel nimmſt.
Nur verdrießt mich's.  Es iſt ſchon überall herum.  Da fieng mir das
Ding erſt an zu wurmen.  Alle die zu Tiſche kamen und mich anſahen,
dacht ich die ſehen dich darum an!  Das fieng an mir böſes Blut zu
ſezzen.

Und da man nun heute gar wo ich hintrete mich bedauert, da ich höre, daß
meine Neider nun triumphiren und ſagen: Da ſähe man's, wo's mit den
Uebermüthigen hinauſgieng, die ſich ihres bißgen Kopfs überhüben und
glaubten, ſich darum über alle Verhältniſſe hinauſſezzen zu dürfen, und
was des Hundegeſchwäzzes mehr iſt.  Da möchte man ſich ein Meſſer in's
Herz bohren.  Denn man rede von Selbſtändigkeit was man will, den will
ich ſehn der dulden kann, daß Schurken über ihn reden, wenn ſie eine
Priſe über ihn haben.  Wenn ihr Geſchwätz leer iſt, ach!  da kann man
ſie leicht laſſen.

am 16. Merz.

Es hezt mich alles!  Heut treff ich die Fräulein B..  in der Allee.  Ich
konnte mich nicht enthalten ſie anzureden, und ihr, ſobald wir etwas
entfernt von der Geſellſchaft waren, meine Empfindlichkeit über ihr
neuliches Betragen zu zeigen.  O Werther, ſagte ſie mit einem innigen
Tone, konnten Sie meine Verwirrung ſo auſlegen, da Sie mein Herz kennen.
Was ich gelitten habe um ihrentwillen von dem Augenblikke an, da ich in
den Saal trat!  Ich ſah' alles voraus, hundertmal ſaß mir's auf der
Zunge, es Ihnen zu ſagen, ich wußte, daß die von S..  und T..  mit ihren
Männern eher aufbrechen würden, als in Ihrer Geſellſchaft zu bleiben,
ich wußte, daß der Graf es nicht mit Ihnen verderben darf, und jezo der
Lärm.  – Wie Fräulein?  ſagt' ich, und verbarg meinen Schrekken, denn
alles was Adelin mir ehgeſtern geſagt hatte, lief mir wie ſiedend Waſſer
durch die Adern in dieſem Augenblikke.  – Was hat mich's ſchon gekoſtet!
ſagte das ſüſſe Geſchöpf, indem ihr die Thränen in den Augen ſtunden.
Ich war nicht Herr mehr von mir ſelbſt, war im Begriff, mich ihr zu
Füſſen zu werfen.  Erklären ſie ſich, ruft ich: Die Thränen liefen ihr
die Wangen herunter, ich war auſſer mir.  Sie troknete ſie ab, ohne ſie
verbergen zu wollen.  Meine Tante kennen ſie, fieng ſie an; ſie war
gegenwärtig, und hat, o mit was für Augen hat ſie das angeſehn.
Werther, ich habe geſtern Nacht auſgeſtanden, und heute früh eine
Predigt über meinen Umgang mit Ihnen, und ich habe müſſen zuhören Sie
herabſezzen, erniedrigen, und konnte und durfte Sie nur halb
vertheidigen.

Jedes Wort, das ſie ſprach, gieng mir wie Schwerder durch's Herz.  Sie
fühlte nicht, welche Barmherzigkeit es geweſen wäre, mir das alles zu
verſchweigen, und nun fügte ſie noch all dazu, was weiter würde
geträtſcht werden, was die ſchlechten Kerls alle darüber triumphiren
würden.  Wie man nunmehro meinen Uebermuth und Geringſchäzzung andrer,
das ſie mir ſchon lange vorwerfen, geſtraft, erniedrigt auſſchreien
würde.  Das alles, Wilhelm, von ihr zu hören mit der Stimme der wahrſten
Theilnehmung.  Ich war zerſtört, und bin noch wüthend in mir.  Ich
wollte, daß ſich einer unterſtünde mir's vorzuwerfen, daß ich ihm den
Degen durch den Leib ſtoſſen könnte!  Wenn ich Blut ſähe würde mir's
beſſer werden.  Ach ich hab hundertmal ein Meſſer ergriffen, um dieſem
gedrängten Herzen Luft zu machen.  Man erzählt von einer edlen Art
Pferde, die, wenn ſie ſchröklich erhizt und aufgejagt ſind, ſich ſelbſt
aus Inſtinkt eine Ader aufbeiſſen, um ſich zum Athem zu helfen.  So iſt
mir's oft, ich möchte mir eine Ader öffnen, die mir die ewige Freyheit
ſchaffte.

am 24. Merz.

Ich habe meine Dimißion bey Hofe verlangt, und werde ſie, hoff ich,
erhalten, und ihr werdet mir verzeihen, daß ich nicht erſt Permißion
dazu bey euch eingeholt habe.  Ich mußte nun einmal fort, und was Ihr zu
ſagen hattet, um mir das Bleiben einzureden weis ich all, und alſo –
Bring das meiner Mutter in einem Säftgen bey, ich kann mir ſelbſt nicht
helfen, alſo mag ſie ſich's gefallen laſſen, wenn ich ihr auch nicht
helfen kann.  Freylich muß es ihr weh thun.  Den ſchönen Lauf, den ihr
Sohn grad zum Geheimderath und Geſandten anſezte, ſo auf einmal Halte zu
ſehen, und rükwärts mit dem Thiergen in Stall.  Macht nun draus, was ihr
wollt, und kombinirt die mögliche Fälle, unter denen ich hätte bleiben
können und ſollen.  Genug ich gehe.  Und damit ihr wißt wo ich hinkomme,
ſo iſt hier der Fürſt **, der viel Geſchmak an meiner Geſellſchaft
findet, der hat mich gebeten, da er von meiner Abſicht hörte, mit ihm
auf ſeine Güter zu gehen und den ſchönen Frühling da zuzubringen.  Ich
ſoll ganz mir ſelbſt gelaſſen ſeyn, hat er mir verſprochen, und da wir
uns zuſammen bis auf einen gewiſſen Punkt verſtehn, ſo will ich's denn
auf gut Glük wagen, und mit ihm gehn.

den 19.  April.

Zur Nachricht.

Danke für deine beyden Briefe.  Ich antwortete nicht, weil ich dieſen
Brief liegen ließ, bis mein Abſchied von Hofe da wäre, weil ich
fürchtete, meine Mutter möchte ſich an den Miniſter wenden und mir mein
Vorhaben erſchweren.  Nun aber iſt's geſchehen, mein Abſchied iſt da.
Ich mag euch nicht ſagen, wie ungern man mir ihn gegeben hat, und was
mir der Miniſter ſchreibt, ihr würdet in neue Lamentationen auſbrechen.
Der Erbprinz hat mir zum Abſchiede fünf und zwanzig Dukaten geſchikt,
mit einem Wort, das mich bis zu Thränen gerührt hat.  Alſo braucht die
Mutter mir das Geld nicht zu ſchikken, um das ich neulich ſchrieb.

am 5. May.

Morgen geh ich von hier ab, und weil mein Geburtſort nur ſechs Meilen
vom Wege liegt, ſo will ich den auch wieder ſehen, will mich der alten
glüklich verträumten Tage erinnern.  Zu eben dem Thore will ich
hineingehn, aus dem meine Mutter mit mir herauſfuhr, als ſie nach dem
Tode meines Vaters den lieben vertraulichen Ort verließ, um ſich in ihre
unerträgliche Stadt einzuſperren.  Adieu, Wilhelm, du ſollſt von meinem
Zuge hören.

am 9. May.

Ich habe die Wallfahrt nach meiner Heimath mit aller Andacht eines
Pilgrims vollendet, und manche unerwartete Gefühle haben mich ergriffen.
An der groſſen Linde, die eine Viertelſtunde vor der Stadt nach S..
zuſteht, ließ ich halten, ſtieg aus und hieß den Poſtillon fortfahren,
um zu Fuſſe jede Erinnerung ganz neu, lebhaft nach meinem Herzen zu
koſten.  Da ſtand ich nun unter der Linde, die ehedeſſen als Knabe das
Ziel und die Gränze meiner Spaziergänge geweſen.  Wie anders!  Damals
ſehnt ich mich in glüklicher Unwiſſenheit hinaus in die unbekannte Welt,
wo ich für mein Herz alle die Nahrung, alle den Genuß hoffte, deſſen
Ermangeln ich ſo oft in meinem Buſen fühlte.  Jezt kam ich zurük aus der
weiten Welt – O mein Freund, mit wie viel fehlgeſchlagenen Hofnungen,
mit wie viel zerſtörten Planen!  – Ich ſah das Gebürge vor mir liegen,
das ſo tauſendmal der Gegenſtand meiner Wünſche geweſen.  Stundenlang
konnte ich hier ſizzen, und mich hinüber ſehnen, mit inniger Seele mich
in denen Wäldern, denen Thälern verliehren, die ſich meinen Augen ſo
freundlich dämmernd darſtellten – und wenn ich denn um die beſtimmte
Zeit wieder zurük mußte, mit welchem Widerwillen verließ ich nicht den
lieben Plaz!  Ich kam der Stadt näher, alle alten bekannte Gartenhäuſgen
wurden von mir gegrüßt, die neuen waren mir zuwider, ſo auch alle
Veränderungen, die man ſonſt vorgenommen hatte.  Ich trat zum Thore
hinein, und fand mich doch gleich und ganz wieder.  Lieber, ich mag
nicht in's Detail gehn, ſo reizend als es mir war, ſo einförmig würde es
in der Erzählung werden.  Ich hatte beſchloſſen, auf dem Markte zu
wohnen, gleich neben unſerm alten Hauſe.  Im Hingehen bemerkte ich daß
die Schulſtube, wo ein ehrlich altes Weib unſere Kindheit
zuſammengepfercht hatte, in einen Kram verwandelt war.  Ich erinnerte
mich der Unruhe, der Thränen, der Dumpfheit des Sinnes, der
Herzenſangſt, die ich in dem Loche auſgeſtanden hatte – Ich that keinen
Schritt, der nicht merkwürdig war.  Ein Pilger im heiligen Lande trifft
nicht ſo viel Stäten religioſer Erinnerung, und ſeine Seele iſt
ſchwerlich ſo voll heiliger Bewegung.  – Noch eins für tauſend.  Ich
gieng den Fluß hinab, bis an einen gewiſſen Hof, das war ſonſt auch mein
Weg, und die Pläzgen da wir Knaben uns übten, die meiſten Sprünge der
flachen Steine im Waſſer hervorzubringen.  Ich erinnere mich ſo lebhaft,
wenn ich manchmal ſtand und dem Waſſer nachſah, mit wie wunderbaren
Ahndungen ich das verfolgte, wie abenteuerlich ich mir die Gegenden
vorſtellte, wo es nun hinflöſſe, und wie ich da ſo bald Grenzen meiner
Vorſtellungſkraft fand, und doch mußte das weiter gehn, immer weiter,
bis ich mich ganz in dem Anſchauen einer unſichtbaren Ferne verlohr.
Siehe mein Lieber, das iſt doch eben das Gefühl der herrlichen Altväter!
Wenn Ulyß von dem ungemeſſenen Meere, und von der unendlichen Erde
ſpricht, iſt das nicht wahrer, menſchlicher, inniger, als wenn jezzo
jeder Schulknabe ſich wunder weiſe dünkt, wenn er nachſagen kann, daß
ſie rund ſey.

Nun bin ich hier auf dem fürſtlichen Jagdſchloſſe.  Es läßt ſich noch
ganz wohl mit dem Herrn leben, er iſt ganz wahr, und einfach.  Was mir
noch manchmal leid thut, iſt, daß er oft über Sachen redt, die er nur
gehört und geleſen hat, und zwar aus eben dem Geſichtſpunkte, wie ſie
ihm der andere darſtellen mochte.

Auch ſchäzt er meinen Verſtand und Talente mehr als dies Herz, das doch
mein einziger Stolz iſt, das ganz allein die Quelle von allem iſt, aller
Kraft, aller Seligkeit und alles Elends.  Ach was ich weis, kann jeder
wiſſen.  – Mein Herz hab ich allein.

am 25. May.

Ich hatte etwas im Kopfe, davon ich euch nichts ſagen wollte, bis es
auſgeführt wäre, jezt da nichts draus wird, iſt's eben ſo gut.  Ich
wollte in Krieg!  Das iſt mir lang am Herzen gelegen.  Vornehmlich darum
bin ich dem Fürſten hieher gefolgt, der General in ***ſchen Dienſten
iſt.  Auf einem Spaziergange entdekte ich ihm mein Vorhaben, er
widerrieth mir's, und es müßte bey mir mehr Leidenſchaft als Grille
geweſen ſeyn, wenn ich ſeinen Gründen nicht hätte Gehör geben wollen.

am 11. Juni.

Sag was Du willſt, ich kann nicht länger bleiben.  Was ſoll ich hier?
Die Zeit wird mir lang.  Der Fürſt hält mich wie ſeines Gleichen gut,
und doch bin ich nicht in meiner Lage.  Und dann, wir haben im Grunde
nichts gemeines mit einander.  Er iſt ein Mann von Verſtande, aber von
ganz gemeinem Verſtande, ſein Umgang unterhält mich nicht mehr, als wenn
ich ein wohlgeſchrieben Buch leſe.  Noch acht Tage bleib ich, und dann
zieh ich wieder in der Irre herum.  Das beſte, was ich hier gethan habe,
iſt mein Zeichnen.  Und der Fürſt fühlt in der Kunſt, und würde noch
ſtärker fühlen, wenn er nicht durch das garſtige, wiſſenſchaftliche
Weſen, und durch die gewöhnliche Terminologie eingeſchränkt wäre.
Manchmal knirſch ich mit den Zähnen, wenn ich ihn mit warmer Imagination
ſo an Natur und Kunſt herum führe und er's auf einmal recht gut zu
machen denkt, wenn er mit einem geſtempelten Kunſtworte drein tölpelt.

am 18. Juni.

Wo ich hin will?  Das laß Dir im Vertrauen eröfnen.  Vierzehn Tage muß
ich doch noch hier bleiben, und dann hab ich mir weis gemacht, daß ich
die Bergwerke in **ſchen beſuchen wollte, iſt aber im Grunde nichts
dran, ich will nur Lotten wieder näher, das iſt alles.  Und ich lache
über mein eigen Herz – und thu ihm ſeinen Willen.

am 29. Juli.

Nein es iſt gut!  Es iſt alles gut!  Ich ihr Mann!  O Gott, der du mich
machteſt, wenn du mir dieſe Seligkeit bereitet hätteſt, mein ganzes
Leben ſollte ein anhaltendes Gebet ſeyn.  Ich will nicht rechten, und
verzeih mir dieſe Thränen, verzeih mir meine vergeblichen Wünſche.  –
Sie meine Frau!  Wenn ich das liebſte Geſchöpf unter der Sonne in meine
Arme geſchloſſen hätte – Es geht mir ein Schauder durch den ganzen
Körper, Wilhelm, wenn Albert ſie um den ſchlanken Leib faßt.


Und, darf ich's ſagen?  Warum nicht, Wilhelm, ſie wäre mit mir
glücklicher geworden als mit ihm!  O er iſt nicht der Menſch, die
Wünſche dieſes Herzens alle zu füllen.  Ein gewiſſer Mangel an
Fühlbarkeit, ein Mangel – nimm's wie du willſt, daß ſein Herz nicht
ſympathetiſch ſchlägt bey – Oh!  – bey der Stelle eines lieben Buchs, wo
mein Herz und Lottens in einem zuſammen treffen.  In hundert andern
Vorfällen, wenn's kommt, daß unſere Empfindungen über eine Handlung
eines dritten laut werden.  Lieber Wilhelm!  – Zwar er liebt ſie von
ganzer Seele, und ſo eine Liebe was verdient die nicht –


Ein unerträglicher Menſch hat mich unterbrochen.  Meine Thränen ſind
getroknet.  Ich bin zerſtreut.  Adieu Lieber.

am 4. Aug.

Es geht mir nicht allein ſo.  Alle Menſchen werden in ihren Hofnungen
getäuſcht, in ihren Erwartungen betrogen.  Ich beſuchte mein gutes Weib
unter der Linde.  Der ältſte Bub lief mir entgegen, ſein Freudengeſchrey
führte die Mutter herbey, die ſehr niedergeſchlagen auſſah.  Ihr erſtes
Wort war: Guter Herr!  ach mein Hanns iſt mir geſtorben, es war der
jüngſte ihrer Knaben, ich war ſtille, und mein Mann, ſagte ſie, iſt aus
der Schweiz zurük, und hat nichts mit gebracht, und ohne gute Leute
hätte er ſich heraus betteln müſſen.  Er hatte das Fieber kriegt
unterwegs.  Ich konnte ihr nichts ſagen, und ſchenkte dem Kleinen was,
ſie bat mich einige Aepfel anzunehmen, das ich that und den Ort des
traurigen Andenkens verließ.

am 21. Aug.

Wie man eine Hand umwendet, iſt's anders mit mir.  Manchmal will ſo ein
freudiger Blik des Lebens wieder aufdämmern, ach nur für einen
Augenblik!  Wenn ich mich ſo in Träumen verliehre, kann ich mich des
Gedankens nicht erwehren: Wie, wenn Albert ſtürbe!  Du würdeſt!  ja ſie
würde – und dann lauf ich dem Hirngeſpinſte nach, bis es mich an
Abgründe führt, vor denen ich zurükbebe.

Wenn ich ſo dem Thore hinaus gehe, den Weg, den ich zum erſtenmal fuhr,
Lotten zum Tanze zu holen, wie war das all ſo anders!  Alles, alles iſt
vorüber gegangen!  Kein Wink der vorigen Welt, kein Pulſſchlag meines
damaligen Gefühls.  Mir iſt's, wie's einem Geiſte ſeyn müßte, der in das
verſengte verſtörte Schloß zurükkehrte, das er als blühender Fürſt einſt
gebaut und mit allen Gaben der Herrlichkeit auſgeſtattet, ſterbend
ſeinem geliebten Sohne hoffnungſvoll hinterlaſſen.

am 3. September.

Ich begreife manchmal nicht, wie ſie ein anderer lieb haben kann, lieb
haben darf, da ich ſie ſo ganz allein, ſo innig, ſo voll liebe, nichts
anders kenne, noch weis, noch habe als ſie.

am 6. Sept.

Es hat ſchwer gehalten, bis ich mich entſchloß, meinen blauen einfachen
Frak, in dem ich mit Lotten zum erſtenmal tanzte, abzulegen, er ward
aber zulezt gar unſcheinbar.  Auch hab ich mir einen machen laſſen, ganz
wie den vorigen, Kragen und Aufſchlag und auch wieder ſo gelbe Weſt und
Hoſen dazu.

Ganz will's es doch nicht thun.  Ich weis nicht – Ich denke mit der Zeit
ſoll mir der auch lieber werden.

am 15. Sept.

Man möchte ſich dem Teufel ergeben, Wilhelm, über all die Hunde, die
Gott auf Erden duldet, ohne Sinn und Gefühl an dem wenigen, was drauf
noch was werth iſt.  Du kennſt die Nußbäume, unter denen ich bey dem
ehrlichen Pfarrer zu St.., mit Lotten geſeſſen, die herrlichen Nußbäume,
die mich, Gott weis, immer mit dem gröſten Seelenvergnügen füllten.  Wie
vertraulich ſie den Pfarrhof machten, wie kühl und wie herrlich die
Aeſte waren.  Und die Erinnerung bis zu den guten Kerls von Pfarrers,
die ſie vor ſo viel Jahren pflanzten.  Der Schulmeiſter hat uns den
einen Namen oft genannt, den er von ſeinem Groſvater gehört hatte, und
ſo ein braver Mann ſoll er geweſen ſeyn, und ſein Andenken war mir immer
heilig, unter den Bäumen.  Ich ſage Dir, dem Schulmeiſter ſtanden die
Thränen in den Augen, da wir geſtern davon redeten, daß ſie abgehauen
worden – Abgehauen!  Ich möchte raſend werden, ich könnte den Hund
ermorden, der den erſten Hieb dran that.  Ich, der ich könnte mich
vertrauren, wenn ſo ein paar Bäume in meinem Hofe ſtünden, und einer
davon ſtürbe vor Alter ab, ich muß ſo zuſehn.  Lieber Schaz, eins iſt
doch dabey!  Was Menſchengefühl iſt!  Das ganze Dorf murrt, und ich
hoffe, die Frau Pfarrern ſoll's an Butter und Eyern und übrigem Zutrauen
ſpüren, was für eine Wunde ſie ihrem Orte gegeben hat.  Denn ſie iſt's,
die Frau des neuen Pfarrers, unſer Alter iſt auch geſtorben, ein
hageres, kränkliches Thier, das ſehr Urſache hat, an der Welt keinen
Antheil zu nehmen, denn niemand nimmt Antheil an ihr.  Eine Frazze, die
ſich abgiebt gelehrt zu ſeyn, ſich in die Unterſuchung des Canons
melirt, gar viel an der neumodiſchen moraliſch kritiſchen Reformation
des Chriſtenthums arbeitet, und über Lavaters Schwärmereyen die Achſeln
zukt, eine ganz zerrüttete Geſundheit hat, und auf Gottes Erdboden
deſwegen keine Freude.  So ein Ding war's auch allein, um meine Nußbäume
abzuhauen.  Siehſt du, ich komme nicht zu mir!  Stelle dir vor, die
abfallenden Blätter machen ihr den Hof unrein und dumpfig, die Bäume
nehmen ihr das Tageſlicht, und wenn die Nüſſe reif ſind, ſo werfen die
Knaben mit Steinen darnach, und das fällt ihr auf die Nerven, und das
ſtört ſie in ihren tiefen Ueberlegungen, wenn ſie Kennikot, Semler und
Michaelis gegen einander abwiegt.  Da ich die Leute im Dorfe, beſonders
die Alten, ſo unzufrieden ſah, ſagt' ich: warum habt ihr's gelitten?  –
Wenn der Schulz will, hier zu Lande, ſagten ſie, was kann man machen.
Aber eins iſt recht geſchehn, der Schulz und der Pfarrer, der doch auch
von ſeiner Frauen Grillen, die ihm ſo die Suppen nicht fett machen,
etwas haben wollte, dachtens mit einander zu theilen, da erfuhr's die
Kammer und ſagte: hier herein!  und verkaufte die Bäume an den
Meiſtbietenden.  Sie liegen!  O wenn ich Fürſt wäre!  Ich wollt die
Pfarrern, den Schulzen und die Kammer – Fürſt!  – Ja wenn ich Fürſt
wäre, was kümmerten mich die Bäume in meinem Lande.

am 10. Oktober.

Wenn ich nur ihre ſchwarzen Augen ſehe, iſt mirs ſchon wohl!  Sieh, und
was mich verdrüſt, iſt, daß Albert nicht ſo beglükt zu ſeyn ſcheinet,
als er – hoffte – als ich – zu ſeyn glaubte – wenn – Ich mache nicht
gern Gedankenſtriche, aber hier kann ich mich nicht anders auſdrukken –
und mich dünkt deutlich genug.

am 12. Oktober.

Oſſian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt.  Welch eine Welt, in
die der Herrliche mich führt.  Zu wandern über die Haide, umſaußt vom
Sturmwinde, der in dampfenden Nebeln, die Geiſter der Väter im
dämmernden Lichte des Mondes hinführt.  Zu hören vom Gebürge her, im
Gebrülle des Waldſtroms, halb verwehtes Aechzen der Geiſter aus ihren
Hölen und die Wehklagen des zu Tode gejammerten Mädgens, um die vier
mooſbedekten, graſbewachſnen Steine des edelgefallnen ihres Geliebten.
Wenn ich ihn denn finde, den wandelnden grauen Barden, der auf der
weiten Haide die Fuſtapfen ſeiner Väter ſucht und ach!  ihre Grabſteine
findet.  Und dann jammernd nach dem lieben Sterne des Abends hinblikt,
der ſich in's rollende Meer verbirgt, und die Zeiten der Vergangenheit
in des Helden Seele lebendig werden, da noch der freundliche Stral den
Gefahren der Tapfern leuchtete, und der Mond ihr bekränztes,
ſiegrükkehrendes Schiff beſchien.  Wenn ich ſo den tiefen Kummer auf
ſeiner Stirne leſe, ſo den lezten verlaßnen Herrlichen in aller
Ermattung dem Grabe zu wanken ſehe, wie er immer neue, ſchmerzlich
glühende Freuden in der kraftloſen Gegenwart der Schatten ſeiner
Abgeſchiedenen einſaugt, und nach der kalten Erde dem hohen wehenden
Graſe niederſieht, und auſruft: Der Wanderer wird kommen, kommen, der
mich kannte in meiner Schönheit und fragen, wo iſt der Sänger, Fingals
treflicher Sohn?  Sein Fuſtritt geht über mein Grab hin, und er fragt
vergebens nach mir auf der Erde.  O Freund!  ich möchte gleich einem
edlen Waffenträger das Schwerd ziehen und meinen Fürſten von der
zükkenden Quaal des langſam abſterbenden Lebens auf einmal befreyen, und
dem befreyten Halbgott meine Seele nachſenden.

am 19. Oktober.

Ach dieſe Lükke!  Dieſe entſezliche Lükke, die ich hier in meinem Buſen
fühle!  ich denke oft!  – Wenn du ſie nur einmal, nur einmal an dieſes
Herz drükken könnteſt.  All dieſe Lükke würde auſgefüllt ſeyn.

am 26. Oktober.

Ja es wird mir gewiß, Lieber!  gewiß und immer gewiſſer, daß an dem
Daſeyn eines Geſchöpfs ſo wenig gelegen iſt, ganz wenig.  Es kam eine
Freundinn zu Lotten, und ich gieng herein in's Nebenzimmer, ein Buch zu
nehmen, und konnte nicht leſen, und dann nahm ich eine Feder zu
ſchreiben.  Ich hörte ſie leiſe reden, ſie erzählten einander inſofern
unbedeutende Sachen, Stadtneuigkeiten: wie dieſe heyrathet, wie jene
krank, ſehr krank iſt.  Sie hat einen troknen Huſten, die Knochen ſtehn
ihr zum Geſichte heraus, und kriegt Ohnmachten, ich gebe keinen Kreuzer
für ihr Leben, ſagte die eine.  Der N.  N.  iſt auch ſo übel dran, ſagte
Lotte.  Er iſt ſchon geſchwollen, ſagte die andre.  Und meine lebhafte
Einbildungſkraft verſezte mich an's Bette dieſer Armen, ich ſah ſie, mit
welchem Widerwillen ſie dem Leben den Rükken wandten, wie ſie – Wilhelm,
und meine Weibgens redeten davon, wie man eben davon redt: daß ein
Fremder ſtirbt.  – Und wenn ich mich umſehe, und ſeh das Zimmer an, und
rings um mich Lottens Kleider, hier ihre Ohrringe auf dem Tiſchgen, und
Alberts Scripturen und dieſe Meubels, denen ich nun ſo befreundet bin,
ſogar dieſem Dintefaß, und denke: Sieh, was du nun dieſem Hauſe biſt!
Alles in allem.  Deine Freunde ehren dich!  Du machſt oft ihre Freude,
und deinem Herzen ſcheint's, als wenn es ohne ſie nicht ſeyn könnte, und
doch – wenn du nun giengſt?  wenn du aus dieſem Kreiſe ſchiedeſt, würden
ſie?  wie lange würden ſie die Lükke fühlen, die dein Verluſt in ihr
Schikſal reißt?  wie lang?  – O ſo vergänglich iſt der Menſch, daß er
auch da, wo er ſeines Daſeyns eigentliche Gewißheit hat, da, wo er den
einzigen wahren Eindruk ſeiner Gegenwart macht; in dem Andenken in der
Seele ſeiner Lieben, daß er auch da verlöſchen, verſchwinden muß, und
das – ſo bald!

am 27. Oktober.

Ich möchte mir oft die Bruſt zerreiſſen und das Gehirn einſtoßen, daß
man einander ſo wenig ſeyn kann.  Ach die Liebe und Freude und Wärme und
Wonne, die ich nicht hinzu bringe, wird mir der andre nicht geben, und
mit einem ganzen Herzen voll Seligkeit, werd ich den andern nicht
beglükken der kalt und kraftlos vor mir ſteht.

am 30. Oktober.

Wenn ich nicht ſchon hundertmal auf dem Punkte geſtanden bin, ihr um den
Hals zu fallen.  Weiß der groſſe Gott, wie einem das thut, ſo viel
Liebenſwürdigkeit vor ſich herumkreuzen zu ſehn und nicht zugreifen zu
dürfen.  Und das Zugreifen iſt doch der natürlichſte Trieb der
Menſchheit.  Greifen die Kinder nicht nach allem, was ihnen in Sinn
fällt?  Und ich?

am 3. November.

Weis Gott, ich lege mich ſo oft zu Bette mit dem Wunſche, ja manchmal
mit der Hofnung, nicht wieder zu erwachen, und Morgens ſchlag ich die
Augen auf, ſehe die Sonne wieder und bin elend.  O daß ich launiſch ſeyn
könnte, könnte die Schuld auf's Wetter, auf einen dritten, auf eine
fehlgeſchlagene Unternehmung ſchieben; ſo würde die unerträgliche Laſt
des Unwillens doch nur halb auf mir ruhen.  Weh mir, ich fühle zu wahr,
daß an mir allein alle Schuld liegt – nicht Schuld!  Genug daß in mir
die Quelle alles Elendes verborgen iſt, wie es ehemals die Quelle aller
Seligkeiten war.  Bin ich nicht noch eben derſelbe, der ehemals in aller
Fülle der Empfindung herumſchwebte, dem auf jedem Tritte ein Paradies
folgte, der ein Herz hatte, eine ganze Welt liebevoll zu umfaſſen.  Und
das Herz iſt jezo todt, aus ihm fließen keine Entzükkungen mehr, meine
Augen ſind trokken, und meine Sinnen, die nicht mehr von erquikkenden
Thränen gelabt werden, ziehen ängſtlich meine Stirne zuſammen.  Ich
leide viel, denn ich habe verlohren, was meines Lebens einzige Wonne
war, die heilige belebende Kraft, mit der ich Welten um mich ſchuf.  Sie
iſt dahin!  – Wenn ich zu meinem Fenſter hinaus an den fernen Hügel
ſehe, wie die Morgenſonne über ihn her den Nebel durchbricht und den
ſtillen Wieſengrund beſcheint, und der ſanfte Fluß zwiſchen ſeinen
entblätterten Weiden zu mir herſchlängelt, o wenn da dieſe herrliche
Natur ſo ſtarr vor mir ſteht wie ein lakirt Bildgen, und all die Wonne
keinen Tropfen Seligkeit aus meinem Herzen herauf in das Gehirn pumpen
kann, und der ganze Kerl vor Gottes Angeſicht ſteht wie ein verſiegter
Brunn, wie ein verlechter Eymer!  Ich habe mich ſo oft auf den Boden
geworfen und Gott um Thränen gebeten, wie ein Akkerſmann um Regen, wenn
der Himmel ehern über ihm iſt, und um ihn die Erde verdürſtet.

Aber, ach ich fühls!  Gott giebt Regen und Sonnenſchein nicht unſerm
ungeſtümen Bitten, und jene Zeiten, deren Andenken mich quält, warum
waren ſie ſo ſelig?  als weil ich mit Geduld ſeinen Geiſt erwartete, und
die Wonne, die er über mich auſgoß mit ganzem, innig dankbarem Herzen
aufnahm.

am 8. Nov.

Sie hat mir meine Exzeſſe vorgeworfen!  Ach mit ſo viel
Liebenſwürdigkeit!  Meine Exzeſſe, daß ich mich manchmal von einem Glas
Wein verleiten laſſe, eine Bouteille zu trinken.  Thun Sie's nicht!
ſagte ſie, denken Sie an Lotten!  – Denken!  ſagt' ich, brauchen Sie mir
das zu heiſſen?  Ich denke!  – Ich denke nicht!  Sie ſind immer vor
meiner Seelen.  Heut ſaß ich an dem Flekke, wo Sie neulich aus der
Kutſche ſtiegen – Sie redte was anders, um mich nicht tiefer in den Text
kommen zu laſſen.  Beſter, ich bin dahin!  Sie kann mit mir machen was
ſie will.

am 15.Nov.

Ich danke Dir, Wilhelm, für Deinen herzlichen Antheil, für Deinen
wohlmeynenden Rath, und bitte Dich, ruhig zu ſeyn.  Laß mich auſdulden,
ich habe bey all meiner Müdſeligkeit noch Kraft genug durchzuſezzen.
Ich ehre die Religion, das weiſt Du, ich fühle, daß ſie manchem
Ermatteten Stab, manchem Verſchmachtenden Erquikkung iſt.  Nur – kann
ſie denn, muß ſie denn das einem jeden ſeyn?  Wenn Du die groſſe Welt
anſiehſt; ſo ſiehſt du Tauſende, denen ſie's nicht war, Tauſende, denen
ſie's nicht ſeyn wird, gepredigt oder ungepredigt, und muß ſie mir's
denn ſeyn?  Sagt nicht ſelbſt der Sohn Gottes: daß die um ihn ſeyn
würden, die ihm der Vater gegeben hat.  Wenn ich ihm nun nicht gegeben
bin!  Wenn mich nun der Vater für ſich behalten will, wie mir mein Herz
ſagt!  Ich bitte Dich, lege das nicht falſch aus, ſieh nicht etwa Spott
in dieſen unſchuldigen Worten, es iſt meine ganze Seele, die ich dir
vorlege.  Sonſt wollt ich lieber, ich hätte geſchwiegen, wie ich denn
über all das, wovon jedermann ſo wenig weis als ich, nicht gern ein Wort
verliehre.  Was iſt's anders als Menſchenſchikſal, ſein Maas
auſzuleiden, ſeinen Becher auſzutrinken!  – Und ward der Kelch dem Gott
vom Himmel auf ſeiner Menſchenlippe zu bitter, warum ſoll ich gros thun
und mich ſtellen, als ſchmekte er mir ſüſſe.  Und warum ſollte ich mich
ſchämen in dem ſchröklichen Augenblikke, da mein ganzes Weſen zwiſchen
Seyn und Nichtſeyn zittert, da die Vergangenheit wie ein Bliz über dem
finſtern Abgrunde der Zukunft leuchtet, und alles um mich her verſinkt,
und mit mir die Welt untergeht.  – Iſt es da nicht die Stimme der ganz
in ſich gedrängten, ſich ſelbſt ermangelnden und unaufhaltſam
hinabſtürzenden Creatur, in den innern Tiefen ihrer vergebens
aufarbeitenden Kräfte zu knirſchen.  Mein Gott!  Mein Gott!  warum haſt
du mich verlaſſen?  Und ſollt ich mich des Auſdruks ſchämen, ſollte
mir's vor dem Augenblikke bange ſeyn, da ihm der nicht entgieng, der die
Himmel zuſammenrollt wie ein Tuch.

am 21. Nov.

Sie ſieht nicht, ſie fühlt nicht, daß ſie einen Gift bereitet, der mich
und ſie zu Grunde richten wird.  Und ich mit voller Wolluſt ſchlurfe den
Becher aus, den ſie mir zu meinem Verderben reicht.  Was ſoll der gütige
Blik, mit dem ſie mich oft – oft?  – nein nicht oft, aber doch manchmal
anſieht, die Gefälligkeit, womit ſie einen unwillkührlichen Auſdruk
meines Gefühls aufnimmt, das Mitleiden mit meiner Duldung, das ſich auf
ihrer Stirne zeichnet.

Geſtern als ich weggieng, reichte ſie mir die Hand und ſagte: Adieu,
lieber Werther!  Lieber Werther!  Es war das erſtemal, daß ſie mich
Lieber hies, und mir giengs durch Mark und Bein.  Ich hab mir's
hundertmal wiederholt und geſtern Nacht da ich in's Bette gehen wollte,
und mit mir ſelbſt allerley ſchwazte, ſag ich ſo auf einmal: gute Nacht,
lieber Werther!  Und mußte hernach ſelbſt über mich lachen.

am 24. Nov.

Sie fühlt, was ich dulde.  Heut iſt mir ihr Blik tief durch's Herz
gedrungen.  Ich fand ſie allein.  Ich ſagte nichts und ſie ſah mich an.
Und ich ſah nicht mehr in ihr die liebliche Schönheit, nicht mehr das
Leuchten des treflichen Geiſtes; das war all vor meinem Auge
verſchwunden.  Ein weit herrlicherer Blik würkte auf mich, voll Auſdruk
des innigſten Antheils, des ſüßten Mitleidens.  Warum durft' ich mich
nicht ihr zu Füſſen werfen!  warum durft ich nicht an ihrem Halſe mit
tauſend Küſſen antworten – Sie nahm ihre Zuflucht zum Claviere und
hauchte mit ſüſſer leiſer Stimme harmoniſche Laute zu ihrem Spiele.  Nie
hab ich ihre Lippen ſo reizend geſehn, es war, als wenn ſie ſich
lechzend öffneten, jene ſüſſe Töne in ſich zu ſchlürfen, die aus dem
Inſtrumente hervorquollen, und nur der heimliche Wiederſchall aus dem
ſüſſen Munde zurükklänge – Ja wenn ich dir das ſo ſagen könnte!  Ich
widerſtund nicht länger, neigte mich und ſchwur: Nie will ich's wagen,
einen Kuß euch einzudrükken Lippen, auf denen die Geiſter des Himmels
ſchweben – Und doch – ich will – Ha ſiehſt du, das ſteht wie eine
Scheidewand vor meiner Seelen – dieſe Seligkeit – und dann
untergegangen, die Sünde abzubüſſen – Sünde?

am 30. Nov.

Ich ſoll, ich ſoll nicht zu mir ſelbſt kommen, wo ich hintrete, begegnet
mir eine Erſcheinung, die mich aus aller Faſſung bringt.  Heut!  O
Schikſal!  O Menſchheit!

Ich gehe an dem Waſſer hin in der Mittagſſtunde, ich hatte keine Luſt zu
eſſen.  Alles war ſo öde, ein naßkalter Abendwind blies vom Berge, und
die grauen Regenwolken zogen das Thal hinein.  Von ferne ſeh ich einen
Menſchen in einem grünen, ſchlechten Rokke, der zwiſchen den Felſen
herumkrabelte und Kräuter zu ſuchen ſchien.  Als ich näher zu ihm kam
und er ſich auf das Geräuſch, das ich machte, herumdrehte, ſah ich eine
gar intereſſante Phyſiognomie, darinn eine ſtille Trauer den Hauptzug
machte, die aber ſonſt nichts als einen graden guten Sinn auſdrükte,
ſeine ſchwarzen Haare waren mit Nadeln in zwey Rollen geſtekt, und die
übrigen in einen ſtarken Zopf geflochten, der ihm den Rükken herunter
hieng.  Da mir ſeine Kleidung einen Menſchen von geringem Stande zu
bezeichnen ſchien, glaubt' ich, er würde es nicht übel nehmen, wenn ich
auf ſeine Beſchäftigung aufmerkſam wäre, und daher fragte ich ihn, was
er ſuchte.  Ich ſuche, antwortete er mit einem tiefen Seufzer, Blumen –
und finde keine – Das iſt auch die Jahrſzeit nicht, ſagt' ich lächelnd.
– Es giebt ſo viel Blumen, ſagt er, indem er zu mir herunter kam.  In
meinem Garten ſind Roſen und Je länger ie lieber zweyerley Sorten, eine
hat mir mein Vater gegeben, ſie wachſen wie's Unkraut, ich ſuche ſchon
zwey Tage darnach, und kann ſie nicht finden.  Da haußen ſind auch immer
Blumen, gelbe und blaue und rothe, und das Tauſend Güldenkraut hat ein
ſchön Blümgen.  Keines kann ich finden.  Ich merkte was unheimliches,
und drum fragte ich durch einen Umweg: Was will er denn mit den Blumen?
Ein wunderbares zukkendes Lächlen verzog ſein Geſicht.  Wenn er mich
nicht verrathen will, ſagt er, indem er den Finger auf den Mund drükte,
ich habe meinem Schazze einen Straus verſprochen.  Das iſt brav, ſagt
ich.  O ſagt' er, ſie hat viel andre Sachen, ſie iſt reich.  Und doch
hat ſie ſeinen Straus lieb, verſezt ich.  O!  fuhr er fort, ſie hat
Juwelen und eine Krone.  Wie heißt ſie denn?  – Wenn mich die
Generalſtaaten bezahlen wollten!  verſezte er, ich wär ein anderer
Menſch!  Ja es war einmal eine Zeit, da mir's ſo wohl war.  Jezt iſt's
aus mit mir, ich bin nun – Ein naſſer Blik zum Himmel drükte alles aus.
Er war alſo glüklich?  fragt ich.  Ach ich wollt ich wäre wieder ſo!
ſagt' er, da war mir's ſo wohl, ſo luſtig, ſo leicht wie ein Fiſch im
Waſſer!  Heinrich!  rufte eine alte Frau, die den Weg herkam.  Heinrich,
wo ſtikſt du?  Wir haben dich überall geſucht.  Komm zum Eſſen.  Iſt das
Euer Sohn?  fragt' ich zu ihr tretend.  Wohl, mein armer Sohn, verſezte
ſie.  Gott hat mir ein ſchweres Kreuz aufgelegt.  Wie lang iſt er ſo?
fragt ich.  So ſtille, ſagte ſie, iſt er nun ein halb Jahr.  Gott ſey
Dank, daß es nur ſo weit iſt.  Vorher war er ein ganz Jahr raſend, da
hat er an Ketten im Tollhauſe gelegen.  Jezt thut er niemand nichts, nur
hat er immer mit Königen und Kayſern zu thun.  Es war ein ſo guter
ſtiller Menſch, der mich ernähren half, ſeine ſchöne Hand ſchrieb, und
auf einmal wird er tiefſinnig, fällt in ein hitzig Fieber, daraus in
Raſerey, und nun iſt er, wie ſie ihn ſehen.  Wenn ich ihm erzählen
ſollt, Herr – Ich unterbrach ihren Strom von Erzählungen mit der Frage:
was denn das für eine Zeit wäre von der er ſo rühmte, daß er ſo
glüklich, ſo wohl darinn geweſen wäre.  Der thörige Menſch, rief ſie mit
mitleidigem Lächlen, da meint er die Zeit, da er von ſich war, das rühmt
er immer!  Das iſt die Zeit, da er im Tollhauſe war, wo er nichts von
ſich wußte – Das fiel mir auf wie ein Donnerſchlag, ich drückte ihr ein
Stük Geld in die Hand und verließ ſie eilend.

Da du glüklich warſt!  rief ich aus, ſchnell vor mich hin nach der Stadt
zu gehend.  Da dir's wohl war wie einem Fiſch im Waſſer!  – Gott im
Himmel!  Haſt du das zum Schikſaal der Menſchen gemacht, daß ſie nicht
glüklich ſind, als eh ſie zu ihrem Verſtande kommen, und wenn ſie ihn
wieder verliehren!  Elender und auch wie beneid ich deinen Trübſinn, die
Verwirrung deiner Sinne, in der du verſchmachteſt!  Du gehſt
hoffnungſvoll aus, deiner Königin Blumen zu pflükken – im Winter – und
traureſt, da du keine findeſt, und begreifſt nicht, warum, du keine
finden kannſt.  Und ich – und ich gehe ohne Hoffnung, ohne Zwek heraus,
und kehr wieder heim, wie ich gekommen bin.  – Du wähnſt, welcher Menſch
du ſeyn würdeſt, wenn die Generalſtaaten dich bezahlten.  Seliges
Geſchöpf, das den Mangel ſeiner Glükſeligkeit einer irdiſchen Hinderniß
zuſchreiben kann.  – Du fühlſt nicht!  Du fühlſt nicht!  daß in deinem
zerſtörten Herzen, in deinem zerrütteten Gehirne dein Elend liegt, wovon
alle Könige der Erde dir nicht helfen können.

Müſſe der troſtlos umkommen, der eines Kranken ſpottet, der nach der
entfernteſten Quelle reiſt die ſeine Krankheit vermehren, ſein Auſleben
ſchmerzhafter machen wird, der ſich über das bedrängte Herz erhebt, das,
um ſeine Gewiſſenſbiſſe los zu werden und die Leiden ſeiner Seele
abzuthun, ſeine Pilgrimſchaft nach dem heiligen Grabe thut!  Jeder
Fußtritt der ſeine Solen auf ungebahntem Wege durchſchneidet, iſt ein
Lindrungſtropfen der geängſteten Seele, und mit jeder auſgedauerten
Tagreiſe legt ſich das Herz um viel Bedrängniß leichter nieder.  – Und
dürft ihr das Wahn nennen – Ihr Wortkrämer auf euren Polſtern – Wahn!  –
O Gott!  du ſiehſt meine Thränen – Mußteſt du, der du den Menſchen arm
genug erſchufſt, ihm auch Brüder zugeben, die ihm das bißgen Armuth, das
bißgen Vertrauen noch raubten, das er auf dich hat, auf dich, du
Alliebender, denn das Vertrauen zu einer heilenden Wurzel, zu den
Thränen des Weinſtoks, was iſt's, als Vertrauen zu dir, daß du in alles,
was uns umgiebt, Heil und Lindrungſkraft gelegt haſt, der wir ſo
ſtündlich bedürfen.  – Vater, den ich nicht kenne!  Vater, der ſonſt
meine ganze Seele füllte, und nun ſein Angeſicht von mir gewendet hat!
Rufe mich zu dir!  Schweige nicht länger!  Dein Schweigen wird dieſe
durſtende Seele nicht aufhalten – Und würde ein Menſch, ein Vater zürnen
können, dem ſein unvermuthet rük kehrender Sohn um den Hals fiele und
rief: Ich bin wieder da mein Vater.  Zürne nicht, daß ich die
Wanderſchaft abbreche, die ich nach deinem Willen länger auſhalten
ſollte.  Die Welt iſt überall einerley, auf Müh und Arbeit, Lohn und
Freude; aber was ſoll mir das?  mir iſt nur wohl, wo du biſt, und vor
deinem Angeſichte will ich leiden und genießen.  – Und du, lieber
himmliſcher Vater, ſollteſt ihn von dir weiſen?

am 1. Dez.

Wilhelm!  der Menſch, von dem ich Dir ſchrieb, der glükliche
Unglükliche, war Schreiber bey Lottens Vater, und eine unglükliche
Leidenſchaft zu ihr, die er nährte, verbarg, entdekte, und aus dem
Dienſt geſchikt wurde, hat ihn raſend gemacht.  Fühle Kerl, bey dieſen
troknen Worten, mit welchem Unſinne mich die Geſchichte ergriffen hat,
da mir ſie Albert eben ſo gelaſſen erzählte, als du's vielleicht
lieſeſt.

am 4. Dez.

Ich bitte dich – ſiehſt du, mit mir iſt's aus – Ich trag das all nicht
länger.  Heut ſas ich bey ihr – ſas, ſie ſpielte auf ihrem Clavier,
manchfaltige Melodien und all den Auſdruk!  all!  all!  – Was willſt Du?
– Ihr Schweſtergen puzte ihre Puppe auf meinem Knie.  Mir kamen die
Thränen in die Augen.  Ich neigte mich und ihr Trauring fiel mir in's
Geſicht – Meine Thränen floſſen – Und auf einmal fiel ſie in die alte
himmelſüſſe Melodie ein, ſo auf einmal, und mir durch die Seele gehn ein
Troſtgefühl und eine Erinnerung all des Vergangenen, all der Zeiten, da
ich das Lied gehört, all der düſtern Zwiſchenräume des Verdruſſes, der
fehlgeſchlagenen Hoffnungen, und dann – Ich gieng in der Stube auf und
nieder, mein Herz erſtikte unter all dem.  Um Gottes Willen, ſagt ich,
mit einem heftigen Auſbruch hin gegen ſie fahrend, um Gottes Willen
hören ſie auf.  Sie hielt, und ſah mich ſtarr an.  Werther, ſagte ſie,
mit einem Lächlen, das mir durch die Seele gieng, Werther, ſie ſind ſehr
krank, ihre Lieblingſgerichte widerſtehen ihnen.  Gehen ſie!  Ich bitte
ſie, beruhigen ſie ſich.  Ich riß mich von ihr weg, und – Gott!  du
ſiehſt mein Elend, und wirſt es enden.

am 6. Dez.

Wie mich die Geſtalt verfolgt.  Wachend und träumend füllt ſie meine
ganze Seele.  Hier, wenn ich die Augen ſchlieſſe, hier in meiner Stirne,
wo die innere Sehkraft ſich vereinigt, ſtehen ihre ſchwarzen Augen.
Hier!  Ich kann dir's nicht auſdrükken.  Mach ich meine Augen zu, ſo
ſind ſie da, wie ein Meer, wie ein Abgrund ruhen ſie vor mir, in mir,
füllen die Sinnen meiner Stirne.

Was iſt der Menſch?  der geprieſene Halbgott!  Ermangeln ihm nicht da
eben die Kräfte wo er ſie am nöthigſten braucht?  Und wenn er in Freude
ſich aufſchwingt, oder im Leiden verſinkt, wird er nicht in beyden eben
da aufgehalten, eben da wieder zu dem ſtumpfen kalten Bewuſtſeyn zurük
gebracht, da er ſich in der Fülle des Unendlichen zu verliehren ſehnte.

am 8. Dez.

Lieber Wilhelm, ich bin in einem Zuſtande, in dem jene Unglüklichen
müſſen geweſen ſeyn, von denen man glaubte, ſie würden von einem böſen
Geiſte umhergetrieben.  Manchmal ergreift mich's, es iſt nicht Angſt,
nicht Begier!  es iſt ein inneres unbekanntes Toben, das meine Bruſt zu
zerreiſſen droht, das mir die Gurgel zupreßt!  Wehe!  Wehe!  Und dann
ſchweif ich umher in den furchtbaren nächtlichen Scenen dieſer
menſchenfeindlichen Jahrſzeit.

Geſtern Nacht mußt ich hinaus.  Ich hatte noch Abends gehört, der Fluß
ſey übergetreten und die Bäche all, und von Wahlheim herunter all mein
Liebeſthal überſchwemmt.  Nachts nach eilf rannt ich hinaus.  Ein
fürchterliches Schauſpiel.  Vom Fels herunter die wühlenden Fluthen in
dem Mondlichte wirbeln zu ſehn, über Aekker und Wieſen und Hekken und
alles, und das weite Thal hinauf und hinab eine ſtürmende See im Sauſen
des Windes.  Und wenn denn der Mond wieder hervortrat und über der
ſchwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus die Fluth in fürchterlich
herrlichen Wiederſchein rollte und klang, da überfiel mich ein Schauer,
und wieder ein Sehnen!  Ach!  Mit offenen Armen ſtand ich gegen den
Abgrund, und athmete hinab!  hinab, und verlohr mich in der Wonne, all
meine Quaalen all mein Leiden da hinab zu ſtürmen, dahin zu brauſen wie
die Wellen.  Oh!  Und den Fuß vom Boden zu heben!  Vermochteſt du nicht
und alle Qualen zu enden!  – Meine Uhr iſt noch nicht auſgelaufen – ich,
fühl's!  O Wilhelm, wie gern hätt ich all mein Menſchſeyn drum gegeben,
mit jenem Sturmwinde die Wolken zu zerreiſſen, die Fluthen zu faſſen.
Ha!  Und wird nicht vielleicht dem Eingekerkerten einmal dieſe Wonne zu
Theil!  –

Und wie ich wehmüthig hinab ſah auf ein Plätzgen, wo ich mit Lotten
unter einer Weide geruht, auf einem heiſſen Spaziergange, das war auch
überſchwemmt, und kaum daß ich die Weide erkannte!  Wilhelm.  Und ihre
Wieſen, dacht ich, und all die Gegend um ihr Jagdhaus, wie jezt vom
reiſſenden Strome, verſtört unſere Lauben, dacht ich.  Und der
Vergangenheit Sonnenſtrahl blikte herein – Wie einem Gefangenen ein
Traum von Heerden, Wieſen und Ehrenämtern.  Ich ſtand!  – Ich ſchelte
mich nicht, denn ich habe Muth zu ſterben – Ich hätte – Nun ſiz ich hier
wie ein altes Weib, das ihr Holz an Zäunen ſtoppelt, und ihr Brod an den
Thüren, um ihr hinſterbendes freudloſes Daſeyn noch einen Augenblik zu
verlängern und zu erleichtern.

am 17. Dez.

Was iſt das, mein Lieber?  Ich erſchrekke vor mir ſelbſt!  Iſt nicht
meine Liebe zu ihr die heiligſte, reinſte, brüderlichſte Liebe?  Hab ich
jemals einen ſtrafbaren Wunſch in meiner Seele gefühlt – ich will nicht
betheuren – und nun – Träume!  O wie wahr fühlten die Menſchen, die ſo
widerſprechende Würkungen fremden Mächten zuſchrieben.  Dieſe Nacht!
Ich zittere, es zu ſagen, hielt ich ſie in meinen Armen, feſt an meinen
Buſen gedrükt, und dekte ihren lieben liſpelnden Mund mit unendlichen
Küſſen.  Mein Auge ſchwamm in der Trunkenheit des ihrigen.  Gott!  bin
ich ſtrafbar, daß ich auch jezt noch eine Seligkeit fühle, mir dieſe
glühende Freuden mit voller Innigkeit zurük zu rufen, Lotte!  Lotte!  –
Und mit mir iſt's aus!  Meine Sinnen verwirren ſich.  Schon acht Tage
hab ich keine Beſinnungſkraft, meine Augen ſind voll Thränen.  Ich bin
nirgends wohl und überall wohl.  Ich wünſche nichts, verlange nichts.
Mir wärs beſſer ich gienge.


D e r  H e r a u s g e b e r an den Leſer.

Die auſführliche Geſchichte der lezten merkwürdigen Tage unſers Freundes
zu liefern, ſeh ich mich genöthiget, ſeine Briefe durch Erzäh-lung zu
unterbrechen, wozu ich den Stoff aus dem Munde Lottens, Albertens,
ſeines Bedienten und anderer Zeugen geſammlet habe.

Werthers Leidenſchaft hatte den Frieden zwiſchen Alberten und ſeiner
Frau allmählig untergraben, dieſer liebte ſie mit der ruhigen Treue
eines rechtſchafnen Manns, und der freundliche Umgang mit ihr
ſubordinirte ſich nach und nach ſeinen Geſchäften.  Zwar wollte er ſich
nicht den Unterſchied geſtehen, der die gegenwärtige Zeit den
Bräutigamſ-Tagen ſo ungleich machte: doch fühlte er innerlich einen
gewiſſen Widerwillen gegen Werthers Aufmerkſamkeiten für Lotten, die ihn
zugleich ein Eingriff in ſeine Rechte und ein ſtiller Vorwurf zu ſeyn
ſcheinen mußten.  Dadurch ward der üble Humor vermehrt, den ihm ſeine
überhäuften, gehinderten, ſchlecht belohnten Geſchäfte manchmal gaben,
und da denn Werthers Lage auch ihn zum traurigen Geſellſchafter machte,
indem die Beängſtigung ſeines Herzens die übrige Kräfte ſeines Geiſtes,
ſeine Lebhaftigkeit, ſeinen Scharfſinn aufgezehrt hatte; ſo konnte es
nicht fehlen daß Lotte zulezt ſelbſt mit angeſtekt wurde, und in eine
Art von Schwermuth verfiel, in der Albert eine wachſende Leidenſchaft
für ihren Liebhaber und Werther einen tiefen Verdruß über das veränderte
Betragen ihres Mannes zu entdekken glaubte.  Das Miſtrauen, womit die
beyden Freunde einander anſahen, machte ihnen ihre wechſelſeitige
Gegenwart höchſt beſchwerlich.  Albert mied das Zimmer ſeiner Frau, wenn
Werther bey ihr war, und dieſer, der es merkte, ergriff nach einigen
fruchtloſen Verſuchen ganz von ihr zu laſſen, die Gelegenheit, ſie in
ſolchen Stunden zu ſehen, da ihr Mann von ſeinen Geſchäften gehalten
wurde.  Daraus entſtund neue Unzufriedenheit, die Gemüther verhezten
ſich immer mehr gegen einander, bis zulezt Albert ſeiner Frau mit
ziemlich troknen Worten ſagte: ſie möchte, wenigſtens um der Leute
willen, dem Umgange mit Werthern eine andere Wendung geben und ſeine
allzu öfteren Beſuche abſchneiden.

Ohngefähr um dieſe Zeit hatte ſich der Entſchluß, dieſe Welt zu
verlaſſen, in der Seele des armen Jungen näher beſtimmt.  Es war von
jeher ſeine Lieblingſidee geweſen, mit der er ſich, beſonders ſeit der
Rückkehr zu Lotten, immer getragen.


Doch ſollte es keine übereilte, keine raſche That ſeyn, er wollte mit
der beſten Ueberzeugung, mit der möglichſten ruhigen Entſchloſſen-heit
dieſen Schritt thun.


Seine Zweifel, ſein Streit mit ſich ſelbſt blikken aus einem Zettelgen
hervor, das wahrſcheinlich ein angefangener Brief an Wilhelmen iſt, und
ohne Datum, unter ſeinen Papieren gefunden worden.

*

Ihre Gegenwart, ihr Schikſal, ihr Theilnehmen an dem meinigen preßt noch
die lezten Thränen aus meinem verſengten Gehirn.

Den Vorhang aufzuheben und dahinter zu treten, das iſt's all!  Und warum
das Zaudern und Zagen?  – Weil man nicht weis, wie's dahinten auſſieht?
– und man nicht zurükkehrt?  – Und daß das nun die Eigenſchaft unſeres
Geiſtes iſt, da Verwirrung und Finſterniß zu ahnden, wovon wir nichts
Beſtimmtes wiſſen.

===
---

Den Verdruß, den er bey der Geſandtſchaft gehabt, konnte er nicht
vergeſſen.  Er erwähnte deſſen ſelten, doch wenn es auch auf die
entfernteſte Weiſe geſchah, ſo konnte man fühlen, daß er ſeine Ehre
dadurch unwiederbringlich gekränkt hielte und daß ihm dieſer Vorfall
eine Abneigung gegen alle Geſchäfte und politiſche Wirkſamkeit gegeben
hatte.  Daher überließ er ſich ganz der wunderbaren Empfind- und
Denkenſart, die wir aus ſeinen Briefen kennen, und einer endloſen
Leidenſchaft, worüber noch endlich alles, was thätige Kraft an ihm war,
verlöſchen mußte.  Das ewige einerley eines traurigen Umgangs mit dem
liebenſwürdigen und geliebten Geſchöpfe, deſſen Ruhe er ſtörte, das
ſtürmende Abarbeiten ſeiner Kräfte ohne Zwek und Auſſicht drängten ihn
endlich zu der ſchröklichen That.

am 20. Dec.

Ich danke Deiner Liebe, Wilhelm, daß Du das Wort ſo aufgefangen haſt.
Ja, Du haſt recht: Mir wäre beſſer, ich gienge.  Der Vorſchlag, den Du
zu einer Rükkehr zu euch thuſt, gefällt mir nicht ganz, wenigſtens möcht
ich noch gern einen Umweg machen, beſonders da wir anhaltenden Froſt und
gute Wege zu hoffen haben.  Auch iſt's mir ſehr lieb, daß Du kommen
willſt, mich abzuholen; verzieh nur noch vierzehn Tage, und erwarte noch
einen Brief von mir mit dem weitern.  Es iſt nöthig, daß nichts gepflükt
werde, eh es reif iſt.  Und vierzehn Tage auf oder ab thun viel.  Meiner
Mutter ſollſt du ſagen: daß ſie für ihren Sohn beten ſoll und daß ich
ſie um Vergebung bitte, wegen all des Verdruſſes, den ich ihr gemacht
habe.  Das war nun mein Schikſal, die zu betrüben, denen ich Freude
ſchuldig war.  Leb wohl, mein Theuerſter.  Allen Segen des Himmels über
Dich!  Leb wohl!

===
---

An eben dem Tage, es war der Sonntag vor Weyhnachten, kam er abends zu
Lotten, und fand ſie allein.  Sie beſchäftigte ſich, einige Spielwerke
in Ordnung zu bringen, die ſie ihren kleinen Geſchwiſtern zum
Chriſtgeſchenke zurecht gemacht hatte.  Er redete von dem Vergnügen, das
die Kleinen haben würden, und von den Zeiten, da einen die unerwartete
Oeffnung der Thüre, und die Erſcheinung eines aufgeputzten Baums mit
Wachſlichtern, Zukkerwerk und Aepfeln in paradiſiſche Entzükkung ſezte.
Sie ſollen, ſagte Lotte, indem ſie ihre Verlegenheit unter ein liebes
Lächeln verbarg: Sie ſollen auch beſcheert kriegen, wenn Sie recht
geſchikt ſind, ein Wachſſtökgen und noch was.  – Und was heißen Sie
geſchikt ſeyn?  rief er aus, wie ſoll ich ſeyn, wie kann ich ſeyn, beſte
Lotte?  – Donnerſtag Abend, ſagte ſie, iſt Weyhnachtſabend, da kommen
die Kinder, mein Vater auch, da kriegt jedes das ſeinige, da kommen Sie
auch – aber nicht eher.  – Werther ſtutzte!  – Ich bitte Sie, fuhr ſie
fort, es iſt nun einmal ſo, ich bitte Sie um meiner Ruhe willen, es kann
nicht, es kann nicht ſo bleiben!  – Er wendete ſeine Augen von ihr,
gieng in der Stube auf und ab, und murmelte das: es kann nicht ſo
bleiben!  zwiſchen den Zähnen.  Lotte, die den ſchröklichen Zuſtand
fühlte, worinn ihn dieſe Worte verſezt hatten, ſuchte durch allerley
Fragen ſeine Gedanken abzulenken, aber vergebens.  Nein, Lotte, rief er
aus: ich werde Sie nicht wiederſehn!  – Warum das?  verſezte ſie,
Werther, Sie können, Sie müſſen uns wiederſehen, nur mäſſigen Sie ſich.
O!  warum mußten Sie mit dieſer Heftigkeit, dieſer unbezwinglich
haftenden Leidenſchaft für alles, das Sie einmal anfaſſen, gebohren
werden.  Ich bitte Sie, fuhr ſie fort, indem ſie ihn bey der Hand nahm,
mäſſigen Sie ſich, Ihr Geiſt, Ihre Wiſſenſchaft, Ihre Talente, was
bieten die Ihnen für mannigfaltige Ergözzungen dar!  ſeyn Sie ein Mann,
wenden Sie dieſe traurige Anhänglichkeit von einem Geſchöpfe, das nichts
thun kann, als Sie bedauren.  – Er knirrte mit den Zähnen, und ſah ſie
düſter an.  Sie hielt ſeine Hand: Nur einen Augenblik ruhigen Sinn,
Werther, ſagte ſie.  Fühlen Sie nicht, daß Sie ſich betrügen, ſich mit
Willen zu Grunde richten?  Warum denn mich!  Werther!  Juſt mich!  das
Eigenthum eines andern.  Juſt das!  Ich fürchte, ich fürchte, es iſt nur
die Unmöglichkeit, mich zu beſizzen, die Ihnen dieſen Wunſch ſo reizend
macht.  Er zog ſeine Hand aus der ihrigen, indem er ſie mit einem
ſtarren unwilligen Blikke anſah.  Weiſe!  rief er, ſehr weiſe!  hat
vielleicht Albert dieſe Anmerkung gemacht?  Politiſch!  ſehr politiſch!
– Es kann ſie jeder machen, verſezte ſie drauf.  Und ſollte denn in der
weiten Welt kein Mädgen ſeyn, das die Wünſche Ihres Herzens erfüllte?
Gewinnen Sie's über ſich, ſuchen Sie darnach, und ich ſchwöre Ihnen, Sie
werden ſie finden.  Denn ſchon lange ängſtet mich für Sie und uns die
Einſchränkung, in die Sie ſich dieſe Zeit her ſelbſt gebannt haben.
Gewinnen Sie's über ſich!  Eine Reiſe wird Sie, muß Sie zerſtreuen!
Suchen Sie, finden Sie einen werthen Gegenſtand all Ihrer Liebe, und
kehren Sie zurük und laſſen Sie uns zuſammen die Seligkeit einer wahren
Freundſchaft genießen.


Das könnte man, ſagte er mit einem kalten Lachen, drukken laſſen und
allen Hofmeiſtern empfehlen.  Liebe Lotte, laſſen Sie mir noch ein klein
wenig Ruh, es wird alles werden.  – Nur das, Werther!  daß Sie nicht
eher kommen als Weyhnachtſabend!  Er wollte antworten, und Albert trat
in die Stube.  Man bot ſich einen froſtigen guten Abend, und gieng
verlegen im Zimmer nebeneinander auf und nieder.  Werther fieng einen
unbedeutenden Diſkurs an, der bald aus war, Albert deſgleichen, der
ſodann ſeine Frau nach einigen Aufträgen fragte und, als er hörte, ſie
ſeyen noch nicht auſgerichtet, ihr ſpizze Reden gab, die Werthern
durch's Herz giengen.  Er wollte gehn, er konnte nicht und zauderte bis
Acht, da ſich denn der Unmuth und Unwillen an einander immer vermehrte,
bis der Tiſch gedekt wurde und er Huth und Stok nahm, da ihm denn Albert
ein unbedeutend Kompliment, ob er nicht mit ihnen vorlieb nehmen wollte,
mit auf den Weg gab.


Er kam nach Hauſe, nahm ſeinem Burſchen, der ihm leuchten wollte, das
Licht aus der Hand, und gieng allein in ſein Zimmer, weinte laut, redete
aufgebracht mit ſich ſelbſt, gieng heftig die Stube auf und ab, und warf
ſich endlich in ſeinen Kleidern auf's Bette, wo ihn der Bediente fand,
der es gegen Eilf wagte hinein zu gehn, um zu fragen, ob er dem Herrn
die Stiefel auſziehen ſollte, das er denn zuließ und dem Diener verbot,
des andern Morgens nicht in's Zimmer zu kommen, bis er ihm rufte.


Montags früh, den ein und zwanzigſten December, ſchrieb er folgenden
Brief an Lotten, den man nach ſeinem Tode verſiegelt auf ſeinem
Schreibtiſche gefunden und ihr überbracht hat, und den ich Abſatzweiſe
hier einrükken will, ſo wie aus den Umſtänden erhellet, daß er ihn
geſchrieben habe.

*

Es iſt beſchloſſen, Lotte, ich will ſterben, und das ſchreib ich Dir
ohne romantiſche Ueberſpannung gelaſſen, an dem Morgen des Tags, an dem
ich Dich zum lezten mal ſehn werde.  Wenn Du dieſes lieſeſt, meine
Beſte, dekt ſchon das kühle Grab die erſtarrten Reſte des Unruhigen,
Unglüklichen, der für die lezten Augenblikke ſeines Lebens keine größere
Süſſigkeit weis, als ſich mit Dir zu unterhalten.  Ich habe eine
ſchrökliche Nacht gehabt und ach eine wohlthätige Nacht, ſie iſt's, die
meinen wankenden Entſchluß befeſtiget, beſtimmt hat: ich will ſterben.
Wie ich mich geſtern von Dir riß, in der fürchterlichen Empörung meiner
Sinnen, wie ſich all all das nach meinem Herzen drängte, und mein
hoffnungſloſes, freudloſes Daſeyn neben Dir, in gräßlicher Kälte mich
anpakte; ich erreichte kaum mein Zimmer, ich warf mich auſſer mir auf
meine Knie, und o Gott!  du gewährteſt mir das lezte Labſal der
bitterſten Thränen, und tauſend Anſchläge, tauſend Auſſichten wütheten
durch meine Seele, und zulezt ſtand er da, feſt ganz der lezte einzige
Gedanke: Ich will ſterben!  – Ich legte mich nieder, und Morgens, in all
der Ruh des Erwachens, ſteht er noch feſt, noch ganz ſtark in meinem
Herzen: Ich will ſterben!  – Es iſt nicht Verzweiflung, es iſt
Gewißheit, daß ich auſgetragen habe, und daß ich mich opfere für Dich,
ja Lotte, warum ſollt ich's verſchweigen: eins von uns dreyen muß
hinweg, und das will ich ſeyn.  O meine Beſte, in dieſem zerriſſenen
Herzen iſt es wüthend herum geſchlichen, oft – Deinen Mann zu ermorden!
– Dich!  – mich!  – So ſey's denn!  – Wenn du hinauf ſteigſt auf den
Berg, an einem ſchönen Sommerabende, dann erinnere Dich meiner, wie ich
ſo oft das Thal herauf kam, und dann blikke nach dem Kirchhofe hinüber
nach meinem Grabe, wie der Wind das hohe Gras im Schein der ſinkenden
Sonne hin und her wiegt.  – Ich war ruhig da ich anfieng, und nun wein
ich wie ein Kind, da mir all das ſo lebhaft um mich wird.  –

===
---

Gegen zehn Uhr rufte Werther ſeinem Bedienten, und unter dem Anziehen
ſagte er ihm: wie er in einigen Tagen verreiſen würde, er ſolle daher
die Kleider auſkehren und alles zum Einpakken zurechte machen, auch gab
er ihm Befehl, überall Contis zu fordern, einige auſgeliehene Bücher
abzuholen und einigen Armen, denen er wöchentlich etwas zu geben gewohnt
war, ihr Zugetheiltes auf zwey Monathe voraus zu bezahlen.

Er ließ ſich das Eſſen auf die Stube bringen, und nach Tiſche ritt er
hinaus zum Amtmanne, den er nicht zu Hauſe antraf.  Er gieng tiefſinnig
im Garten auf und ab und ſchien noch zulezt alle Schwermuth der
Erinnerung auf ſich häufen zu wollen.


Die Kleinen ließen ihn nicht lange in Ruhe, ſie verfolgten ihn, ſprangen
an ihn hinauf, erzählten ihm: daß, wenn Morgen und wieder Morgen und
noch ein Tag wäre, daß ſie die Chriſtgeſchenke bey Lotten holten, und
erzählten ihm Wunder, die ſich ihre kleine Einbildungſkraft verſprach.
Morgen!  rief er aus, und wieder Morgen, und noch ein Tag!  Und küßte
ſie alle herzlich, und wollte ſie verlaſſen, als ihm der kleine noch was
in's Ohr ſagen wollte.  Der verrieth ihm, daß die großen Brüder hätten
ſchöne Neujahrſwünſche geſchrieben, ſo gros, und einen für den Papa, für
Albert und Lotte einen, und auch einen für Herrn Werther.  Die wollten
ſie des Neujahrſtags früh überreichen.


Das übermannte ihn, er ſchenkte jedem was, ſezte ſich zu Pferde, ließ
den Alten grüßen, und ritt mit Thränen in den Augen davon.


Gegen fünfe kam er nach Hauſe, befahl der Magd, nach dem Feuer zu ſehen,
und es bis in die Nacht zu unterhalten.  Dem Bedienten hieß er Bücher
und Wäſche unten in den Coffer pakken und die Kleider einnähen.  Darauf
ſchrieb er wahrſcheinlich folgenden Abſaz ſeines lezten Briefes an
Lotten.

*

Du erwarteſt mich nicht.  Du glaubſt, ich würde gehorchen und erſt
Weyhnachtſabend Dich wieder ſehn.  O Lotte!  Heut oder nie mehr.
Weyhnachtſabend hältſt Du dieſes Papier in Deiner Hand, zitterſt und
benezt es mit Deinen lieben Thränen.  Ich will, ich muß!  O wie wohl iſt
mir's, daß ich entſchloſſen bin.

===
---

Um halb ſieben gieng er nach Albertens Hauſe, und fand Lotten allein,
die über ſeinen Beſuch ſehr erſchrokken war.  Sie hatte ihrem Manne im
Diſkurs geſagt, daß Werther vor Weyhnachtſabend nicht wiederkommen
würde.  Er ließ bald darauf ſein Pferd ſatteln, nahm von ihr Abſchied
und ſagte, er wolle zu einem Beamten in der Nachbarſchaft reiten, mit
dem er Geſchäfte abzuthun habe, und ſo machte er ſich truz der übeln
Witterung fort.  Lotte, die wohl wußte, daß er dieſes Geſchäft ſchon
lange verſchoben hatte, daß es ihn eine Nacht von Hauſe halten würde,
verſtund die Pantomime nur allzu wohl und ward herzlich betrübt darüber.
Sie ſaß in ihrer Einſamkeit, ihr Herz ward weich, ſie ſah das
Vergangene, fühlte all ihren Werth und ihre Liebe zu ihrem Manne, der
nun ſtatt des verſprochenen Glüks anfieng das Elend ihres Lebens zu
machen.  Ihre Gedanken fielen auf Werthern.  Sie ſchalt ihn, und konnte
ihn nicht haſſen.  Ein geheimer Zug hatte ihr ihn vom Anfange ihrer
Bekanntſchaft theuer gemacht, und nun, nach ſo viel Zeit, nach ſo
manchen durchlebten Situationen, mußte ſein Eindruk unauſlöſchlich in
ihrem Herzen ſeyn.  Ihr gepreßtes Herz machte ſich endlich in Thränen
Luft und gieng in eine ſtille Melancholie über, in der ſie ſich je
länger je tiefer verlohr.  Aber wie ſchlug ihr Herz, als ſie Werthern
die Treppe heraufkommen und außen nach ihr fragen hörte.  Es war zu
ſpät, ſich verläugnen zu laſſen, und ſie konnte ſich nur halb von ihrer
Verwirrung ermannen, als er ins Zimmer trat.  Sie haben nicht Wort
gehalten!  rief ſie ihm entgegen.  Ich habe nichts verſprochen, war
ſeine Antwort.  So hätten Sie mir wenigſtens meine Bitte gewähren
ſollen, ſagte ſie, es war Bitte um unſerer beyder Ruhe willen.  Indem
ſie das ſprach, hatte ſie bey ſich überlegt, einige ihrer Freundinnen zu
ſich rufen zu laſſen.  Sie ſollten Zeugen ihrer Unterredung mit Werthern
ſeyn, und Abends, weil er ſie nach Hauſe führen mußte, ward ſie ihn zur
rechten Zeit los.  Er hatte ihr einige Bücher zurük gebracht, ſie fragte
nach einigen andern, und ſuchte das Geſpräch, in Erwartung ihrer
Freundinnen, allgemein zu erhalten, als das Mädgen zurük kam und ihr
hinterbrachte, wie ſie ſich beyde entſchuldigen ließen, die eine habe
unangenehmen Verwandtenbeſuch, und die andere möchte ſich nicht
anziehen, und in dem ſchmuzigen Wetter nicht gerne auſgehen.


Darüber ward ſie einige Minuten nachdenkend, bis das Gefühl ihrer
Unſchuld ſich mit einigem Stolze empörte.  Sie bot Albertens Grillen
Truz, und die Reinheit ihres Herzens gab ihr eine Feſtigkeit, daß ſie
nicht, wie ſie anfangs vorhatte, ihr Mädgen in die Stube rief, ſondern,
nachdem ſie einige Menuets auf dem Clavier geſpielt hatte, um ſich zu
erholen, und die Verwirrung ihres Herzens zu ſtillen, ſich gelaſſen zu
Werthern auf's Canapee ſezte.  Haben Sie nichts zu leſen, ſagte ſie.  Er
hatte nichts.  Da drinne in meiner Schublade, fieng ſie an, liegt ihre
Ueberſetzung einiger Geſänge Oſſians, ich habe ſie noch nicht geleſen,
denn ich hoffte immer, ſie von Ihnen zu hören, aber zeither ſind Sie zu
nichts mehr tauglich.  Er lächelte, holte die Lieder, ein Schauer
überfiel ihn, als er ſie in die Hand nahm, und die Augen ſtunden ihm
voll Thränen, als er hinein ſah, er ſezte ſich nieder und las:

Stern der dämmernden Nacht, ſchön funkelſt du in Weſten.  Hebſt dein
ſtrahlend Haupt aus deiner Wolke.  Wandelſt ſtattlich deinen Hügel hin.
Wornach blikſt du auf die Haide?  Die ſtürmende Winde haben ſich gelegt.
Von ferne kommt des Gießbachs Murmeln.  Rauſchende Wellen ſpielen am
Felſen ferne.  Das Geſumme der Abendfliegen ſchwärmet über's Feld.
Wornach ſiehſt du, ſchönes Licht?  Aber du lächelſt und gehſt, freudig
umgeben dich die Wellen und baden dein liebliches Haar.  Lebe wohl
ruhiger Strahl.  Erſcheine, du herrliches Licht von Oſſians Seele.


Und es erſcheint in ſeiner Kraft.  Ich ſehe meine geſchiedene Freunde,
ſie ſammeln ſich auf Lora, wie in den Tagen, die vorüber ſind.  – Fingal
kommt wie eine feuchte Nebelſäule; um ihn ſind ſeine Helden.  Und ſieh
die Barden des Geſangs!  grauer Ullin!  ſtatlicher Ryno!  Alpin
lieblicher Sänger!  Und du ſanft klagende Minona!  – Wie verändert ſeyd
ihr meine Freunde ſeit den feſtlichen Tagen auf Selma!  da wir buhlten
um die Ehre des Geſangs, wie Frühlingſlüfte den Hügel hin wechſelnd
beugen das ſchwach liſpelnde Gras.

Da trat Minona hervor in ihrer Schönheit, mit niedergeſchlagenem Blik
und thränenvollem Auge.  Ihr Haar floß ſchwer im unſteten Winde, der von
dem Hügel herſties.  – Düſter wards in der Seele der Helden als ſie die
liebliche Stimme erhub; denn oft hatten ſie das Grab Salgars geſehen,
oft die finſtere Wohnung der weiſſen Colma.  Colma verlaſſen auf dem
Hügel, mit all der harmoniſchen Stimme.  Salgar verſprach zu kommen;
aber ringſum zog ſich die Nacht.  Höret Colmas Stimme, da ſie auf dem
Hügel allein ſaß.

C o l m a.

Es iſt Nacht; – ich bin allein, verlohren auf dem ſtürmiſchen Hügel.
Der Wind ſauſt im Gebürg, der Strohm heult den Felſen hinab.  Keine
Hütte ſchüzt mich vor dem Regen, verlaſſen auf dem ſtürmiſchen Hügel.

Tritt, o Mond, aus deinen Wolken; erſcheinet Sterne der Nacht!  Leite
mich irgend ein Strahl zu dem Orte wo meine Liebe ruht von den
Beſchwerden der Jagd, ſein Bogen neben ihm abgeſpannt, ſeine Hunde
ſchnobend um ihn!  Aber hier muß ich ſizzen allein auf dem Felſen des
verwachſenen Strohms.  Der Strohm und der Sturm ſauſt, ich höre nicht
die Stimme meines Geliebten.

Warum zaudert mein Salgar?  Hat er ſein Wort vergeſſen?  – Da iſt der
Fels und der Baum und hier der rauſchende Strohm.  Mit der Nacht
verſprachſt du hier zu ſeyn.  Ach!  wohin hat ſich mein Salgar verirrt?
Mit dir wollt ich fliehen, verlaſſen Vater und Bruder!  die Stolzen!
Lange ſind unſere Geſchlechter Feinde, aber wir ſind keine Feinde, o
Salgar.

Schweig eine Weile o Wind, ſtill eine kleine Weile o Strohm, daß meine
Stimme klinge durch's Thal, daß mein Wandrer mich höre.  Salgar!  Ich
bin's, die ruft.  Hier iſt der Baum und der Fels.  Salgar, mein Lieber,
hier bin ich.  Warum zauderſt du zu kommen?

Sieh, der Mond erſcheint.  Die Fluth glänzt im Thale.  Die Felſen ſtehn
grau den Hügel hinauf.  Aber ich ſeh ihn nicht auf der Höhe.  Seine
Hunde vor ihm her verkündigen nicht ſeine Ankunft.  Hier muß ich ſizzen
allein.

Aber wer ſind, die dort unten liegen auf der Haide – Mein Geliebter?
Mein Bruder?  – Redet o meine Freunde!  Sie antworten nicht.  Wie
geängſtet iſt meine Seele – Ach, ſie ſind todt!  – Ihre Schwerdte roth
vom Gefecht.  O mein Bruder, mein Bruder, warum haſt du meinen Salgar
erſchlagen?  O mein Salgar, warum haſt du meinen Bruder erſchlagen?  –
Ihr wart mir beyde ſo lieb!  O du warſt ſchön an dem Hügel unter
Tauſenden; er war ſchröklich in der Schlacht.  Antwortet mir!  Hört
meine Stimme, meine Geliebten.  Aber ach ſie ſind ſtumm.  Stumm vor
ewig.  Kalt wie die Erde iſt ihr Buſen.

O von dem Felſen des Hügels, von dem Gipfel des ſtürmenden Berges, redet
Geiſter der Todten!  Redet!  mir ſoll es nicht grauſen!  – Wohin ſeyd
ihr zur Ruhe gegangen?  In welcher Gruft des Gebürges ſoll ich euch
finden!  – Keine ſchwache Stimme vernehm ich im Wind, keine wehende
Antwort im Sturme des Hügels.

Ich ſizze in meinem Jammer, ich harre auf den Morgen in meinen Thränen.
Wühlet das Grab, ihr Freunde der Todten, aber ſchließt es nicht, bis ich
komme.  Mein Leben ſchwindet wie ein Traum, wie ſollt ich zurük bleiben.
Hier will ich wohnen mit meinen Freunden, an dem Strohme des klingenden
Felſen – Wenns Nacht wird auf dem Hügel, und der Wind kommt über die
Haide, ſoll mein Geiſt im Winde ſtehn und trauren den Tod meiner
Freunde.  Der Jäger hört mich aus ſeiner Laube, fürchtet meine Stimme
und liebt ſie, denn ſüß ſoll meine Stimme ſeyn um meine Freunde, ſie
waren mir beyde ſo lieb.

Das war dein Geſang, o Minona, Tormans ſanft erröthende Tochter.  Unſere
Thränen floſſen um Colma, und unſere Seele ward düſter – Ullin trat auf
mit der Harfe und gab uns Alpins Geſang – Alpins Stimme war freundlich,
Rynos Seele ein Feuerſtrahl.  Aber ſchon ruhten ſie im engen Hauſe, und
ihre Stimme war verhallet in Selma – Einſt kehrt Ullin von der Jagd
zurük, eh noch die Helden fielen, er hörte ihren Wettegeſang auf dem
Hügel, ihr Lied war ſanft, aber traurig, ſie klagten Morars Fall, des
erſten der Helden.  Seine Seele war wie Fingals Seele; ſein Schwerdt wie
das Schwerdt Oſkars – Aber er fiel und ſein Vater jammerte und ſeiner
Schweſter Augen waren voll Thränen – Minonas Augen waren voll Thränen,
der Schweſter des herrlichen Morars.  Sie trat zurük vor Ullins Geſang,
wie der Mond in Weſten, der den Sturmregen vorauſſieht und ſein ſchönes
Haupt in eine Wolke verbirgt.  – Ich ſchlug die Harfe mit Ullin zum
Geſange des Jammers.

R y n o.

Vorbey ſind Wind und Regen, der Mittag iſt ſo heiter, die Wolken theilen
ſich.  Fliehend beſcheint den Hügel die unbeſtändge Sonne.  So röthlich
fließt der Strohm des Bergs im Thale hin.  Süß iſt dein Murmeln Strohm,
doch ſüſſer die Stimme, die ich höre.  Es iſt Alpin's Stimme, er
bejammert den Todten.  Sein Haupt iſt vor Alter gebeugt, und roth ſein
thränendes Auge.  Alpin treflicher Sänger, warum allein auf dem
ſchweigenden Hügel, warum jammerſt du wie ein Windſtos im Wald, wie eine
Welle am fernen Geſtade.

A l p i n.

Meine Thränen Ryno, ſind für den Todten, meine Stimme für die Bewohner
des Grabs.  Schlank biſt du auf dem Hügel, ſchön unter den Söhnen der
Haide.  Aber du wirſt fallen wie Morar, und wird der traurende ſizzen
auf deinem Grabe.  Die Hügel werden dich vergeſſen, dein Bogen in der
Halle liegen ungeſpannt.

Du warſt ſchnell o Morar, wie ein Reh auf dem Hügel, ſchreklich wie die
Nachtfeuer am Himmel, dein Grimm war ein Sturm.  Dein Schwerdt in der
Schlacht wie Wetterleuchten über der Haide.  Deine Stimme glich dem
Waldſtrohme nach dem Regen, dem Donner auf fernen Hügeln.  Manche fielen
von deinem Arm, die Flamme deines Grimms verzehrte ſie.  Aber wenn du
kehrteſt vom Kriege, wie friedlich war deine Stimme!  Dein Angeſicht war
gleich der Sonne nach dem Gewitter, gleich dem Monde in der ſchweigenden
Nacht.  Ruhig deine Bruſt wie der See, wenn ſich das Brauſen des Windes
gelegt hat.

Eng iſt nun deine Wohnung, finſter deine Stäte.  Mit drey Schritten meß
ich dein Grab, o du, der du ehe ſo gros warſt!  Vier Steine mit moſigen
Häuptern ſind dein einzig Gedächtniß.  Ein entblätterter Baum, lang
Gras, das wiſpelt im Winde, deutet dem Auge des Jägers das Grab des
mächtigen Morars.  Keine Mutter haſt du, dich zu beweinen, kein Mädgen
mit Thränen der Liebe.  Todt iſt, die dich gebahr.  Gefallen die Tochter
von Morglan.

Wer auf ſeinem Stabe iſt das?  Wer iſt's, deſſen Haupt weis iſt vor
Alter, deſſen Augen roth ſind von Thränen?  – Es iſt dein Vater, o
Morar!  Der Vater keines Sohns auſſer dir!  Er hörte von deinem Rufe in
der Schlacht; er hörte von zerſtobenen Feinden.  Er hörte Morars Ruhm!
Ach nichts von ſeiner Wunde?  Weine, Vater Morars!  Weine!  aber dein
Sohn hört dich nicht.  Tief iſt der Schlaf der Todten, niedrig ihr
Küſſen von Staub.  Nimmer achtet er auf die Stimme, nie erwacht er auf
deinen Ruf.  O wann wird es Morgen im Grabe?  zu bieten dem Schlummerer:
Erwache!

Lebe wohl, edelſter der Menſchen, du Eroberer im Felde!  Aber nimmer
wird dich das Feld ſehn, nimmer der düſtere Wald leuchten vom Glanze
deines Stahls.  Du hinterlieſeſt keinen Sohn, aber der Geſang ſoll
deinen Nahmen erhalten.  Künftige Zeiten ſollen von dir hören, hören
ſollen ſie von dem gefallenen Morar.

Laut ward die Trauer der Helden, am lautſten Armins berſtender Seufzer.
Ihn erinnert's an den Todt ſeines Sohns, der fiel in den Tagen ſeiner
Jugend.  Carmor ſas nah bey dem Helden, der Fürſt des hallenden Galmal.
Warum ſchluchſet der Seufzer Armins?  ſprach er, was iſt hier zu weinen?
Klingt nicht Lied und Geſang, die Seele zu ſchmelzen und zu ergözzen.
Sind wie ſanfter Nebel der ſteigend vom See auf's Thal ſprüht, und die
blühenden Blumen füllet das Naß; aber die Sonne kommt wieder in ihrer
Kraft, und der Nebel iſt gangen.  Warum biſt du ſo jammervoll, Armin,
Herr des ſeeumfloſſenen Gorma?

Jammervoll!  Wohl, das bin ich, und nicht gering die Urſach meines Wehs.
– Carmor, du verlohrſt keinen Sohn; verlohrſt keine blühende Tochter!
Colgar der Tapfere lebt; und Amira, die ſchönſte der Mädgen.  Die Zweige
deines Hauſes blühen, o Carmor, aber Armin iſt der lezte ſeines Stamms.
Finſter iſt dein Bett, o Daura!  Dumpf iſt dein Schlaf in dem Grabe –
Wann erwachſt du mit deinen Geſängen, mit deiner melodiſchen Stimme?
Auf!  ihr Winde des Herbſt, auf!  Stürmt über die finſtre Haide!
Waldſtröhme brauſt!  Heult Stürme in dem Gipfel der Eichen!  Wandle
durch gebrochene Wolken, o Mond, zeige wechſelnd dein bleiches Geſicht!
Erinnere mich der ſchröklichen Nacht, da meine Kinder umkamen, Arindal
der mächtige fiel, Daura, die liebe, vergieng.

Daura, meine Tochter, du warſt ſchön!  ſchön wie der Mond auf den Hügeln
von Fura, weiß wie der gefallene Schnee, ſüß wie die athmende Luft.
Arindal, dein Bogen war ſtark, dein Speer ſchnell auf dem Felde, dein
Blik wie Nebel auf der Welle, dein Schild eine Feuerwolke im Sturme.
Armar berühmt im Krieg, kam und warb um Dauras Liebe, ſie widerſtund
nicht lange, ſchön waren die Hoffnungen ihrer Freunde.


Erath, der Sohn Odgals, grollte, denn ſein Bruder lag erſchlagen von
Armar.  Er kam in einen Schiffer verkleidet, ſchön war ſein Nachen auf
der Welle; weiß ſeine Lokken vor Alter, ruhig ſein ernſtes Geſicht.
Schönſte der Mädgen, ſagt er, liebliche Tochter von Armin!  Dort am
Fels, nicht fern in der See, wo die rothe Frucht vom Baume herblinkt,
dort wartet Armar auf Daura.  Ich komme, ſeine Liebe zu führen über die
rollende See

Sie folgt ihm, und rief nach Armar.  Nichts antwortete als die Stimme
des Felſens.  Armar mein Lieber, mein Lieber, warum ängſteſt du mich ſo?
Höre, Sohn Arnarts, höre.  Daura iſt's, die dich ruft!

Erath, der Verräter, floh lachend zum Lande.  Sie erhub ihre Stimme,
rief nach ihrem Vater und Bruder.  Arindal!  Armin!  Iſt keiner, ſeine
Daura zu retten?

Ihre Stimme kam über die See.  Arindal mein Sohn, ſtieg vom Hügel herab
rauh in der Beute der Jagd.  Seine Pfeile raſſelten an ſeiner Seite.
Seinen Bogen trug er in der Hand.  Fünf ſchwarzgraue Dokken waren um
ihn.  Er ſah den kühnen Erath am Ufer, faßt und band ihn an die Eiche.
Feſt umflocht er ſeine Hüften, er füllt mit Aechzen die Winde.

Arindal betritt die Welle in ſeinem Boote, Daura herüber zu bringen.
Armar kam in ſeinem Grimm, drükt ab den grau befiederten Pfeil, er
klang, er ſank in dein Herz, o Arindal, mein Sohn!  Statt Erath, des
Verräthers, kamſt du um, das Boot erreicht den Felſen, er ſank dran
nieder und ſtarb.  Welch war dein Jammer, o Daura, da zu deinen Füſſen
floß deines Bruders Blut.

Die Wellen zerſchmettern das Boot.  Armar ſtürzt ſich in die See, ſeine
Daura zu retten oder zu ſterben.  Schnell ſtürmt ein Stos vom Hügel in
die Wellen, er ſank und hub ſich nicht wieder.

Allein auf dem ſeebeſpülten Felſen hört ich die Klage meiner Tochter.
Viel und laut war ihr Schreyen; doch konnt ſie ihr Vater nicht retten.
Die ganze Nacht ſtund ich am Ufer, ich ſah ſie im ſchwachen Strahle des
Monds, die ganze Nacht hört ich ihr Schreyn.  Laut war der Wind, und der
Regen ſchlug ſcharf nach der Seite des Bergs.  Ihre Stimme ward ſchwach,
eh der Morgen erſchien, ſie ſtarb weg wie die Abendluft zwiſchen dem
Graſe der Felſen.  Beladen mit Jammer ſtarb ſie und ließ Armin allein!
dahin iſt meine Stärke im Krieg, gefallen mein Stolz unter den Mädgen.

Wenn die Stürme des Berges kommen, wenn der Nord die Wellen hochhebt,
ſiz ich am ſchallenden Ufer, ſchaue nach dem ſchröklichen Felſen.  Oft
im ſinkenden Mond ſeh ich die Geiſter meiner Kindheit, halb dämmernd
wandeln ſie zuſammen in trauriger Eintracht

Ein Strohm von Thränen, der aus Lottens Augen brach und ihrem gepreßten
Herzen Luft machte, hemmte Werthers Geſang, er warf das Papier hin, und
faßte ihre Hand und weinte die bitterſten Thränen.  Lotte ruhte auf der
andern und verbarg ihre Augen in's Schnupftuch, die Bewegung beyder war
fürchterlich.  Sie fühlten ihr eigenes Elend in dem Schikſal der Edlen,
fühlten es zuſammen, und ihre Thränen vereinigten ſie.  Die Lippen und
Augen Werthers glühten an Lottens Arme, ein Schauer überfiel ſie, ſie
wollte ſich entfernen, und es lag all der Schmerz, der Antheil betäubend
wie Bley auf ihr.  Sie athmete ſich zu erholen, und bat ihn ſchluchſend,
fortzufahren, bat mit der ganzen Stimme des Himmels, Werther zitterte,
ſein Herz wollte berſten, er hub das Blatt auf und las halb gebrochen:

Warum wekſt du mich, Frühlingſluft, du buhlſt und ſprichſt: ich bethaue
mit Tropfen des Himmels.  Aber die Zeit meines Welkens iſt nah, nah der
Sturm, der meine Blätter herabſtört!  Morgen wird der Wandrer kommen,
kommen der mich ſah in meiner Schönheit, rings wird ſein Aug im Felde
mich ſuchen, und wird mich nicht finden.  –

Die ganze Gewalt dieſer Worte fiel über den Unglüklichen, er warf ſich
vor Lotten nieder in der vollen Verzweiflung, faßte ihre Hände, drukte
ſie in ſeine Augen, wider ſeine Stirn, und ihr ſchien eine Ahndung
ſeines ſchröklichen Vorhabens durch die Seele zu fliegen.  Ihre Sinnen
verwirrten ſich, ſie drukte ſeine Hände, drukte ſie wider ihre Bruſt,
neigte ſich mit einer wehmüthigen Bewegung zu ihm, und ihre glühenden
Wangen berührten ſich.  Die Welt vergieng ihnen, er ſchlang ſeine Arme
um ſie her, preßte ſie an ſeine Bruſt und dekte ihre zitternde,
ſtammelnde Lippen mit wüthenden Küſſen.  Werther!  rief ſie mit
erſtikter Stimme, ſich abwendend, Werther!  und drükte mit ſchwacher
Hand ſeine Bruſt von der ihrigen!  Werther!  rief ſie mit dem gefaßten
Tone des edelſten Gefühls; er widerſtund nicht, lies ſie aus ſeinen
Armen und warf ſich unſinnig vor ſie hin.  Sie riß ſich auf, und in
ängſtlicher Verwirrung, bebend zwiſchen Liebe und Zorn, ſagte ſie: Das
iſt das leztemal!  Werther!  Sie ſehn mich nicht wieder.  Und mit dem
vollſten Blik der Liebe auf den Elenden eilte ſie in's Nebenzimmer und
ſchloß hinter ſich zu.  Werther ſtrekte ihr die Arme nach, getraute ſich
nicht ſie zu halten.  Er lag an der Erde, den Kopf auf dem Canapee, und
in dieſer Stellung blieb er über eine halbe Stunde, biß ihn ein Geräuſch
zu ſich ſelbſt rief.  Es war das Mädgen, das den Tiſch dekken wollte.
Er gieng im Zimmer auf und ab, und da er ſich wieder allein ſah, gieng
er zur Thüre des Cabinets, und rief mit leiſer Stimme, Lotte!  Lotte!
nur noch ein Wort, ein Lebe wohl!  Sie ſchwieg, er harrte – und bat –
und harrte, dann riß er ſich weg und rief: Leb wohl, Lotte!  auf ewig
leb wohl!


Er kam ans Stadtthor.  Die Wächter, die ihn ſchon gewohnt waren, ließen
ihn ſtillſchweigend hinaus, es ſtübte zwiſchen Regen und Schnee, und
erſt gegen eilfe klopfte er wieder.  Sein Diener bemerkte, als Werther
nach Hauſe kam, daß ſeinem Herrn der Huth fehlte.  Er getraute ſich
nichts zu ſagen, entkleidete ihn, alles war naß.  Man hat nachher den
Huth auf einem Felſen, der an dem Abhange des Hügels in's Thal ſieht
gefunden, und es iſt unbegreiflich, wie er ihn in einer finſtern
feuchten Nacht ohne zu ſtürzen erſtiegen hat.


Er legte ſich zu Bette und ſchlief lange.  Der Bediente fand ihn
ſchreiben, als er ihm den andern Morgen auf ſein Rufen den Caffee
brachte.  Er ſchrieb folgendes am Briefe an Lotten:

*

Zum leztenmale denn, zum leztenmale ſchlag ich dieſe Augen auf, ſie
ſollen ach die Sonne nicht mehr ſehen, ein trüber, neblichter Tag hält
ſie bedekt.  So traure denn, Natur, dein Sohn, dein Freund, dein
Geliebter naht ſich ſeinem Ende.  Lotte, das iſt ein Gefühl ohne
gleichen, und doch kommt's dem dämmernden Traume am nächſten, zu ſich zu
ſagen: das iſt der lezte Morgen.  Der lezte!  Lotte, ich habe keinen
Sinn vor das Wort: der lezte!  Steh ich nicht da in meiner ganzen Kraft,
und Morgen lieg ich auſgeſtrekt und ſchlaff am Boden.  Sterben!  Was
heiſt das?  Sieh wir träumen, wenn wir vom Tode reden.  Ich hab manchen
ſterben ſehen, aber ſo eingeſchränkt iſt die Menſchheit, daß ſie für
ihres Daſeyns Anfang und Ende keinen Sinn hat.  Jezt noch mein, dein!
dein!  o Geliebte, und einen Augenblik – getrennt, geſchieden –
vielleicht auf ewig.  – Nein, Lotte, nein – Wie kann ich vergehen, wie
kannſt du vergehen, wir ſind ja!  – Vergehen!  – Was heißt das?  das iſt
wieder ein Wort!  ein leerer Schall ohne Gefühl für mein Herz.  – –
Todt, Lotte!  Eingeſcharrt der kalten Erde, ſo eng, ſo finſter!  – Ich
hatte eine Freundin, die mein Alles war meiner hülfloſen Jugend, ſie
ſtarb und ich folgte ihrer Leiche, und ſtand an dem Grabe.  Wie ſie den
Sarg hinunter ließen und die Seile ſchnurrend unter ihm weg und wieder
herauf ſchnellten, dann die erſte Schaufel hinunter ſchollerte und die
ängſtliche Lade einen dumpfen Ton wiedergab, und dumpfer und immer
dumpfer und endlich bedekt war!  – Ich ſtürzte neben das Grab hin –
Ergriffen erſchüttert geängſtet zerriſſen mein innerſtes, aber ich wuſte
nicht, wie mir geſchah – wie mir geſchehen wird – Sterben!  Grab!  Ich
verſtehe die Worte nicht!

O vergieb mir!  vergieb mir!  Geſtern!  Es hätte der lezte Augenblik
meines Lebens ſeyn ſollen.  O du Engel!  zum erſtenmale, zum erſtenmale
ganz ohne Zweifel durch mein innig innerſtes durchglühte mich das
Wonnegefühl: Sie liebt mich!  Sie liebt mich.  Es brennt noch auf meinen
Lippen das heilige Feuer, das von den deinigen ſtröhmte, neue warme
Wonne iſt in meinem Herzen.  Vergieb mir, vergieb mir.

Ach ich wuſte, daß du mich liebteſt, wuſte es an den erſten ſeelenvollen
Blikken, an dem erſten Händedruk, und doch, wenn ich wieder weg war,
wenn ich Alberten an Deiner Seite ſah, verzagt' ich wieder in
fieberhaften Zweifeln.

Erinnerſt du Dich der Blumen, die du mir ſchikteſt, als du in jener
fatalen Geſellſchaft mir kein Wort ſagen, keine Hand reichen konnteſt, o
ich habe die halbe Nacht davor gekniet, und ſie verſiegelten mir deine
Liebe.  Aber ach!  dieſe Eindrükke giengen vorüber, wie das Gefühl der
Gnade ſeines Gottes allmählich wieder aus der Seele des Gläubigen
weicht, die ihm mit ganzer Himmelſfülle im heiligen ſichtbaren Zeichen
gereicht ward.

Alles das iſt vergänglich, keine Ewigkeit ſoll das glühende Leben
auſlöſchen, das ich geſtern auf deinen Lippen genoß, das ich in mir
fühle.  Sie liebt mich!  Dieſer Arm hat ſie umfaſt, dieſe Lippen auf
ihren Lippen gezittert, dieſer Mund am ihrigen geſtammelt.  Sie iſt
mein!  du biſt mein!  ja Lotte auf ewig!

Und was iſt das?  daß Albert dein Mann iſt!  Mann?  – das wäre denn für
dieſe Welt – und für dieſe Welt Sünde, daß ich dich liebe, das ich dich
aus ſeinen Armen in die meinigen reißen möchte?  Sünde?  Gut!  und ich
ſtrafe mich davor: ich hab ſie in ihrer ganzen Himmelſwonne geſchmekt
dieſe Sünde, habe Lebenſbalſam und Kraft in mein Herz geſaugt, du biſt
von dem Augenblikke mein!  Mein, o Lotte.  Ich gehe voran!  Geh zu
meinem Vater, zu deinem Vater, dem will ich's klagen, und er wird mich
tröſten biß du kommſt, und ich fliege dir entgegen und faſſe dich und
bleibe bey dir vor dem Angeſichte des Unendlichen in ewigen Umarmungen.

Ich träume nicht, ich wähne nicht!  nah am Grabe ward mir's heller.  Wir
werden ſeyn, wir werden uns wieder ſehn!  Deine Mutter ſehn!  ich werde
ſie ſehen, werde ſie finden, ach und vor ihr all mein Herz auſſchütten.
Deine Mutter.  Dein Ebenbild.

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Gegen eilfe fragte Werther ſeinen Bedienten, ob wohl Albert zurük
gekommen ſey.  Der Bediente ſagte: ja, er habe deſſen Pferd dahin führen
ſehn.  Drauf giebt ihm der Herr ein offenes Zettelgen des Inhalts:

*

Wollten Sie mir wohl zu einer vorhabenden Reiſe Ihre Piſtolen leihen?
Leben Sie recht wohl.

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Die liebe Frau hatte die lezte Nacht wenig geſchlafen, ihr Blut war in
einer fieberhaften Empörung, und tauſenderley Empfindungen zerrütteten
ihr Herz.  Wider ihren Willen fühlte ſie tief in ihrer Bruſt das Feuer
von Werthers Umarmungen, und zugleich ſtellten ſich ihr die Tage ihrer
unbefangenen Unſchuld, des ſorgloſen Zutrauens auf ſich ſelbſt in
doppelter Schöne dar, es ängſtigten ſie ſchon zum voraus die Blikke
ihres Manns, und ſeine halb verdrüßlich halb ſpöttiſche Fragen, wenn er
Werthers Beſuch erfahren würde; ſie hatte ſich nie verſtellt, ſie hatte
nie gelogen, und nun ſah ſie ſich zum erſtenmal in der unvermeidlichen
Nothwendigkeit; der Widerwillen, die Verlegenheit, die ſie dabey
empfand, machte die Schuld in ihren Augen gröſſer, und doch konnte ſie
den Urheber davon weder haſſen, noch ſich verſprechen, ihn nie
wiederzuſehn.  Sie weinte bis gegen Morgen, da ſie in einen matten
Schlaf verſank, aus dem ſie ſich kaum aufgerafft und angekleidet hatte,
als ihr Mann zurükkam, deſſen Gegenwart ihr zum erſtenmal ganz
unerträglich war; denn indem ſie zitterte, er würde das verweinte
überwachte ihrer Augen und ihrer Geſtalt entdekken, ward ſie noch
verwirrter, bewillkommte ihn mit einer heftigen Umarmung, die mehr
Beſtürzung und Reue, als eine auffahrende Freude auſdrükte, und eben
dadurch machte ſie die Aufmerkſamkeit Albertens rege, der, nachdem er
einige Briefe und Pakets erbrochen, ſie ganz trokken fragte, ob ſonſt
nichts vorgefallen, ob niemand da geweſen wäre?  Sie antwortete ihm
ſtokkend, Werther ſeye geſtern eine Stunde gekommen.  – Er nimmt ſeine
Zeit gut, verſezt er, und gieng nach ſeinem Zimmer.  Lotte war eine
Viertelſtunde allein geblieben.  Die Gegenwart des Mannes, den ſie
liebte und ehrte, hatte einen neuen Eindruk in ihr Herz gemacht.  Sie
erinnerte ſich all ſeiner Güte, ſeines Edelmuths, ſeiner Liebe, und
ſchalt ſich, daß ſie es ihm ſo übel gelohnt habe.  Ein unbekannter Zug
reizte ſie, ihm zu folgen, ſie nahm ihre Arbeit, wie ſie mehr gethan
hatte, gieng nach ſeinem Zimmer und fragte, ob er was bedürfte?  er
antwortete: nein!  ſtellte ſich an Pult, zu ſchreiben, und ſie ſezte
ſich nieder zu ſtrikken.  Eine Stunde waren ſie auf dieſe Weiſe neben
einander, und als Albert etlichemal in der Stube auf und ab ging, und
Lotte ihn anredete, er aber wenig oder nichts drauf gab und ſich wieder
ans Pult ſtellte, ſo verfiel ſie in eine Wehmuth, die ihr um deſto
ängſtlicher ward, als ſie ſolche zu verbergen und ihre Thränen zu
verſchlukken ſuchte.

Die Erſcheinung von Werthers Knaben verſezte ſie in die gröſte
Verlegenheit, er überreichte Alberten das Zettelgen, der ſich ganz kalt
nach ſeiner Frau wendete, und ſagte: gieb ihm die Piſtolen.  – Ich laß
ihm glükliche Reiſe wünſchen, ſagt er zum Jungen.  Das fiel auf ſie wie
ein Donnerſchlag.  Sie ſchwankte aufzuſtehn.  Sie wußte nicht wie ihr
geſchah.  Langſam ging ſie nach der Wand, zitternd nahm ſie ſie
herunter, puzte den Staub ab und zauderte, und hätte noch lang gezögert,
wenn nicht Albert durch einen fragenden Blik: was denn das geben ſollte?
ſie gedrängt hätte.  Sie gab das unglükliche Gewehr dem Knaben, ohne ein
Wort vorbringen zu können, und als der zum Hauſe draus war, machte ſie
ihre Arbeit zuſammen, ging in ihr Zimmer in dem Zuſtand des
unauſſprechlichſten Leidens.  Ihr Herz weiſſagte ihr alle Schrökniſſe.
Bald war ſie im Begriff, ſich zu den Füſſen ihres Mannes zu werfen, ihm
alles zu entdekken, die Geſchichte des geſtrigen Abends, ihre Schuld und
ihre Ahndungen.  Dann ſah ſie wieder keinen Auſgang des Unternehmens, am
wenigſten konnte ſie hoffen, ihren Mann zu einem Gange nach Werthern zu
bereden.  Der Tiſch ward gedekt, und eine gute Freundinn, die nur etwas
zu fragen kam und die Lotte nicht wegließ, machte die Unterhaltung bey
Tiſche erträglich, man zwang ſich, man redete, man erzählte, man vergaß
ſich.

Der Knabe kam mit den Piſtolen zu Werthern, der ſie ihm mit Entzükken
abnahm, als er hörte, Lotte habe ſie ihm gegeben.  Er ließ ſich ein Brod
und Wein bringen, hies den Knaben zu Tiſch gehn und ſezte ſich nieder zu
ſchreiben.

*

Sie ſind durch deine Hände gegangen, du haſt den Staub davon geputzt,
ich küſſe ſie tauſendmal, du haſt ſie berührt.  Und du Geiſt des Himmels
begünſtigſt meinen Entſchluß!  Und du Lotte reichſt mir das Werkzeug,
du, von deren Händen ich den Tod zu empfangen wünſchte, und ach nun
empfange.  O ich habe meinen Jungen auſgefragt, du zitterteſt, als du
ſie ihm reichteſt, du ſagteſt kein Lebe wohl; – Weh!  Weh!  – kein Lebe
wohl!  – Sollteſt du dein Herz für mich verſchloſſen haben, um des
Augenbliks willen der mich auf ewig an dich befeſtigte?  Lotte, kein
Jahrtauſend vermag den Eindruk auſzulöſchen!  Und ich fühl's, du kannſt
den nicht haſſen, der ſo für dich glüht.

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Nach Tiſche hieß er den Knaben alles vollends einpakken, zerriß viele
Papiere, ging aus, und brachte noch kleine Schulden in Ordnung.  Er kam
wieder nach Hauſe, ging wieder aus, vor's Thor ohngeachtet des Regens,
in den gräflichen Garten, ſchweifte weiter in der Gegend umher, und kam
mit einbrechender Nacht zurük und ſchrieb.

*

Wilhelm, ich habe zum leztenmale Feld und Wald und den Himmel geſehn.
Leb wohl auch du!  Liebe Mutter, verzeiht mir!  Tröſte ſie, Wilhelm.
Gott ſegne euch!  Meine Sachen ſind all in Ordnung.  Lebt wohl!  Wir
ſehen uns wieder und freudiger.

*

Ich habe dir übel gelohnt, Albert, und du vergiebſt mir.  Ich habe den
Frieden deines Hauſes geſtört, ich habe Mißtrauen zwiſchen euch
gebracht.  Leb wohl, ich will's enden.  O daß ihr glüklich wäret durch
meinen Tod!  Albert!  Albert!  mache den Engel glüklich.  Und ſo wohne
Gottes Seegen über Dir!

===
---

Er kramte den Abend noch viel in ſeinen Papieren, zerriß vieles und
warf's in Ofen, verſiegelte einige Päkke mit den Adreſſen an Wilhelmen.
Sie enthielten kleine Aufſäzze, abgeriſſene Gedanken, deren ich
verſchiedene geſehen habe; und nachdem er um zehn Uhr im Ofen nachlegen,
und ſich einen Schoppen Wein geben laſſen, ſchikte er den Bedienten,
deſſen Kammer wie auch die Schlafzimmer der Hauſleute weiter hinten
hinaus waren, zu Bette, der ſich denn in ſeinen Kleidern niederlegte, um
früh bey der Hand zu ſeyn, denn ſein Herr hatte geſagt, die Poſtpferde
würden vor ſechſe vor's Haus kommen.

*

nach eilfe.

Alles iſt ſo ſtill um mich her, und ſo ruhig meine Seele; ich danke dir
Gott, der du dieſen lezten Augenblikken dieſe Wärme, dieſe Kraft
ſchenkeſt.

Ich trete an's Fenſter, meine Beſte, und ſeh und ſehe noch durch die
ſtürmenden vorüberfliehenden Wolken einzelne Sterne des ewigen Himmels!
Nein, ihr werdet nicht fallen!  Der Ewige trägt euch an ſeinem Herzen,
und mich.  Ich ſah die Deichſelſterne des Wagens, des liebſten unter
allen Geſtirnen.  Wenn ich Nachts von dir ging, wie ich aus deinem Thore
trat, ſtand er gegen über!  Mit welcher Trunkenheit hab ich ihn oft
angeſehen!  Oft mit aufgehabenen Händen ihn zum Zeichen, zum heiligen
Merkſteine meiner gegenwärtigen Seligkeit gemacht, und noch – O Lotte,
was erinnert mich nicht an dich!  Umgiebſt du mich nicht, und hab ich
nicht gleich einem Kinde, ungenügſam allerley Kleinigkeiten zu mir
geriſſen, die du Heilige berührt hatteſt!

Liebes Schattenbild!  Ich vermache dir's zurük, Lotte, und bitte dich,
es zu ehren.  Tauſend, tauſend Küſſe hab ich drauf gedrükt, tauſend
Grüſſe ihm zugewinkt, wenn ich auſgieng, oder nach Hauſe kam.

Ich habe deinen Vater in einem Zettelgen gebeten, meine Leiche zu
ſchüzzen.  Auf dem Kirchhofe ſind zwey Lindenbäume, hinten im Ekke nach
dem Felde zu, dort wünſch ich zu ruhen.  Er kann, er wird das für ſeinen
Freund thun.  Bitt ihn auch.  Ich will frommen Chriſten nicht zumuthen,
ihren Körper neben einem armen Unglüklichen niederzulegen.  Ach ich
wollte, ihr begrübt mich am Wege, oder im einſamen Thale, daß Prieſter
und Levite vor dem bezeichnenden Steine ſich ſegnend vorüberging und der
Samariter eine Thräne weinte.

Hier Lotte!  Ich ſchaudere nicht den kalten ſchröklichen Kelch zu
faſſen, aus dem ich den Taumel des Todes trinken ſoll!  Du reichteſt mir
ihn, und ich zage nicht.  All!  All!  ſo ſind all die Wünſche und
Hoffnungen meines Lebens erfüllt!  So kalt, ſo ſtarr an der ehernen
Pforte des Todes anzuklopfen.

Daß ich des Glüks hätte theilhaftig werden können!  Für dich zu ſterben,
Lotte, für dich mich hinzugeben.  Ich wollte muthig, ich wollte freudig
ſterben, wenn ich dir die Ruhe, die Wonne deines Lebens wieder ſchaffen
könnte; aber ach das ward nur wenig Edlen gegeben, ihr Blut für die
Ihrigen zu vergieſſen, und durch ihren Tod ein neues hundertfältiges
Leben ihren Freunden anzufachen.

In dieſen Kleidern, Lotte, will ich begraben ſeyn.  Du haſt ſie berührt,
geheiligt.  Ich habe auch darum deinen Vater gebeten.  Meine Seele
ſchwebt über dem Sarge.  Man ſoll meine Taſchen nicht auſſuchen.  Dieſe
blaßrothe Schleife, die du am Buſen hatteſt, als ich dich zum erſtenmale
unter deinen Kindern fand.  O küſſe ſie tauſendmal und erzähl ihnen das
Schikſal ihres unglüklichen Freunds.  Die Lieben, ſie wimmeln um mich.
Ach wie ich mich an dich ſchloß!  Seit dem erſten Augenblikke dich nicht
laſſen konnte!  Dieſe Schleife ſoll mit mir begraben werden.  An meinem
Geburtſtage ſchenkteſt du mir ſie!  Wie ich das all verſchlang – Ach ich
dachte nicht, daß mich der Weg hierher führen ſollte!  – – Sey ruhig!
ich bitte dich, ſey ruhig!  –

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leb wohl!  Leb wohl!

===
---

Ein Nachbar ſah den Blik vom Pulver und hörte den Schuß fallen, da aber
alles ſtill blieb achtete er nicht weiter drauf.

Morgens um ſechſe tritt der Bediente herein mit dem Lichte, er findet
ſeinen Herrn an der Erde, die Piſtole und Blut.  Er ruft, er faßt ihn
an, keine Antwort, er röchelt nur noch.  Er lauft nach den Aerzten, nach
Alberten.  Lotte hörte die Schelle ziehen, ein Zittern ergreift all ihre
Glieder, ſie wekt ihren Mann, ſie ſtehen auf, der Bediente bringt
heulend und ſtotternd die Nachricht, Lotte ſinkt ohnmächtig vor Alberten
nieder.

Als der Medikus zu dem Unglüklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne
Rettung, der Puls ſchlug, die Glieder waren alle gelähmt, über dem
rechten Auge hatte er ſich durch den Kopf geſchoſſen, das Gehirn war
herauſgetrieben.  Man ließ ihm zum Ueberfluſſe eine Ader am Arme, das
Blut lief, er holte noch immer Athem.

Aus dem Blut auf der Lehne des Seſſels konnte man ſchließen, er habe
ſizzend vor dem Schreibtiſche die That vollbracht.  Dann iſt er herunter
geſunken, hat ſich konvulſiviſch um den Stuhl herum gewälzt, er lag
gegen das Fenſter entkräftet auf dem Rükken, war in völliger Kleidung,
geſtiefelt, im blauen Frak mit gelber Weſte.

Das Haus, die Nachbarſchaft, die Stadt kam in Aufruhr.  Albert trat
herein.  Werthern hatte man auf's Bett gelegt, die Stirne verbunden,
ſein Geſicht ſchon wie eines Todten, er rührte kein Glied, die Lunge
röchelte noch fürchterlich, bald ſchwach, bald ſtärker, man erwartete
ſein Ende.

Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken.  Emilia Galotti lag auf
dem Pulte aufgeſchlagen.

Von Alberts Beſtürzung, von Lottens Jammer laßt mich nichts ſagen.

Der alte Amtmann kam auf die Nachricht hereingeſprengt, er küßte den
Sterbenden unter den heißeſten Thränen.  Seine ältſten Söhne kamen bald
nach ihm zu Fuſſe, ſie fielen neben dem Bette nieder im Auſdruk des
unbändigſten Schmerzens, küßten ihm die Hände und den Mund, und der
ältſte, den er immer am meiſten geliebt, hieng an ſeinen Lippen bis er
verſchieden war und man den Knaben mit Gewalt wegriß.  Um zwölfe Mittags
ſtarb er.  Die Gegenwart des Amtmanns und ſeine Anſtalten tiſchten einen
Auflauf.  Nachts gegen eilfe ließ er ihn an die Stätte begraben, die er
ſich erwählt hatte, der Alte folgte der Leiche und die Söhne.  Albert
vermochts nicht.  Man fürchtete für Lottens Leben.  Handwerker trugen
ihn.  Kein Geiſtlicher hat ihn begleitet.